Traum und Traumdeutung


(1913)

 

Die von uns geübte Traumdeutung hat den Zweck, dem Kranken seine Vorbereitungen und sein nächtliches Training zu zeigen, die ihn meist als Arrangeur seines Leidens entlarven, ihm zu demonstrieren, wie er, angelehnt an Gleichnisse und tendenziös ausgewählte Episoden, vorliegende Probleme von jener Seite zu erfassen sucht, die ihm die Auswirkung seines individuellen, schon vorher durch sein fiktives Ziel bestimmten Strebens gestattet. Dabei beobachten wir stets eine Korrumpierung der Logik, des common sense, bei der zuweilen sogar Argumente aus der Luft gegriffen werden.

Wir finden uns einem uralten Problem gegenüber, das bis an die Völkerwiege zurückzuverfolgen ist. Narren und Weise haben sich daran versucht, Könige und Bettler wollten die Grenzen ihres Welterkennens durch Traumdeutung erweitern. Wie entsteht ein Traum? Was ist seine Leistung? Wie kann man seine Hieroglyphen lesen? Was ist seine Absicht? Sein Zweck?

Ägypter, Chaldäer, Juden, Griechen, Römer und Germanen lauschten der Runensprache des Traumes, in ihren Mythen und Dichtwerken sind vielfach die Spuren angestrengten Suchens nach einem Verständnis des Traumes, nach einer Deutung eingegraben. Immer wieder wie eine bannende Gewalt scheint es auf allen Gehirnen zu liegen: Der Traum kann die Zukunft enthüllen! Die berühmten Traumdeutungen der Bibel, des Talmud, Herodots, Artemidorus, Ciceros, des Nibelungenliedes drücken mit unzweifelhafter Sicherheit die Überzeugung aus: Der Traum ist ein Blick in die Zukunft! Und alles Sinnen geht den Weg, wie man es wohl anfinge, den Traum richtig zu deuten, um Zukünftiges zu erspähen. Selbst bis auf den heutigen Tag wird der Gedanke, Unwißbares erfahren zu wollen, regelmäßig mit dem Nachdenken über einen Traum in Verbindung gebracht. Daß unsere rationalistisch denkende Zeit äußerlich ein solches Streben verwarf, die Zukunft entschleiern zu wollen, es verlachte, ist nur zu begreiflich, machte es auch aus, daß die Beschäftigung mit den Fragen des Traumes den Forscher leicht mit dem Fluch der Lächerlichkeit behaften konnte.

Nun soll vor allem, um den Kampfplatz abzustecken, hervorgehoben werden, daß der Autor keineswegs auf dem Standpunkt steht, der Traum sei eine prophetische Eingebung und könne die Zukunft oder sonst Unwißbares erschließen. Vielmehr lehrt ihn seine umfängliche Beschäftigung mit Träumen nur das eine, daß der Traum, wie jede andere Erscheinung des Seelenlebens, mit den gegebenen Kräften des Individuums zustande gebracht wird. Aber im gleichen Augenblick taucht da eine Frage auf, die uns darüber belehrt, daß die Perspektive auf die Möglichkeit prophetischer Träume gar nicht einfach zu stellen war, daß sie viel mehr verwirrend als klärend zu wirken imstande ist. Und diese Frage lautet in ihrer ganzen Schwierigkeit: Ist es denn für den menschlichen Geist wirklich ausgeschlossen, in einer bestimmten Begrenztheit in die Zukunft zu blicken, wenn er selbst bei der Gestaltung dieser Zukunft die Hand im Spiele hat? Spielt nicht das Erraten im menschlichen Leben, das man auch hochtrabend »Intuition« nennen mag, eine viel wichtigere Rolle, als un-belehrte Kritiker annehmen?

