2. Der Vorrang des Mannes in der heutigen Kultur.


Durch die Entwicklung der Kultur in der Richtung des Machtstrebens, insbesondere durch die Anstrengungen gewisser Einzelpersonen oder Schichten, die sich Privilegien sichern wollten, ist die Arbeitsteilung in besondere Bahnen gelenkt worden, die heute noch vorherrschen und bewirken, daß die menschliche Kultur durch die überragende Bedeutung des Mannes charakterisiert ist. Die Arbeitsteilung ist von der Art, daß der privilegierten Gruppe, den Männern, Vorrechte gesichert sind und daß diese infolge ihrer Vormachtstellung auf die Stellung der Frau in der Arbeitsteilung im Produktionsprozeß in ihrem Sinne, zu ihrem Vorteil Einfluß nehmen, indem sie ihr den Kreis ihres Lebens vorzeichnen und in der Lage sind, die ihnen genehmen Formen des Lebens durchzusetzen, Formen des Lebens für die Frau zu bestimmen, die in erster Linie diesem männlichen Gesichtspunkt gehorchen.

Wie die Dinge bis jetzt liegen, besteht ein fortwährendes Streben nach Überlegenheit über die Frau auf Seite des Mannes und dementsprechend eine stete Unzufriedenheit mit den männlichen Privilegien auf Seite der Frau. Bei der engen Zusammengehörigkeit beider Geschlechter ist es begreiflich, daß eine derartige Spannung, eine stete Erschütterung ihrer psychischen Harmonie zu weitgehenden Störungen führt, woraus eine allgemeine Psyche resultiert, die von beiden Teilen des Menschengeschlechtes als außer­ordentlich qualvoll empfunden werden muß.

Alle unsere Einrichtungen, traditionellen Festlegungen, Gesetze, Sitten und Gebräuche geben Zeugnis von der privilegierten Stellung des Mannes, nach der sie gerichtet und von der sie festgehalten sind. Sie dringen bis in die Kinderstube und nehmen ungeheuren Einfluß auf die kindliche Seele. Wir können wohl das Verständnis des Kindes für diese Zusammenhänge nicht hoch anschlagen, müssen aber seinen Gefühlsinhalt als außerordentlich tief fundiert empfinden. Und wenn Erscheinungen, wie z. B. der Fall eines Knaben, der das Ansinnen, Mädchenkleider anzulegen mit heftigen Wutanfällen beantwortete, zutage treten, haben wir Grund genug, diesen Zusammenhängen nachzugehen. Dies führt uns wieder von einer andern Seite zur Betrachtung des Strebens nach Macht.

Hat das Geltungsstreben des Knaben einen bestimmten Grad erreicht, so wird es mit Vorliebe jenen Weg nehmen, der dem Knaben durch die Privilegien der Männlichkeit, die er überall wahrnimmt, gewährleistet erscheinen. Es wurde bereits erwähnt, daß gerade die heutige Familienerziehung nur zu geeignet ist, das Streben nach Macht und damit die Neigung, männliche Privilegien höher zu schätzen und ebenfalls anzustreben, zu fördern. Denn meist ist es der Mann, der Vater, der dem Kind als Symbol der Macht entgegentritt. Er erregt mit seinem rätselhaften Kommen und Gehen viel mehr das Interesse des Kindes als die Mutter. Sehr bald merkt es die überragende Rolle, die der Vater innehat, der den Ton angibt, Anordnungen trifft, alles leitet; es sieht, wie sich alle seinen Befehlen unterwerfen und wie sich die Mutter stets auf ihn beruft. In jeder Hinsicht erscheint der Mann dem Kind als der Starke und Mächtige. Es gibt Kinder, denen der Vater so sehr maßgebend erscheint, daß sie glauben, alles müsse heilig sein, was er sagt und die zur Bekräftigung ihrer Behauptungen oft nur erwidern, der Vater habe es gesagt. Selbst wo der väterliche Einfluß nicht so deutlich hervortritt, werden Kinder den Eindruck von der väterlichen Überlegenheit bekommen, weil ja doch die ganze Last der Familie auf dem Vater zu ruhen scheint, während in Wirklichkeit erst die Arbeitsteilung dem Vater die Möglichkeit gibt, seine Kräfte besser zu verwerten.

