4. Ungezähmte Triebe als Ausdruck verminderter Anpassung.


Es gibt Menschen, bei denen bestimmte Ausdrucksformen ganz besonders hervortreten, die dadurch charakterisiert sind, daß wir sie als Unerzogenheit empfinden. Hierher gehören z. B. Menschen, die das Nägelbeißen nicht lassen können oder solche, die, durch eine innere Gewalt getrieben, fortwährend in der Nase bohren, ferner Menschen, die sich mit einer solchen Gier auf das Essen stürzen, daß ihr Verhalten den Eindruck einer ungezähmten Leidenschaft erweckt. Daß solche Erscheinungen etwas bedeuten müssen, wird uns sofort klar, sobald wir einem Menschen zusehen, der sich wie ein hungriger Wolf auf sein Essen stürzt und keinerlei Hindernisse, keine Scham kennt, um seiner Gier genug zu tun. Das ist ein Schlürfen, Kauen und Klatschen. Die größten Bissen verschwinden fast ungekaut wie in einem Abgrund und ebenso erstaunlich ist die Schnelligkeit, mit der sie vertilgt werden. Aber nicht nur äußere Formen sind es, die uns auffallen, sondern auch die Quantität, die Häufigkeit der Mahlzeiten. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, es gibt Menschen, die man sich gar nicht vorstellen kann, ohne daß sie gleichzeitig Nahrung zu sich nehmen. Ein weiterer Typus von Unerzogenheit äußert sich durch eine auffallende Schmutzigkeit. Es gibt nicht etwa die Formlosigkeit, die wir bei Menschen finden, die viel zu arbeiten haben, auch nicht die natürliche Unordentlichkeit, die man bei schwer arbeitenden Menschen zuweilen findet. Unser Typus ist gewöhnlich nicht schwer arbeitend, bleibt sogar oft der Arbeit fern. Dennoch wird er von äußerer Unordentlichkeit und Beschmutzung nie frei. Es liegt darin fast etwas Gesuchtes, eine Zerzaustheit und Anstößigkeit, die man nicht leicht nachmachen könnte, und die etwas so Charakteristisches für den Menschen ist, daß man ihn gar nicht erkennen könnte, wenn er einmal anders daherkäme.

Diese Ausdrucksformen sind es, die den unerzogenen Menschen äußerlich charakterisieren. Er gibt uns durch sie einen verständlichen Wink, daß er nicht recht mitspielt und sich von den anderen abheben will. Wir werden von allen Menschen, die diese und andere Unarten begehen, immer den Eindruck empfinden, daß sie für den Mitmenschen wenig übrig haben. Nicht die Erscheinung ist es, die uns wundert, sondern die Tatsache, daß solche Unarten meist in der Kindheit ihren Ursprung haben. Denn es gibt fast keine Kinder, die sich ganz schnurgerade entwickeln. Unsere Aufmerksamkeit wird vielmehr von dem Umstand gefesselt, daß es Menschen gibt, die davon nicht loskommen.

Wenn wir nach den Gründen solcher Erscheinungen forschen, so stoßen wir auf eine mehr oder weniger ablehnende Haltung dieser Menschen zu ihren Mitmenschen und zu ihren Aufgaben. Es sind Menschen, die sich eigentlich vom Leben fernhalten wollen, die eine Mitarbeit ablehnen. Dadurch wird auch verständlich, warum sie durch moralische Auseinandersetzungen nicht bewogen werden können, von ihrer Unart zu lassen. Denn bei dieser Einstellung zum Leben hat ein Mensch eigentlich ganz recht, wenn er z. B. Nägel beißt. Es gibt kaum eine bessere Art auszuweichen, es kann für einen Menschen, der der Gesellschaft fernbleiben will, kein besseres, wirksameres Mittel geben, als wenn er z. B. regelmäßig mit einem schmutzigen Kragen oder in einem schadhaften Rock erscheint. Was kann ihm sicherer und besser von der Erlangung eines Amtes, bei dem er der Aufmerksamkeit, Kritik und Konkurrenz der andern unterworfen ist, bewahren oder ihm auf der Flucht vor Liebe und Ehe vollkommener behilflich sein, als wenn er sich in dieser Weise präsentiert? Er fällt so von selbst aus der Konkurrenz heraus und hat dabei noch die gute Ausrede, indem er sich auf seine Unart beruft: Was alles könnte ich erreichen, wenn ich nicht diese Unart hätte; ich habe aber diese Unart.