Unbefangene Beobachtung gibt uns da sonderbare Lehren. Stellt man diese Frage unverblümt, so wird der Mensch sie in der Regel verneinen. Aber kümmern wir uns einmal nicht um Worte und Gedanken, die sich sprachlich äußern. Fragen wir die anderen körperlichen Ausdrucksformen, rufen wir die Bewegungen, die Haltung, die Handlungen an, dann erhalten wir einen ganz anderen Eindruck. Obwohl wir es ablehnen, in die Zukunft blicken zu können, ist unsere ganze Lebensführung derart, daß sie uns verrät, wie wir mit Sicherheit zukünftige Tatsachen vorauswissen, erraten wollen. Unser Handeln weist deutlich darauf hin, daß wir — right or wrong — unser Wissen von der Zukunft festhalten. Noch mehr! Es läßt sich leicht beweisen, daß wir nicht einmal handeln könnten, wenn nicht die zukünftige Gestaltung der Dinge — von uns gewollt oder gefürchtet — in uns die Richtung und den Ansporn, die Ausweichung und das Hindernis gäbe. Wir handeln ununterbrochen so, als ob wir die Zukunft sicher voraus wüßten, obwohl wir verstehen, daß wir nichts wissen können.

Gehen wir von den Kleinigkeiten des Lebens aus. Wenn ich mir etwas anschaffe, habe ich das Vorgefühl, den Vorgeschmack, die Vorfreude. Oft ist es nur dieser feste Glaube an eine voraus empfundene Situation mit ihren Annehmlichkeiten oder Leiden, der mich handeln oder stocken läßt. Daß ich mich irren kann, darf mich nicht behindern. Oder ich lasse mich abhalten, um im erwachenden Zweifel 1) zwei mögliche künftige Situationen voraus zu erwägen, ohne zur Entscheidung zu kommen. Wenn ich heute zu Bett gehe, weiß ich nicht, daß es morgen Tag sein wird, wenn ich erwache — aber ich richte mich danach.

Weiß ich es denn wirklich? So etwa, wie ich weiß, daß ich jetzt vor Ihnen stehe und rede? Nein, es ist ein ganz anderes Wissen. In meinem bewußten Denken ist es nicht zu finden, aber in meiner körperlichen Haltung, in meinen Anordnungen sind seine Spuren deutlich eingegraben. Der russische Forscher Pawlow konnte zeigen, daß Tiere, wenn sie eine bestimmte Speise erwarten, im Magen beispielsweise die entsprechenden, zur Verdauung nötigen Stoffe ausscheiden, als ob der Magen voraus wüßte, es erriete, welche Speise er empfangen wird. Das heißt aber, daß unser Körper in gleicher Weise mit einer Kenntnis der Zukunft rechnen muß, wenn er genügen, handeln will, daß er Vorbereitungen trifft, als ob er die Zukunft vorauswüßte. Auch in letzterem Falle ist diese Berechnung der Zukunft dem bewußten Wissen fremd. Aber überlegen wir einmal! Kämen wir denn zum Handeln, wenn wir mit unserem Bewußtsein, mit unserem Wissen des Gegenwärtigen, die Zukunft erfassen sollten? Ware nicht die Überlegung, die Kritik, ein fortwährendes Erwägen des Für und Wider ein unüberwindlicher Hemmschuh für das, was wir eigentlich nötig haben, das Handeln? Folglich muß unser vermeintliches Wissen von der Zukunft im Unbewußten gehalten, dem Verständnis und der bewußten Kritik entzogen werden. Es gibt einen Zustand krankhafter Seelenverfassung — er ist weit verbreitet und kann sich in den verschiedensten Graden darstellen — die Zweifelsucht, der Grübelzwang, folie de doute — wo tatsächlich die innere Not den Patienten antreibt, in allem den einzig richtigen Weg zur Sicherung seiner Größe, seines Persönlichkeitsgefühls zu suchen, um ihn nicht zu finden. Die peinliche Untersuchung des eigenen zukünftigen Schicksals hebt dessen Unsicherheit so weit hervor, das Vorausdenken wird so weit bewußt, daß ein Rückschlag erfolgt: Die Unmöglichkeit, die Zukunft bewußt und sicher zu erfassen, erfüllt den Patienten mit Unsicherheit und Zweifel und jede seiner Handlungen wird gestört durch eine andersgerichtete Erwägung. — Den Gegensatz bildet der ausbrechende Wahn, die Manie, wo ein heimliches, sonst unbewußtes Ziel der Zukunft machtvoll hervorsticht, die Realität vergewaltigt und das Bewußtsein mit böser Absicht zu unmöglichen Annahmen verlockt, um das leidende Selbstbewußtsein vor Fehlschlägen bei der Mitarbeit in der Gemeinschaft zu sichern.