Hinsichtlich des historischen Ursprunges der männlichen Vormachtstellung muß darauf hingewiesen werden, daß dieselbe nicht als eine natürliche Tatsache in Erscheinung getreten ist. Darauf deutet schon der Umstand hin, daß erst eine Anzahl von Gesetzen geschaffen werden mußten, um die Herrschaft des Mannes sicherzustellen. Das weist gleichzeitig darauf hin, daß es vor der gesetzlichen Festlegung der männlichen Vormachtstellung andere Zeiten gegeben haben muß, in der das männliche Privileg keine so sichere Sache war. Diese Zeit ist in der Tat historisch nachgewiesen. Es war die Zeit des Mutterrechtes, die Zeit, wo es die Mutter war, die Frau, die im Leben die bedeutendere Rolle gespielt hat, vor allem dem Kind gegenüber, dem alle Männer des Stammes in einer Art Verpflichtung gegenüberstanden. Darauf weisen heute noch gewisse Sitten und Gebräuche hin, wie z. B. die scherzhafte Übung, dem Kind gegenüber jeden Mann als Onkel oder Vetter zu bezeichnen. Dem Übergang vom Mutter- zum Vaterrecht ist ein gewaltiger Kampf vorausgegangen, der beweist, daß der Mann die Vorrechte, die er heute gern als ihm von Natur aus zukommend bezeichnet, durchaus nicht von Anfang an besessen hat1), sondern darum kämpfen mußte. Der Sieg des Mannes war gleichbedeutend mit der Unterjochung der Frau und es sind besonders die Einzeichnungen im Werdegang der Gesetzgebung, die von diesem Unterjochungsprozeß ein beredtes Zeugnis ablegen.

Eine natürliche Angelegenheit ist demnach die männliche Vormacht­stellung nicht gewesen. Es sind Anzeichen vorhanden, daß sie sich erst im Verlauf fortwährender Kämpfe mit den Nachbarvölkern als notwendig herausstellte, in denen dem Mann eine bedeutende Rolle zufiel, die er schließlich dazu benutzte, um die Führung endgültig an sich zu reißen. Hand in Hand mit dieser Entwicklung ging die Entwicklung des Privateigentums und des Erbrechtes, die insofern zu einer Grundlage der männlichen Vormachtstellung ausgebaut wurden, als in der Regel der Mann der erwerbende und besitzende Teil ist.

