3. Zielstrebigkeit im Seelenleben.


Was wir aus den seelischen Regungen zuerst erfassen können, ist selbst wieder Bewegung, die auf ein Ziel gerichtet ist. Deshalb müssen wir feststellen, daß es ein Trugschluß wäre, sich die menschliche Seele so vorzustellen, als ob sie ein ruhendes Ganzes wäre, sondern wir können sie uns nur vorstellen in der Form von sich bewegenden Kräften, die allerdings aus einem einheitlichen Grund hervorgegangen sind und einem einheitlichen Ziel zustreben. Schon im Begriff der Anpassung liegt dieses Zielstrebige. Wir können uns ein Seelenleben nicht vorstellen ohne ein Ziel, zu dem hin die Bewegung, die Dynamik, die im Seelenleben enthalten ist, abrollt.

Das menschliche Seelenleben ist also durch ein Ziel bestimmt. Kein Mensch kann denken, fühlen, wollen, sogar träumen, ohne daß all dies bestimmt, bedingt, eingeschränkt, gerichtet wäre durch ein ihm vorschwebendes Ziel. Dies ergibt sich fast von selbst im Zusammenhang mit den Forderungen des Organismus und der Außenwelt und mit der Antwort, die der Organismus darauf zu geben genötigt ist. Die körperlichen und seelischen Erscheinungen des Menschen entsprechen diesen aufgestellten Grundanschauungen. Eine seelische Entwicklung ist nicht anders denkbar, als in diesem eben geschilderten Rahmen, als auf ein irgendwie vorschwebendes Ziel gerichtet, das sich von selbst aus den geschilderten Kraftwirkungen ergibt. Das Ziel kann veränderlich oder starr gefaßt werden.

Man kann also alle seelischen Erscheinungen in dem Sinne auffassen, als ob sie eine Vorbereitung auf etwas Kommendes wären. Es scheint, daß das seelische Organ gar nicht anders betrachtet werden kann, als daß es ein Ziel vor sich habe, und die Individualpsychologie nimmt alle Erscheinungen der menschlichen Seele so auf, als ob sie auf ein Ziel gerichtet wären.

Wenn man das Ziel eines Menschen kennt und auch sonst in der Welt halbwegs informiert ist, dann weiß man auch, was seine Ausdrucks­bewegungen bedeuten können und kann deren Sinn als eine Vorbereitung für dieses Ziel erfassen. Dann weiß man auch, was für Bewegungen dieser Mensch machen muß, um es zu erreichen, etwa so, wie man den Weg kennt, den ein Stein nehmen muß, wenn man ihn zur Erde fallen läßt. Nur, daß die Seele kein Naturgesetz kennt, denn das vorschwebende Ziel ist nicht feststehend, sondern abänderbar. Wenn jemandem jedoch ein Ziel vorschwebt, dann verläuft die seelische Regung so zwangsmäßig, als ob hier ein Naturgesetz walten würde, nach dem man zu handeln genötigt ist. Das besagt aber, daß es im Seelenleben kein Naturgesetz gibt, sondern daß sich der Mensch auf diesem Gebiet seine Gesetze selbst macht. Wenn sie ihm dann wie ein Naturgesetz erscheinen, so ist das ein Trug seiner Erkenntnis, denn er hat ja, wenn er ihre Unabänderlichkeit, ihre Determination festzustellen glaubt und sie beweisen will, die Hand dabei im Spiel. Wenn einer z. B. ein Bild malen will, so wird man an ihm alle Haltungen wahrnehmen können, die zu einem Menschen gehören, der ein solches Ziel vor Augen hat. Er wird alle dazugehörigen Schritte mit unbedingter Konsequenz machen, wie wenn ein Naturgesetz vorläge. Muß er aber dieses Bild malen?

Es ist also ein Unterschied zwischen den Bewegungen der Natur und jenen im menschlichen Seelenleben. Hier knüpfen die Streitfragen über die Freiheit des menschlichen Willens an, die heute dahin geklärt zu sein scheinen, als ob der menschliche Wille unfrei wäre. Richtig ist, daß er unfrei wird, sobald er sich an ein Ziel bindet. Und da dieses so oft aus seiner kosmischen, animalischen und gesellschaftlichen Bedingtheit erwächst, so muß uns natürlich das Seelenleben so erscheinen, als ob es unter unabänderlichen Gesetzen stünde. Wenn man aber beispielsweise seinen Zusammenhang mit der Gemeinschaft leugnet und bekämpft, sich nicht den Tatsachen anpassen will, dann sind alle diese scheinbaren Gesetzmäßigkeiten des Seelenlebens aufgehoben und es tritt eine neue Gesetzmäßigkeit ein, die eben durch das neue Ziel bedingt ist. Ebenso wirkt für einen Menschen, der am Leben verzweifelt und seine Mitmenschlichkeit auszutilgen sucht, das Gesetz der Gemeinschaft nicht mehr bindend. Wir müssen also festhalten, daß erst durch die Aufstellung eines Zieles eine Bewegung im Seelenleben mit Notwendigkeit erfolgen muß.