Daß das bewußte Denken im Traum eine geringere Rolle spielt, bedarf keines Erweises. Ebenso schweigt die Kritik und der Widerspruch der nunmehr schlafenden Sinnesorgane zum großen Teil. Wäre es undenkbar, daß nun die Erwartungen, Wünsche, Befürchtungen, die sich vom Kern der Persönlichkeit bis an die gegenwärtige Situation des Träumenden erstrecken, unverhüllter im Traume zutage treten?

Ein Patient, der an schwerer Tabes erkrankt war, dessen Bewegungsfähigkeit und Sensibilität stark eingeschränkt war, der ferner durch die Krankheit blind und taub geworden war, war ins Krankenhaus gebracht worden. Da es keine Möglichkeit gab, sich mit ihm zu verständigen, muß seine Situation wohl eine höchst sonderbare gewesen sein. Als ich ihn sah, schrie er unaufhörlich nach Bier und belegte irgendeine Anna mit unflätigen Schimpfworten. Sein unmittelbares Streben sowie die Art der Durchsetzung desselben war ziemlich ungebrochen. Denkt man sich aber eines der Sinnesorgane funktionierend, so ist es klar, daß nicht bloß seine Äußerungen, sondern auch seine Gedankengänge ganz anders, durch seine Situation korrigiert, verlaufen wären. Der Ausfall der Funktion der abtastenden Sinnesorgane im Schlafe macht sich demnach in mehrfacher Richtung geltend: in einer Verrückung des Schauplatzes in die uferlose Phantasie vor allem, ferner auch in einem hemmungsloseren Hervortreten des Zieles. Letzteres führt mit Notwendigkeit dem wachen Leben gegenüber zu Verstärkungen und Unterstreichungen des Wollens, inhaltlich zu analogischen, selbstbetrügerischen, aber schärferen Ausprägungen und Übertreibungen, die allerdings wieder infolge der Vorsicht des Träumers von Einschränkungen oder Hemmungen begleitet sein können. Auch Havelock Ellis (Die Welt der Träume. Würzburg 1911), der andere Erklärungsgründe anführt, hebt diesen Umstand hervor. — Von anderen Standpunkten aus kann man in obigem Falle ebenso wie bei Untersuchung der Träume verstehen, daß erst die Einfühlung in die reale Situation die »Rationalisierung« (Nietzsche) des Endzieles und seine »logische Interpretation« erzwingen kann.

Immerhin ist die Richtung des individuellen Handelns und somit die vorhauende, voraussehende Funktion des Traumes stets deutlich erkennbar;2) sie deutet die Vorbereitungen entsprechend der Lehenslinie, nicht des common sense, des Träumers einer aktuellen Schwierigkeit gegenüber an und läßt niemals die Sicherungsabsicht vermissen. Versuchen wir diese Linien an einem Beispiele zu verfolgen. Eine Patientin mit schwerer Platzangst, die an einer Hämoptoe erkrankt war, träumte, als sie im Bette lag und ihrem Beruf als Geschäftsfrau nicht nachgehen konnte:

»Ich trete ins Geschäft und sehe, wie die Mädchen Karten spielen.«

In allen meinen Fällen von Platzangst fand ich dieses Symptom als ein vorzüglich geeignetes Mittel, anderen, der Umgebung, den Verwandten, dem Ehegenossen, den Angestellten Pflichten aufzuerlegen und ihnen wie ein Kaiser und Gott Gesetze zu geben. Unter anderem geschieht dies dadurch, daß die Abwesenheit oder Entfernung gewisser Personen durch Angstanfälle, aber auch durch Übelkeit oder Erbrechen verhindert wird.3) Mir taucht jedesmal bei diesen Fällen die Wesensverwandtheit mit dem gefangenen Papst, dem Stellvertreter Gottes, auf, der gerade durch den Verzicht auf seine eigene Freiheit die Verehrung der Gläubigen steigert, ferner auch alle Potentaten zwingt, zu ihm zu kommen (»Der Gang nach Canossa«), ohne daß sie auf einen Gegenbesuch rechnen dürfen. Der Traum fällt in eine Zeit, als dieses Kräftespiel schon offen zutage lag. Seine Interpretation liegt auf der Hand. Die Träumerin versetzt sich in eine zukünftige Situation, in der sie bereits aufstehen kann und auf Gesetzesübertretungen fahndet. Ihr ganzes Seelenleben ist durchtränkt von der Überzeugung, daß ohne sie nichts in Ordnung geschehen könne. Diese Überzeugung verficht sie auch sonst immer im Leben, setzt jeden herab und bessert mit unheimlicher Pedanterie alles aus. Ihr immer waches Mißtrauen sucht stets bei anderen Fehler zu entdecken. Und sie ist derart mit entsprechenden Erfahrungen in der Richtung des Mißtrauens gesättigt, daß sie scharfsinniger wie andere manches von den Fehlern anderer errät. Oh, sie weiß genau, was Angestellte treiben, wenn man sie allein läßt! Sie weiß ja auch, was die Männer anstellen, sobald sie allein sind. Denn »alle Männer sind gleich!« Weshalb auch ihr Mann stets im Hause bleiben muß.

Sie wird ohne Zweifel nach der Art ihrer Vorbereitung, sobald sie von ihrem Lungenleiden genesen ist, eine große Anzahl von Versäumnissen im Laden, der an die Wohnung grenzt, entdecken. Vielleicht auch, daß Kartenspiele gespielt wurden. Am Tag nach dem Traum aber befahl sie dem Stubenmädchen unter Vorwänden, ihr die Spielkarten zu bringen, ließ auch die angestellten Mädchen häufig an ihr Bett rufen, um ihnen immer wieder neue Aufträge zu geben und um sie zu überwachen. — Um die dunkle Zukunft zu erhellen, braucht sie bloß im Wissen des Schlafs, entsprechend ihrem überspannten Ziel nach Überlegenheit, passende Analogien aufzustöbern, die Fiktion von der auch in der Einzelerfahrung zutage tretenden Wiederkehr des Gleichen 4) prinzipiell und wörtlich zu nehmen. Und um schließlich nach ihrer Genesung recht zu behalten, war ja nur nötig, das Maß ihrer Anforderungen höher zu stellen. Fehler und Versäumnisse mußten dann wohl offenkundig werden.