Für das heranwachsende Kind ist es nicht nötig, Bücher über dieses Thema zu lesen. Auch wenn es nichts von diesen Dingen weiß, spürt es die Wirkung der Tatsache, daß der Mann der erwerbende und bevorrechtete Teil ist, auch wenn einsichtige Väter und Mütter gern bereit sind, auf die aus alter Zeit überlieferten Privilegien zugunsten einer Gleichberechtigung zu verzichten. Es ist überaus schwer, dem Kind klarzumachen, daß die Mutter, die die häuslichen Leistungen vollzieht, ein dem Mann gleichberechtigter Partner sei. Man stelle sich vor, was es für einen Knaben bedeutet, wenn ihm von seinem ersten Tage angefangen, überall der Vorrang des Mannes vor Augen tritt. Schon bei der Geburt wird er viel freudiger aufgenommen als ein Mädchen und als Prinz gefeiert. Es ist eine allbekannte und allzuhäufige Erscheinung, daß Eltern sich lieber wünschen, Knaben zu bekommen. Der Knabe bekommt es auf Schritt und Tritt zu spüren, wie er als männlicher Sproß bevorzugt und in seinem Wert höher angesetzt wird. Verschiedene an ihn gerichtete oder gelegentlich von ihm aufgefangene Worte legen ihm immer wieder die größere Wichtigkeit der männlichen Rolle nahe. Die Überlegenheit des männlichen Prinzips tritt ihm auch in der Form entgegen, daß die weiblichen Hausgenossen zu den geringer geschätzten Arbeiten verwendet werden und daß schließlich auch Frauen aus der Umgebung des Kindes nicht immer in der Überzeugtheit von ihrer Gleichwertigkeit mit dem Manne dahinleben. Sie spielen meist eine als untergeordnet und minderwertig hingestellte Rolle. Die für die Frau so wichtige Frage, die sie vor jeder Ehe an den Mann zu stellen hätte: wie stellst du dich zum überragenden männlichen Prinzip in der Kultur, insbesondere im Rahmen der Familie? wird meist während des ganzen Lebens nicht entschieden. Die Folge ist im einen Fall ein stärkerer Ausdruck für das Streben nach Gleichstellung mit dem Mann, in anderen Fällen eine Art Resignation in verschiedener Stärke. Auf der andern Seite steht der Mann, der Vater, der selbst als Knabe in der Überzeugtheit aufgewachsen ist, daß er als Mann die wichtigere Rolle zu spielen hat und in dieser Überzeugtheit eine Art Verpflichtung empfindet, derzufolge er die an ihn herantretenden Fragen des Lebens und der Gemeinschaft immer zugunsten des männlichen Privilegs beantwortet.

Alle die Situationen, die sich aus diesem Verhältnis ergeben, erlebt das Kind mit. Ihm ergeben sich daraus über die Wesenheit der Frau eine Unzahl von Bildern und Ansichten, bei denen im allgemeinen die Frau schlecht abschneidet. Die seelische Entwicklung des Knaben bekommt auf diese Weise einen männlichen Einschlag. Was er in seinem Streben nach Macht als anstrebenswertes Ziel empfinden kann, sind fast ausnahmslos männliche Eigenschaften und Stellungsnahmen. Aus den geschilderten Macht­verhältnissen erwächst eine Art männlicher Tugend, die selbst ganz auf diesen Ursprung hinweist. Gewisse Charakterzüge gelten als »männlich«, andere als »weiblich«, ohne daß irgendwelche Grundtatsachen zu diesen Wertungen berechtigen. Denn wenn wir den Seelenzustand von Knaben und Mädchen vergleichen und dabei scheinbar eine Bestätigung zugunsten dieser Klassifizierung finden, können wir nicht von natürlichen Tatsachen sprechen, sondern diese Erscheinungen konstatieren wir bei Menschen, die schon in einem bestimmten Rahmen eingespannt sind, deren Lebensplan, deren Leitlinie durch einseitige Machturteile bereits eingeengt ist. Diese Machtverhältnisse haben ihnen den Platz, auf dem sie ihre Entwicklung zu suchen haben, in zwingender Weise zugewiesen. Die Unterscheidung von männlichen und weiblichen Charakterzügen ist also nicht gerechtfertigt. Wir werden sehen, wie beiderlei Züge den Forderungen des Machtstrebens genügen können, daß man auch mit »weiblichen« Mitteln, z. B. mit Gehorsam und Unterwerfung, Macht auszuüben imstande ist. Durch die Vorteile, deren sich ein gehorsames Kind erfreut, kann es unter Umständen viel stärker in den Vordergrund rücken als ein ungehorsames, obwohl in beiden Fällen das Streben nach Macht am Werke ist. Unsere Einsicht in das Seelenleben eines Menschen ist oft dadurch erschwert, daß das Machtstreben zu den verschiedensten Charakterzügen greift, um sich durchzusetzen.