Umgekehrt ist es möglich, aus den Bewegungen eines Menschen auf das ihm vorschwebende Ziel zu schließen. Eigentlich wäre dies das Wichtigere, weil manche Menschen sich über ihr Ziel oft nicht im klaren sind. In der Tat ist das der regelmäßige Weg, den wir zum Zweck der Pflege unserer Menschen­kenntnis gehen müssen. Er ist nicht so einfach wie der erstere, weil die Bewegungen vieldeutig sind. Wir können aber mehrere Bewegungen eines Menschen hernehmen, vergleichen, Linien ziehen. Man kann zum Verständnis eines Menschen dadurch gelangen, daß man die Haltungen, die Ausdrucksformen zweier zeitlich voneinander verschiedener Punkte seines Lebens durch eine Linie miteinander zu verbinden sucht. Dadurch bekommt man ein System in die Hand, bei dessen Anwendung man den Eindruck einer einheitlichen Richtung erhält. Hierbei kann man entdecken, wie eine kindliche Schablone in einer manchmal überraschenden Weise bis in die späten Lebenstage hinein wiederzufinden ist. Ein Beispiel mag dies erläutern:

Ein 30jähriger, außerordentlich strebsamer Mann hatte es trotz Schwierigkeiten in seiner Entwicklung zu Ansehen und guten Erfolgen gebracht. Er erscheint beim Arzt in einem Zustand äußerster Depression und beklagt sich über Arbeits- und Lebensunlust. Er erzählt, daß er vor einer Verlobung stehe, jedoch der Zukunft mit großem Mißtrauen entgegensehe. Er sei von heftiger Eifersucht geplagt und es bestehe die Gefahr, daß die Verlobung bald wieder auseinandergehen werde. Die Tatsachen, die er hierzu anführt, sind nicht gerade überzeugend; dem Mädchen kann kein Vorwurf gemacht werden. Das auffallende Mißtrauen, das er an den Tag legt, läßt den Verdacht rege werden, daß er einer von den vielen Menschen sei, die einem andern gegenübertreten, sich von ihm angezogen fühlen, aber gleichzeitig eine Angriffsstellung einnehmen und nun voller Mißtrauen das zerstören, was sie aufbauen wollen. Um nun die obenerwähnte Linie ziehen zu können, wollen wir ein Ereignis aus seinem Leben herausgreifen und versuchen, es mit seiner jetzigen Stellungnahme zu vergleichen. Unserer Erfahrung zufolge greifen wir immer auf die ersten Kindheitseindrücke zurück, obwohl wir wissen, daß das, was wir zu hören bekommen, einer objektiven Prüfung nicht immer standhalten muß. Seine erste Kindheitserinnerung war folgende: Er war mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder auf dem Markt. Wegen des herrschenden Gedränges nahm die Mutter ihn, den älteren, auf den Arm. Als sie ihren Irrtum bemerkte, stellte sie ihn wieder auf die Erde und nahm den andern auf, während er selbst nun betrübt neben ihr einherlief. Er war damals vier Jahre alt. Wie wir bemerken können, klingen bei der Wiedergabe dieser Erinnerung ähnliche Saiten wieder, wie wir sie soeben bei der Schilderung seines Leidens vernommen haben: er ist nicht sicher, der Vorgezogene zu sein und kann es nicht ertragen, daran denken zu müssen, daß ihm etwa ein anderer vorgezogen werden könnte. — Auf diesen Umstand aufmerksam gemacht, ist er sehr erstaunt und erkennt den Zusammenhang sofort.

Das Ziel, auf das hin wir uns alle Ausdrucksbewegungen eines Menschen gerichtet denken müssen, kommt unter dem Einfluß der Eindrücke zustande, die dem Kind durch die Außenwelt vermittelt werden. Das Ideal, das Ziel eines Menschen, bildet sich schon in den ersten Monaten seines Lebens. Denn dort werden schon jene Empfindungen eine Rolle spielen, auf die das Kind mit Freude oder mit Mißbehagen antwortet. Dort werden bereits die ersten Spuren eines Weltbildes auftauchen, wenn auch nur in der primitivsten Art. Damit ist gesagt, daß die Grundlagen für die uns zugänglichen Faktoren des Seelenlebens bereits in der Säuglingszeit gelegt werden. Dieselben werden immer weiter ausgebaut, sie sind wandelbar, beeinflußbar. Die mannigfachsten Einwirkungen finden statt, die das Kind zwingen, mit irgendeiner Stellungsnahme auf die Anforderungen des Lebens zu antworten.