Als ein weiteres Beispiel der Traumdeutung möchte ich jenen aus dem Alterrume von Cicero überlieferten Traum des Dichters Simonides benützen, an welchem ich schon früher einmal (›Zur Lehre vom Widerstand‹) ein Stück meiner Traumtheorie entwickelt habe. Eines Nachts, kurz vor einer Reise nach Kleinasien, träumte Simonides, »ein Toter, den er einst pietätvoll begraben hatte, warne ihn vor dieser Reise«. Nach diesem Traume brach Simonides seine Reisevorbereitungen ab und blieb zu Hause. Nach unserer Erfahrung in der Traumkenntnis dürfen wir annehmen, daß Simonides diese Reise gescheut habe. Und er verwendete den Toten,5) der ihm verpflichtet schien, um sich mit den Schauern des Grabes, mit Vorahnungen eines entsetzlichen Endes dieser Reise zu schrecken und zu sichern. Nach der Mitteilung des Erzählers soll das Schiff untergegangen sein, ein Ergebnis, das dem Träumer in Analogie mit anderen Unglücksfällen längere Zeit vorgeschwebt haben mag. Wäre übrigens das Schiff glücklich angelangt, wer hätte abergläubische Gemüter gehindert, bestimmt anzunehmen, es wäre doch untergegangen, wenn Simonides der warnenden Stimme kein Gehör geschenkt hätte und mitgefahren wäre? Ein bekannter Schriftdeuter warnt, wie mir von mehreren darüber erkrankten Patienten bekannt wurde, seine Klienten vor einem drohenden Selbstmord. Welch billige Prophetengabe! Bringen sie sich um, so behält er recht, bleiben sie am Leben, so gilt es als Nutzeffekt seiner Warnung und er behält abermals recht.

Wir sehen demnach zwei Arten von Versuchen, im Traum vorauszudeuten, ein Problem zu lösen, das anzubahnen, was der Träumer in einer Situation will. Und er wird es auf Wegen versuchen, die seiner Persönlichkeit, seinem Wesen und Charakter angemessen sind. Der Traum kann eine der in der Zukunft erwarteten Situationen als bereits gegeben darstellen (Traum der Patientin mit Platzangst), um im Wachen das Arrangement dieser Situation hinterher heimlich oder offen durchzuführen. Der Dichter Simonides verwendet ein altes Erlebnis, offenbar, um nicht zu fahren. Halten Sie hier fest daran, daß es ein Erlebnis des Träumers ist, seine eigene Auffassung von der Macht der Toten, seine eigene Situation, in der ihm ein Entschluß nottut, zu reisen oder zu bleiben — erwägen Sie alle Möglichkeiten, dann drängt sich unweigerlich der Eindruck auf, Simonides träumte diesen Traum und wählte unter tausend anderen gerade dieses Bild aus, um sich einen Wink zu geben, um sicher und ohne Schwanken zu Hause zu bleiben. Wir dürfen wohl annehmen, daß unser Dichter auch ohne diesen Traum geträumt zu haben zu Hause geblieben wäre. Und unsere Patientin mit der Platzangst? Warum träumt sie von der Nachlässigkeit und Unordentlichkeit ihres Personals? Hört man daraus nicht deutlich die Fortsetzung: »Wenn ich nicht dabei bin, geht alles drunter und drüber, und wenn ich wieder gesund bin und die Zügel in die Hand nehme, werde ich schon allen zeigen, daß es ohne mich nicht geht.« Wir dürfen demnach erwarten, daß diese Frau bei ihrem ersten Erscheinen im Geschäfte allerlei Entdeckungen von Pflichtvergessenheit, von Nachlässigkeiten machen wird, denn sie wird ja mit Argusaugen zusehen, um ihrer Idee von ihrer Überlegenheit gerecht zu werden. Sie wird sicherlich recht behalten — und hat demnach im Traum die Zukunft vorausgesehen.6) Der Traum ist demnach wie der Charakter, das Fühlen, der Affekt, das nervöse Symptom durch die Endabsicht des Träumers arrangiert.