Wird der Knabe älter, so wird ihm die Bedeutung seiner Männlichkeit fast zur Pflicht gemacht. Sein Ehrgeiz, sein Streben nach Macht und Überlegenheit verbindet sich vollends, wird geradezu identisch mit der Verpflichtung zur Männlichkeit. Vielen der Kinder, die nach Macht streben, genügt es nicht, das Bewußtsein der Männlichkeit bloß in sich zu tragen, sie wollen auch immer zeigen und beweisen, daß sie Männer sind und daher Privilegien haben müssen, indem sie sich einerseits immer auszuzeichnen versuchen und dabei ihre männlichen Charakterzüge übertreiben, anderseits der weiblichen Umgebung gegenüber nach der Art aller Tyrannen versuchen, je nach dem Grad der Widerstände, auf sie zu stoßen, ihre Überlegenheit darzutun, entweder durch Trotz oder wilde Empörung, oder durch listige Verschlagenheit.

Da jeder Mensch an dem idealen Maß der privilegierten Männlichkeit gemessen wird, ist es kein Wunder, daß man den Knaben dieses Maß immer vorhält und daß er sich schließlich selbst daran mißt, sich immer fragt und beobachtet, ob sein Lebensgang auch immer männlich, ob er selbst schon genügend männlich sei u. dgl. Was alles heutzutage unter »männlich« vorgestellt wird, ist bekannt. Vor allem etwas rein Egoistisches, etwas, was die Eigenliebe befriedigt, also Überlegenheit, das Hervorragen über andere, all dies unter Zuhilfenahme von aktiv scheinenden Charakterzügen, wie Mut, Stärke, Stolz, Erringung von Siegen aller Art, besonders über Frauen, Erlangung von Ämtern, Würden und Titeln, der Hang, sich gegen »weibliche« Regungen abzuhärten u. dgl. mehr. Es ist ein fortwährendes Ringen um die persönliche Überlegenheit, weil es als männlich gilt, überlegen zu sein.

Auf diese Weise wird der Knabe Züge annehmen, für die er die Vorbilder natürlich nur bei erwachsenen Männern, vor allem beim Vater, entlehnen kann. Überall kann man die Spuren dieses künstlich gezüchteten Größenwahns verfolgen. Der Knabe wird frühzeitig verleitet darauf auszugehen, sich Übermaß an Macht und Privilegien zu sichern. Diese bedeuten ihm soviel wie »Männlichkeit«. Sie artet in schlimmen Fällen oft zu den bekannten Erscheinungen von Roheit und Brutalität aus.

Die Vorteile, die männliches Wesen vielfach bieten, bedeuten eine große Verlockung. Es darf uns nicht wundernehmen, wenn wir auch bei Mädchen häufig finden, daß sie als Leitlinie ein männliches Ideal in sich tragen, entweder als eine unerfüllbare Sehnsucht oder als Maßstab für die Beurteilung ihres Verhaltens, oder als eine Art und Weise aufzutreten und zu wirken (»In der Kultur wird jede Frau ein Mann sein wollen«). Dazu gehören jene Mädchen, die in unbezähmbarem Drang gerade solche Spiele und Betätigungen bevorzugen, die der körperlichen Eignung nach eher für Knaben taugen würden. So klettern sie z. B. auf alle Bäume hinauf, treiben sich gern in Knabengesellschaft herum und lehnen alle weiblichen Arbeiten wie eine Schande ab. Überhaupt finden sie nur in männlicher Betätigung Befriedigung. Alle diese Erscheinungen sind als von der Bevorzugung der Männlichkeit ausgehend zu verstehen. Wir sehen hier deutlich, wie das Ringen um eine hervorragende Position, wie das Streben nach Überlegenheit sich mehr auf den Schein erstreckt als auf die Wirklichkeit und auf die tatsächliche Stellung im Leben.

 

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1) Eine gute ausführliche Schilderung dieses Entwicklungsganges findet sich bei August Bebel, Die Frau und der Sozialismus.


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