Ein Fall soll zeigen, wie sich eine solche Unart zum Selbstschutz eignet und wie sie verwendet wird, um ein Herrschaftsverhältnis über die Umgebung herzustellen. Es handelt sich um ein 22j'ähriges Mädchen, das an Bettnässen litt. Sie war das vorletzte Geschwister und hatte sich als schwaches Kind der besonderen Sorgfalt der Mutter erfreut, an die sie eine auffallende Anhänglichkeit zeigte. Anderseits fesselte sie dieselbe Tag und Nacht an sich, sowohl durch ihre Unart, wie auch durch Angstzustände und nächtliches Aufschreien. Es war im Anfang sicher ein Triumph für sie, ein Balsam für ihre Eitelkeit, daß es ihr mehr als den anderen Geschwistern gelang, die Mutter auf ihre Seite zu bringen. Gekennzeichnet war dieses Mädchen auch dadurch, daß sie für andere Beziehungen, wie Schule, Freundschaft und Gesellschaft nicht zu haben war. Besonders ängstlich zeigte sie sich, wenn sie das Haus verlassen sollte, und auch als sie älter wurde und damit öfter in die Lage kam, abends Besorgungen machen zu müssen, war ihr ein Weg am Abend eine Qual. Sie kam immer erschöpft und voller Angst nach Hause und erzählte schreckliche Dinge von allerhand Gefahren, in denen sie sich befunden hatte.

Man versteht schon, wie alle diese Erscheinungen darauf hindeuten, daß sich dieses Mädchen darauf einrichtet, ständig um ihre Mutter zu bleiben. Da aber die materiellen Verhältnisse nicht darnach waren, mußte auch für sie der Plan erwogen werden, sich um einen Verdienst umzusehen. Man brachte sie schließlich dazu, eine Stelle anzunehmen. Aber schon nach zwei Tagen stellte sich wieder ihr altes Übel, das Bettnässen, ein, welches bewirkte, daß die Leute, bei denen sie in Stellung war, in höchste Aufregung gerieten und ihr die Stelle kündigten. Die Mutter, die den wahren Sinn dieses Leidens nicht kannte, machte ihr heftige Vorwürfe. Da unternahm das Mädchen einen Selbstmordversuch und kam ins Spital. Nun schwur ihr die Mutter in höchster Verzweiflung, nicht mehr von ihrer Seite zu weichen.

Alle drei Erscheinungen, das Bettnässen, die Angst vor der Nacht und dem Alleinsein sowie der Selbstmordversuch sind also auf das gleiche Ziel gerichtet. Sie haben für uns Sprache gewonnen und sagen uns gleichsam: »Ich muß bei der Mutter bleiben«, oder: »Die Mutter muß fortwährend auf mich achtgeben.« So erhält eine Unart einen tief begründeten Sinn und wir erkennen, daß man einen Menschen einerseits darnach beurteilen kann, anderseits wieder, wie eine Beseitigung solcher Fehler nur möglich ist, wenn man den Menschen ganz versteht.

Im großen und ganzen wird man finden, daß Unarten bei Kindern meist darauf hinzielen, die Aufmerksamkeit der Umgebung auf sich zu lenken, eine besondere Rolle zu spielen, den Erwachsenen ihre Schwäche und Unfähigkeit zu zeigen, die sich dann oft keinen Rat wissen, um so sich selbst, als den Stärkeren, in ein besseres Licht zu rücken. Im gleichen Sinn ist die häufig anzutreffende Unart zu verstehen, sich bei Besuchen Fremder in auffälliger, meist unangenehmer Weise bemerkbar zu machen. Die sonst bravsten Kinder können zuweilen wie vom Teufel besessen sein, sobald ein fremder Gast die Stube betritt. Das Kind will eine Rolle spielen und läßt von seinen Versuchen nicht ab, bis es seinen Zweck in irgendeiner ihm genügend erscheinenden Weise erreicht hat. Solchen Menschen wird, wenn sie größer werden, nie ein Zug fehlen, wo sie sich den Forderungen der Allgemeinheit mit Hilfe solcher Unarten zu entziehen oder ihnen Schwierigkeiten entgegenzusetzen suchen. Herrschsucht und Eitelkeit sind es, die sich unter diesen Erscheinungen verbergen, die aber unter so sonderbaren Formen auftreten, daß sie vielfach unerkannt bleiben.


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