Ich muß nun eine Erörterung einschalten, um einem Einwand zu begegnen, der gewiß schon vielen auf der Zunge sitzt. Wie will ich es denn erklären, daß der Traum auf die zukünftige Gestaltung der Dinge Einfluß zu nehmen sucht, wo doch die meisten unserer Träume unverständliches, oft albern scheinendes Zeug vorstellen? Die Wichtigkeit dieses Einwandes leuchtet so sehr ein, daß die meisten der Autoren das Wesentliche des Traumes in diesen bizarren, unorientierten, unverständlichen Erscheinungen gesucht haben, diese zu erklären trachteten oder auf die Unverständlichkeit des Traumlebens gestützt dessen Bedeutsamkeit geleugnet haben. Scherner insbesondere von den neueren Autoren und Freud haben das Verdienst, eine Deutung der Rätsel des Traumes versucht zu haben; letzterer hat, um seine Traumtheorie zu stützen, nach welcher der Traum sozusagen ein Schwelgen in kindlichen, unerfüllt gebliebenen, sexuellen Wünschen, später in Todeswünschen vorstellen sollte, in dieser Unverständlichkeit eine tendenziöse Entstellung gesucht, als ob der Träumer, ungehindert von seinen kulturellen Schranken, dennoch verbotene Wünsche in der Phantasie befriedigen wollte. Diese Auffassung ist heute ebenso unhaltbar geworden wie die Anschauung von der sexuellen Grundlage der Nervenkrankheiten oder unseres Kulturlebens überhaupt. Die scheinbare Unverständlichkeit des Traumes erklärt sich vor allem aus dem Umstände, daß der Traum kein Mittel ist, um die zukünftige Situation zu erhaschen, sondern bloß eine begleitende Erscheinung, eine Spiegelung von Kräften, eine Spur und ein Beweis davon, daß Körper und Geist einen Versuch des Vorausdenkens, Voraus-tastens unternommen haben, um der Persönlichkeit, nicht dem common sense des Träumenden im Hinblick auf eine bevorstehende Schwierigkeit gerecht zu werden. Eine gedankliche Mitbewegung also, in ähnlicher Richtung verlaufend, wie der Charakter und wie das Wesen der Persönlichkeit es verlangen, in schwer verständlicher Sprache, die, wo man sie versteht, nicht deutlich redet, aber andeutet, wohin der Weg geht. — So notwendig die Verständlichkeit unseres wachen Denkens und Redens ist, weil sie die Handlung vorbereiten, so überflüssig ist sie zumeist im Traume, der etwa dem Rauch des Feuers zu gleichen ist und nur zeigt, wohin der Wind geht.

Andererseits kann uns aber der Rauch verraten, daß es irgendwo Feuer gibt. Und zweitens kann uns die Erfahrung darüber belehren, aus dem Rauch über das Holz Aufschluß zu gewinnen, das da brennt. Was in der Asche des Traumes übrigbleibt, ist die Erweckung von Gefühlen und Emotionen, die dem Lebensstil gerecht werden.

Zerlegt man einen Traum, der unverständlich erscheint, in seine Bestandteile, und kann man von dem Träumer in Erfahrung bringen, was diese einzelnen Teile für ihn bedeuten, so muß sich bei einigem Fleiß und Scharfsinn der Eindruck ergeben, daß hinter dem Traum Kräfte im Spiel waren, die nach einer bestimmten Richtung streben. Diese Richtung wird auch sonst im Leben des Menschen festgehalten erscheinen und ist durch sein Persönlichkeitsideal bestimmt, durch die von ihm als drückend empfundenen Schwierigkeiten und Mängel. Man erhält also durch diese Betrachtung, die wir wohl eine künstlerische nennen dürfen, die Lebenslinie des Menschen oder einen Teil derselben, wir sehen seinen unbewußten Lebensplan, nach welchem er der Anspannungen des Lebens und seiner Unsicherheit Herr zu werden strebt. Wir sehen auch die Umwege, die er macht, um des Gefühles der Sicherheit wegen und um einer Niederlage auszuweichen. Und wir können den Traum ebenso wie jede andere seelische Erscheinung, wie das Leben eines Menschen selbst dazu benützen, um über seine Stellung in der Welt und zu der anderer Menschen Aufschlüsse zu erhalten. — Im Traum erfolgt die Darstellung aller Durchgangspunkte des Vorausdenkens nach einem vorher bestimmten Ziele des Lebensstils mit den Mitteln der persönlichen Erfahrung unter Anwendung eines trügerischen Gleichnisses.

