c) Vorstellungen.
c) Vorstellungen. Noch deutlicher zeigt sich die Eigenart des Menschen in seinen Vorstellungen. Unter Vorstellung versteht man die Wiederherstellung einer Wahrnehmung, ohne daß das Objekt derselben gegenwärtig ist. Sie ist also eine reproduzierte, bloß in Gedanken wieder hervorgerufene Wahrnehmung, welcher Umstand wieder auf die Tatsache der schöpferischen Fähigkeit des seelischen Organs hinweist. Es ist nicht so, als ob die einmal erfolgte und von der schöpferischen Kraft der Seele schon beeinflußte Wahrnehmung nun wiederholt würde, sondern die Vorstellung, die sich ein Mensch macht, ist wieder ganz von seiner Eigenart geformt und ein neues, ihm eigenartiges Kunstwerk. Es gibt nun Vorstellungen, die den gewöhnlichen Grad ihrer Schärfe weit überschreiten und wie Wahrnehmungen wirken, die so scharf hervortreten, als ob sie gar nicht Vorstellungen wären, sondern als ob der abwesende, anregende Gegenstand wirklich vorhanden wäre. Man spricht dann von Halluzinationen, von Vorstellungen, die so auftauchen, als ob sie von einem anwesenden Objekt ausgingen. Die Bedingungen hierfür sind dieselben wie die oben geschilderten. Auch die Halluzinationen sind schöpferische Leistungen des seelischen Organs, geformt nach den Zielen und Zwecken des betreffenden Menschen. Ein Beispiel soll dies besser beleuchten:
Eine junge, intelligente Frau hatte gegen den Willen ihre Eltern geheiratet. Die Abneigung der Eltern gegen die Ehe Schließung war so groß, daß alle Beziehungen zwischen Eltern und Kind abgebrochen worden waren. Im Laufe der Zei war die Frau zur Überzeugung gelangt, daß ihre Eltern an ihr nicht richtig gehandelt hatten, doch scheiterten mehrfache Versöhnungsversuche an dem Stolz und Trotz beider Teile. Durch die Eheschließung war die Frau, die aus hochangesehener Familie stammt, in ganz ärmliche Verhältnisse gekommen. Man könnte aber bei oberflächlicher Beobachtung von einer Mißheirat nichts merken und über das Schicksal der Frau beruhigt sein, wenn sich nicht seit einiger Zeit ganz eigentümliche Erscheinungen eingestellt hätten.
Sie war als Lieblingskind des Vaters aufgewachsen. Die Beziehungen der beiden waren so innig, daß es auffallen mußte, wieso es zu einem derartigen Bruch kommen konnte. In Angelegenheit ihrer Ehe nun behandelte der Vater das Mädchen außerordentlich schlecht und der Zerfall der beiden war gründlich. Selbst als ein Kind kam, waren die Eltern nicht zu bewegen, sich dasselbe zu besehen oder sich der Tochter wieder zu nähern, und die Frau, von großem Ehrgeiz beseelt, vertrug die Haltung ihrer Eltern deshalb so schlecht, weil es sie schmerzlich berührte, in einer Frage, in der sie sichtlich recht hatte, Unrecht bekommen zu haben.
Man muß sich vor Augen halten, daß die Stimmung der Frau völlig unter dem Einfluß ihres Ehrgeizes stand. Erst dieser Charakterzug erklärt, warum sie das Zerwürfnis mit den Eltern so schlecht vertrug. Ihre Mutter war eine strenge, rechtliche Frau, die sicher wertvolle Qualitäten hatte, aber dem Mädchen gegenüber eine strenge Hand bekundete. Sie verstand es auch, äußerlich wenigstens, sich dem Manne unterzuordnen, ohne dabei ihren Rang einzubüßen. Selbst diese Unterwerfung betonte sie mit einem gewissen Stolz und rühmte sich ihrer. Der Umstand, daß in der Familie auch noch ein Sohn auftauchte, der als männlicher Sproß und künftiger Erbe des angesehenen Namens eine gewisse höhere Wertung gegenüber dem Mädchen erlangte, stachelte den Ehrgeiz der letzteren noch besonders auf. Die Schwierigkeiten und die Notlage, in die das Mädchen, die so etwas bisher nie gekannt hatte, durch die Ehe geraten war, brachten es mit sich, daß sie mit immer steigendem Unmut an das Unrecht der Eltern dachte.
