I. Fall. — Tendenz, durch Klugheit, List und Courage den Mangel der Männlichkeit zu ersetzen
Eine 24jährige Patientin, die an Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und überaus heftigen Wutausbrüchen, vorwiegend gegen die Mutter gerichtet, litt, erzählt folgende Erlebnisse: Sie ging eines Abends nach Hause, als ihr eine Szene ins Auge fiel: Ein Mann beschimpfte eine Prostituierte, weil sie ihn angesprochen hatte. Andere Männer versuchten begütigend auf ihn einzuwirken. Da fühlte Patientin ein unwiderstehliches Begehren sich einzumengen und dem Aufgeregten das Törichte seines Tuns auseinanderzusetzen. Die Analyse ergab: sie wollte wie ein Mann handeln, sich über ihre weibliche Rolle, die ihr Zurückhaltung gebot, hinwegsetzen, sich wie seinesgleichen, nur besser orientiert, benehmen.
Am selben Tag begab es sich, daß sie einer Prüfung als Zuhörerin beiwohnte. Der Prüfende, ein gebildeter, witziger, aber im männlichen Protest handelnder Herr, machte sich über die Kandidatinnen weidlich lustig, ließ auch des öfteren Bemerkungen von »Gänsen« fallen. Unsere Patientin stand wütend auf, verließ den Prüfungssaal, und war den Rest des Tages von Gedanken eingenommen, wie sie bei der Prüfung den Herrn Professor belehren wollte. Die Nacht verging schlaflos. Erst gegen Morgen schlief sie ein. Da träumte sie folgenden Traum:
»Ich war über und über in Schleier gehüllt. Da kam ein alter Mann und schalt dies als unnütz, man könne ja doch durch die Schleier durchsehen.«
Der alte Mann trägt die Züge eines bekannten Pathologen Deutschlands und ist, wie die Patientin hervorhebt, eine ständige Traumfigur. Nebenbei fallen ihr einige Personen ein, vor allem jener strenge, aber witzige Prüfer. Als gemeinsames Band aller dieser hebt sie überragende Klugheit hervor. Der Ausdruck: »man könne ja doch durch die Schleier durchsehen« stammt aus der Kur. —
»Über und über in Schleier gehüllt.« — Sie denkt an den scheinbaren Gegensatz, an die Venus von Milo. Tags vorher hat sie von ihr gesprochen und sie als Kunstwerk gepriesen. Weitere Gedanken knüpften an die verdeckende Attitüde der mediceischen Göttin und an den Mangel von Gliedmaßen der Venus von Milo an, wie leicht vorauszusehen war.
Ein dritter Gedankengang zog die Worte des Alten in Zweifel. Ob man nicht doch durch eine Anzahl von Schleiern — etwa wie bei Tänzerinnen — eine Blöße verhüllen könnte? —
Ich brauche nicht auseinanderzusetzen, daß die Tendenz der Träumerin dahin ging, ihr Geschlecht zu verhüllen. Die Haltung der Hand bei der mediceischen Venus, der Mangel an Gliedmaßen bei der Venus von Milo sprechen deutlich genug den schon lange vorher aufgedeckten Wunsch meiner Patientin aus: Ich bin ein Weib und will ein Mann sein.
Die beiden Tageserlebnisse, die Schlaflosigkeit, der Wunsch, sich in der Straßenszene wie ein Mann zu benehmen, den strengen Professor unterzukriegen und mich durch Verschleierung zu düpieren, stellen ein Teil des Kontinuums dar, dessen Inhalt die Neurose dieses Mädchens bildet. Leise klingt im Traum der Zweifel an, ob die Verwandlung gelingen wird. Reduziert man diesen Zweifel auf die kindliche pathogene Situation, so muß er dort einer primitiven Unsicherheit entsprechen, der Unsicherheit bezüglich der künftigen Geschlechtsrolle im Prototype. An eine solche Phase knüpft späterhin die neurotische Charakterologie an, die sich zusammensetzt aus männlich scheinenden Zügen und Sicherungstendenzen, letztere aufgebaut gegen die Gefahr, ins Weibliche zu geraten, nach unten zu kommen, wie besonders bei ehrgeizigen Mädchen mit allen Folgen (wie Frigidität) beobachtet werden kann.