Dies führt uns zu einem weiteren Verständnis der anfänglich unverständlichen Einzelheiten in dem Aufbau des Traumes. Der Traum greift gelegentlich — und auch dann ist dies wieder durch einen besonderen Charakter des Träumenden bedingt — zu einer Darstellung, in der letzte Ereignisse, Bilder der Gegenwart, auftauchen. Zur Lösung einer schwebenden Frage klingen meist einfachere, abstraktere, kindlichere Gleichnisse an, häufig an ausdrucksvollere, dichterische Bildnisse gemahnend. So wird etwa eine drohende Entscheidung durch eine bevorstehende Schulprüfung ersetzt, ein starker Gegner durch einen älteren Bruder, der Gedanke an einen Sieg durch einen Flug in die Höhe, eine Gefahr durch einen Abgrund oder durch einen Fall. Affekte, die in den Traum hineinspielen, stammen immer aus der Vorbereitung und aus dem Vorausdenken, aus der Sicherung für das wirklich bevorstehende Problem.7) Die Einfachheit der Traumszenen — einfach gegenüber den verwickelten Situationen des Lebens — entsprechen nur vollkommen den Versuchen des Träumers, unter Ausschaltung der verwirrenden Vielheit der Kräfte in einer Situation dadurch einen Ausweg zu finden, daß er es unternimmt, eine Leitlinie zu verfolgen nach Ähnlichkeit der einfachsten Verhältnisse. So wie etwa ein Lehrer den Schüler fragt, der einer Frage nicht gewachsen ist, der sich zum Beispiel keinen Rat weiß, was er bezüglich der Fortpflanzung der Kraft zu antworten hätte: »Was geschieht, wenn Ihnen jemand einen Stoß gibt?« Käme zu dieser letzten Frage ein Fremder ins Zimmer, er würde den fragenden Lehrer mit dem gleichen Unverständnis betrachten, wie wir es tun, wenn man uns einen Traum erzählt.

Drittens aber hängt die Unverständlichkeit des Traumes mit dem zuerst erörterten Problem zusammen, bei welchem wir gesehen haben, daß zur Sicherheit des Handelns eine ins Unbewußte versenkte Anschauung von der Zukunft gehört. Diese Grundanschauung über das menschliche Denken und Handeln, der zufolge eine unbewußte Leitlinie zu einem im Unbewußten liegenden Persönlichkeitsideal führt, habe ich in meinem Buche Über den nervösen Charakter (l. c.) ausführlich dargelegt. Der Aufbau dieses Persönlichkeitsideales und der zu ihm hinführenden Leitlinien enthalten das gleiche Gedanken- und Gefühlsmaterial wie der Traum und wie die Bewegungsvorgänge, die hinter dem Traum stecken. Der Zwang, der es ausmacht, daß das eine seelische Material im Unbewußten verbleiben muß, drückt so sehr auf die Gedanken, Bilder und Gefühls-, Gesichts- und Gehörswahrnehmungen des Traumes, daß diese, um die Einheit der Persönlichkeit nicht zu gefährden, ebenfalls im Unbewußten, besser gesagt: unverständlich bleiben müssen. Denken Sie beispielsweise an den Traum der Patientin mit Platzangst. Was sie eigentlich kraft ihres unbewußten Persönlichkeitsideals anstrebt, ist die Herrschaft über ihre Umgebung. Verstünde sie ihre Träume, so würde ihr herrschsüchtiges Streben und Handeln der Kritik ihres wachen Denkens weichen müssen. Da aber ihr wirkliches Streben nach Herrschaft geht, muß der Traum unverständlich sein. An diesem Punkte kann man auch begreifen, daß seelische Erkrankungen, alle Formen von Nervosität unhaltbar werden und der Heilung entgegengehen, wenn es gelingt, die überspannten Ziele des Nervösen ins Bewußtsein zu bringen und dort abzuschleifen.