Eines Nachts nun, als sie noch nicht eingeschlafen war, hatte sie folgende Erscheinung: Die Tür ging auf, die Mutter Gottes trat zu ihr und sagte: »Weil ich dich so gern habe, teile ich dir mit, daß du Mitte Dezember sterben wirst; du sollst nicht unvorbereitet sein.«
Die Frau war darüber zwar nicht erschreckt, weckte aber ihren Mann, dem sie alles erzählte. Am nächsten Tag erfuhr es der Arzt. Es war eine Halluzination. Die Frau beharrte darauf, richtig gesehen und gehört zu haben. Das ist auf den ersten Blick unverständlich. Erst wenn wir unseren Schlüssel anwenden, können wir gewisse Aufschlüsse erhalten. Es besteht ein Zerwürfnis mit den Eltern, die Frau befindet sich in Not, sie ist ehrgeizig und hat, wie die Untersuchung ergibt, die Neigung, allen überlegen zu sein. Da ist es verständlich, wenn ein Mensch in seinem Streben, über die ihm gegebene Sphäre hinauszugreifen, sich der Gottheit nähert und mit ihr Zwiesprache hält. Man denke, die Mutter Gottes wäre nur in der Vorstellung geblieben, wie es bei Betenden der Fall ist. Niemand würde daran etwas Besonderes finden. Das genügt ihr daher nicht, sie braucht stärkere Argumente. Wenn wir verstehen, daß die Seele derartiger Kunststücke fähig ist, dann verliert die Angelegenheit alles Rätselhafte. Und ist nicht jeder Mensch, der träumt, in einer ähnlichen Lage? Der Unterschied ist eigentlich nur, daß diese Frau wachend träumen kann. Wir müssen hinzurechnen, daß ihr Ehrgeiz gegenwärtig durch ein Gefühl der Demütigung ganz besonders angespannt ist. Und da fällt uns auf, daß jetzt tatsächlich eine andere Mutter zu ihr kommt, und zwar jene, von der das Volk annimmt, daß sie eine gütigere Mutter sei. Diese Mütter müssen zueinander in einem gewissen Gegensatz stehen. Die Mutter Gottes ist erschienen, weil die eigene Mutter nicht gekommen ist. Die Erscheinung weist auf die mangelnde Liebe der eigenen Mutter hin. Die Frau sucht sichtlich nach einem Ausweg, wie sie ihre Eltern am besten ins Unrecht setzen könnte. Mitte Dezember ist auch nicht eine ganz bedeutungslose Zeit. Es ist die Zeit, wo sich im Leben der Menschen innigere Beziehungen ausgestalten, wo die Menschen meist wärmer werden, sich Geschenke machen u. dgl., wo auch die Möglichkeit von Versöhnungen viel näher rückt, so daß man verstehen kann, daß dieser Zeitpunkt mit einer Lebensfrage der jungen Frau in einem gewissen Zusammenhang steht.
Vorläufig befremdet nur, daß die freundliche Annäherung der Mutter Gottes von einem Mißton begleitet ist, der Verkündung des baldigen Todes. Der Umstand, daß sie ihrem Mann geradezu in freudiger Art diese Mitteilung macht, muß etwas bedeuten. Auch dringt diese Vorhersage nun gar über den Kreis der Familie hinaus und schon am nächsten Tage erfährt davon der Arzt. Nun war es leicht zu erreichen, daß die eigene Mutter zu ihr kam. Einige Tage nachher erschien aber die Mutter Gottes zum zweitenmal und wieder sprach sie dieselben Worte. Auf die Frage, wie die Begegnung mit der Mutter ausgefallen sei, erzählte die junge Frau, ihre Mutter sähe halt doch nicht ein, daß sie Unrecht getan habe. Das alte Leitmotiv taucht also wieder auf. Wieder handelt es sich darum, daß das Ziel der Überlegenheit über die Mutter noch nicht erreicht war. Nun wurde versucht, den Eltern den Sachverhalt klarzumachen, worauf eine Begegnung mit dem Vater zustande kam, die glänzend ausfiel. Es folgte eine rührende Szene. Aber noch immer war die Frau nicht befriedigt, denn sie erzählte, es sei so etwas Theatralisches im Wesen des Vaters gewesen. Und warum habe er sie denn so lange warten lassen! Die Neigung, dem andern Unrecht zu geben und selbst als Sieger dazustehen, bestand eben noch immer.