Ich will nun an einem Traum einer Patientin, die wegen Reizbarkeit und Selbstmordgedanken in meine Behandlung kam, auszugsweise zeigen, wie sich die Deutung eines Traumes durch den Patienten selbst vollzieht. Ich will besonders hervorheben, daß man das Analogische der Traumgedanken jedesmal hervortreten sieht in dem »Als-Ob«,8) mit dem die träumende Person die Erzählung beginnt. Die schwierige Situation der Träumerin bestand darin, daß sie sich in den Mann ihrer Schwester verliebt hatte. Der Traum lautet:

 

• Ein Napoleon-Traum

 

 

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1) Die Funktion des Zweifels im Leben wie in der Neurose ist, wie ich zeigen konnte, immer: eine Aggressionshemmung durchzuführen, einer Entscheidung aus­zuweichen und dies der eigenen Kritik zu verbergen. Für den Individualpsychologen, der »den Leuten nicht aufs Maul, sondern auf die Fäuste sieht«, bedeutet der Zweifel ein unzweifelhaftes Nein!

2) Zuerst geschildert im ›Aggressionstrieb‹ 1908 (s. Heilen und Bilden, l. c), in der ›Psychischen Behandlung der Trigeminusneuralgie‹, im ›Beitrag zur Lehre vom Widerstand‹, in der ›Syphilidophobie‹ (s. diesen Band und im Nervösen Charakter, l. c..

3) Vgl. Adler, ›Das organische Substrat der Psychoneurosen‹, und einen Ausschnitt aus der Krankengeschichte der obigen Patientin in ›Zur Rolle des Unbewußten‹ in diesem Band.

4) Die genauere Kenntnis dieser »Fiktion des Gleichen«, einer der wichtigsten Voraussetzungen des Denkens überhaupt und des Kausalitätsprinzips, verdanke ich meinem Freund und Mitarbeiter A. Häutler.

5) Über die Verwendung solcher bereitgestellter, affektauslösender Erinnerungs­bilder, die eben den Zweck bekommen, Affekte und deren Folgen, vorsichtige Haltungen, aber auch Ekel, Übelkeit, Angst, Furcht vor dem geschlechtlichen Partner, Ohnmacht und andere neurotische Symptome hervorzurufen, wird noch ausführlich abzuhandeln sein. Vieles davon habe ich im Nervösen Charakter (l. c.) als Gleichnis (z. B. als Inzestgleichnis, als Verbrechensgleichnis, als Gottähnlichkeit, als Größen- und Kleinheitswahn) auflösen können oder als »Junktim« beschrieben. Soweit mir bekannt, ist nur Hamburger zu annähernd ähnlichen Anschauungen gekommen. Eine ausführliche Schilderung dieser neurotischen Arrangements siehe in der ›Individualpsychologischen Behandlung der Neurosen‹ in diesem Band.

6) Es läßt sich leicht erraten, daß Simonides, der als Dichter nach der Unsterblichkeit zielte, diesem Traum gemäß durch Todesfurcht konstelliert war, während die Patientin mit Platzangst das fiktive Ziel eines Herrschertums, ein Königinnen­ideal verfolgte. Vgl. für ersteres auch ›Individualpsychologische Ergebnisse bezüglich Schlafstörungen‹, wo unter anderem die Beziehung kindlicher Todesfurcht zum ärztlichen Beruf hervorgehoben ist.

7) Verstärken sich aber tendenziös aus dem trügerischen Traumbild, wenn dies zur Sicherung des Lebensstils erforderlich ist.

8) Vgl. Vaihinger, Die Philosophie des Als-Ob. Berlin 1911, dessen erkenntnis­theoretische Anschauungen auf anderen Gebieten mit meinen Auffassungen in der Neurosenpsychologie vollkommen übereinstimmen.


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