Nach dem Bisherigen können wir also sagen: Die Halluzination tritt auf in einem Moment der höchsten seelischen Anspannung, in einem Zustand, in dem der Mensch die Abdrängung von seinem Ziel fürchtet. Es ist keine Frage, daß solche Halluzinationen früher und vielleicht auch jetzt in Gegenden, wo eine rückständige Bevölkerung lebe, bedeutenden Einfluß gewinnen können. Gewisse Halluzinationen, aus Schriften von Reisenden bekannt, betreffen Erscheinungen, wie sie Wüstenwanderern begegnen, wenn sie in Schwierigkeiten geraten, unter Hunger, Durst, Müdigkeit, Verirrung leiden. Es ist eine Spannung der höchsten Not, die das Verstellungsvermögen des Leidenden zwingt, sich mit vollendeter Deutlichkeit aus der gegenwärtigen Bedrückung in eine erquickende Situation zu erheben. Letztere muntert den Müden auf, entzündet die Kräfte des Wankenden, macht ihn stärker oder unempfindlicher, oder wirkt wie ein Balsam, wie eine Narkose.
Wir müssen feststellen, daß die Erscheinung der Halluzination für uns eigentlich keinen neuen Vorgang bedeutet, da wir Ähnliches bereits im Wesen der Wahrnehmung, der Erinnerung und der Vorstellung gefunden haben und auch in den Träumen wiederfinden werden. Durch eine Verstärkung in der Vorstellung selbst und durch eine Ausschaltung der Kritik können derartige Leistungen leicht Zustandekommen. Wir wollen festhalten, daß immer Situationen besonderer Art die Auslösung besorgen. Solche Leistungen sind in einem Zustand der Not und unter dem Eindruck einer Machtbedrohung zustandegekommen, bei einem Menschen, der aus einem Gefühl der Schwäche heraus nach Überwindung derselben strebt. Ist die Spannung in einem solchen Zustand außerordentlich groß, dann wird auf die Gabe der Kritik nicht mehr soviel Rücksicht genommen. Dann ist es nach dem Grundsatz: »Hilf dir, wie du kannst« möglich, daß die Leistung die Vorstellung, mit der vollen Kraft des seelischen Organs dargestellt, in die Formen der Halluzination übergeht.
Mit der Halluzination verwandt ist die Illusion, die sich von der ersteren dadurch unterscheidet, daß ein äußerlicher Anknüpfungspunkt besteht, nur in eigenartiger Weise verkannt, wie z. B. in Goethes Erlkönig. Die Grundlage, nämlich der seelische Notstand, bleibt dieselbe.
Ein weiterer Fall soll zeigen, wie die schöpferische Kraft des seelischen Organs in einem Zustand der Not imstande ist, eine Halluzination oder eine Illusion zu erzeugen.
Ein Mann aus angesehener Familie, der es infolge einer schlechten Erziehung zu nichts gebracht hatte, versah eine untergeordnete Schreiberstelle. Er hatte alle Hoffnung aufgegeben, in Zukunft je zu Ansehen zu gelangen. Zu dieser Hoffnungslosigkeit, die schwer auf ihn lastete, kamen die Vorwürfe seiner Umgebung, die die starke seelische Spannung in ihm noch erhöhten. In diesem Zustand ergab er sich dem Trunke, der ihm Vergessen und eine Ausrede für seinen Fall brachte. Nach kurzer Zeit kam er mit Delirien ins Krankenhaus. Delirien sind wesensverwandt mit der Halluzination. Bekanntlich besteht die gewöhnliche Form der Halluzination bei Säuferdelirien im Erblicken von Mäusen oder schwarzen Tieren. Auch andere Halluzinationen kommen vor, die mit dem Beruf des Patienten zusammenhängen. Unser Patient kam in die Hand von Ärzten, die scharfe Alkoholgegner waren und ein strenges Regime eingeführt hatten. Er wurde von seinem Alkoholismus vollkommen befreit, verließ das Spital geheilt und blieb drei Jahre alkoholfrei. Dann kam er mit anderen Klagen wieder ins Spital zurück. Er erzählte, daß er bei seinen Arbeiten — er war jetzt Erdarbeiter — immer einen Mann auftauchen sähe, der sich grinsend über ihn lustig mache. Einmal, als er darüber in besonderen Zorn geraten war, nahm er sein Werkzeug und warf es nach ihm, um zu sehen, ob ein wirklicher Mensch dahinterstecke. Die Gestalt wich aus, fiel aber dann über ihn her und prügelte ihn.
In diesem Fall kann man nicht mehr von einem Gespenst, von einer Halluzination sprechen, denn die Gestalt hatte ganz reale Fäuste gehabt. Die Erklärung ist leicht zu geben: Sonst halluzinierte er, die Probe machte er aber an einem wirklichen Menschen. Es ergab sich, daß der Mann trotz Befreiung vom Alkohol nach seiner Entlassung aus dem Spital, weitergesunken war. Er hatte seine Stelle verloren, war von zu Hause verstoßen worden und brachte sich nun durch Erdarbeiten fort, die sowohl er, wie auch seine Angehörigen als niedrigste Beschäftigung einschätzten. Die seelische Spannung, in der er gelebt hatte, war nicht gewichen. Vom Alkohol befreit, war er trotz dieses ungeheuren Vorteils eigentlich um eine Tröstung ärmer geworden. Seinen ersten Beruf konnte er erledigen, indem er sich auf das Trinken verlegte. Wenn zu Hause Vorwürfe laut wurden, daß er es zu nichts bringen könne, schien ihm der Hinweis auf seinen Alkoholismus weniger schmerzlich, als der auf seine Unfähigkeit. Nach seiner Heilung stand er wieder der Wirklichkeit gegenüber und einer Situation, die nicht weniger schwer und drückend war als die frühere. Sollte er es nun wieder zu nichts bringen, dann hatte er nicht einmal die Ausrede des Alkohols. In dieser seelischen Not tauchen nun wieder Halluzinationen auf. Er hatte sich in seine frühere Situation wieder eingelebt, er betrachtete die Dinge so, als ob er noch immer ein Säufer wäre und sagte damit eigentlich, er habe sein ganzes Leben durch das Trinken geschädigt, es könne nun nicht mehr besser werden. Als Kranker konnte er hoffen, von seinem neuen, wenig geachteten und ihm daher widerwärtigen Beruf befreit, enthoben zu werden, ohne selbst einen Entschluß fassen zu müssen. Und so kam es, daß die obige Erscheinung länger anhielt, bis Abhilfe kam und er wieder ins Krankenhaus ging. Nun konnte er sich tröstend sagen, er hätte viel mehr erreichen können, wenn nicht das Unglück des Trunkes über ihn hereingebrochen wäre. Dadurch konnte er sein Persönlichkeitsgefühl immer noch hochhalten. Dieses nicht sinken zu lassen, die Überzeugung festhalten zu können, daß er zu größeren Leistungen geeignet wäre, wenn ihn dieses Unglück nicht getroffen hätte, war für ihn viel wichtiger als die Arbeit selbst. Damit hatte er die Machtlinie erreicht und konnte feststellen, daß die andern nicht besser seien als er, sondern daß eine Schwierigkeit im Weg war, die sich nicht wegräumen ließ. In dieser Stimmung, bei der er eine tröstende Entschuldigung suchte, erwuchs ihm wie eine Rettung die Erscheinung des grinsenden Mannes.