So können wir jenen Forschern nicht unrecht geben, die hervorheben, daß Charakterzüge eines Menschen schon in seiner Säuglingszeit bemerkbar waren, weshalb viele behaupten, der Charakter sei angeboren. Man kann aber feststellen, daß die Auffassung, daß der Charakter des Menschen von seinen Eltern ererbt sei, gemeinschädlich ist, denn sie hindert ja den Erzieher, sich mit Vertrauen an seine Aufgabe zu machen. Eine Bekräftigung dieser Annahme liegt in dem Umstand, daß die Auffassung von der Angeborenheit des Charakters meist dazu verwendet wird, um jenen, der sich ihrer bediente, freizusprechen, seine Verantwortlichkeit auszuschalten, was natürlich den Aufgaben der Erziehung widerspricht.

Eine wichtige Bedingung, die bei der Aufrichtung des Zieles mitwirkt, ist durch den Einfluß der Kultur gegeben. Durch diese ist sozusagen eine Schranke aufgestellt, an die die Kraft des Kindes immer wieder stößt, so lange, bis es einen Weg findet, der ihm gangbar erscheint, der ihm Erfüllung für seine Wünsche, sowie für die Zukunft Sicherung und Anpassung verspricht. Wie stark die Sicherung sein soll, die das Kind begehrt, wieviel Sicherung ihm die Hingabe an die Kultur gewährt, ist bald zu erkennen. Es ist nicht einfach Sicherung vor Gefahr, sondern es kommt wie bei einer gut eingerichteten Maschine ein weiterer Sicherungskoeffizient hinzu, der die Erhaltung des menschlichen Organismus noch besser gewährleisten soll. Diesen verschafft sich das Kind dadurch, daß es über das gegebene Maß hinaus Sicherungen, Triebbefriedigungen, ein Plus verlangt, mehr, als zu einem einfachen Bestände, zu seiner ruhigen Entwicklung nötig wäre. Dadurch kommt aber eine neue Bewegung in sein Seelenleben. Die Bewegungslinie, die wir hier bemerken, ist ganz deutlich die der Überhebung. Das Kind will, ähnlich wie ein Erwachsener, mehr erreichen als alle andern, es strebt eine Überlegenheit an, die ihm dann jene Sicherheit und Anpassung bringen und bewahren soll, die ihm als Ziel von vornherein gesetzt ist. So wogt es, so entsteht eine Unruhe im seelischen Leben, die noch vielfach verstärkt wird. Man braucht sich nur vorzustellen, daß etwa die kosmischen Einwirkungen eine stärkere Antwort erzwingen. Oder wenn in Zeiten der Not die Seele sich ängstigt, sich ihrer Aufgaben nicht gewachsen glaubt, werden wieder Abweichungen in dem Sinn zu beobachten sein, daß die Forderung nach Überlegenheit noch deutlicher hervortritt.

Dabei kann es vorkommen, daß die Zielsetzung in der Weise erfolgt, daß das Individuum größeren Schwierigkeiten dadurch zu entkommen sucht, daß es ihnen ausweicht. Man kann hier eine Menschenart feststellen, die das Menschlichste enthält, über das wir unterrichtet sind, den Menschentypus, der vor Schwierigkeiten entweder zurückbebt oder Unterschlupf sucht, um die an ihn gestellten Forderungen wenigstens vorläufig abzuweisen. Dies gibt uns die Möglichkeit, zu verstehen, daß die Reaktionen der menschlichen Seele durchaus nicht Endgültigkeit besitzen, sondern daß sie immer nur vorläufige Antworten sein können, die nie volle Richtigkeit für sich beanspruchen dürfen. Ganz besonders bei der seelischen Entwicklung des Kindes, an die wir nicht das Maß der Erwachsenen anlegen dürfen, müssen wir uns vor Augen halten, daß wir es hier nur mit vorläufigen Zielsetzungen zu tun haben. Immer haben wir mit dem Kind weiter zu blicken und uns vorzustellen, wohin die Kraft, die wir am Werke sehen, das Kind wohl einmal tragen möge. Und wenn wir uns in die Seele des Kindes versetzen, wird uns klar, daß diese Kraftäußerungen nicht anders zu verstehen sind, als daß es sich in seinem Sinne zu einer endgültigen Anpassung an Gegenwart und Zukunft mehr oder weniger entschlossen hat. Die damit zusammenhängende Stimmungslage weist es nach verschiedenen Seiten. Die eine Seite zeigt sich als die des Optimismus, das Kind traut sich zu, die ihm erwachsenden Aufgaben auch glatt lösen zu können. Dann wird es in sich jene Charakterzüge entwickeln, die eben zu einem Menschen gehören, der seine Aufgaben für löslich hält. So entwickeln sich Mut, Offenheit, Verläßlichkeit, Fleiß u. dgl. Das Gegenteil hiervon sind die Züge des Pessimismus. Denkt man sich das Ziel eines Kindes, das sich die Fähigkeit zur Lösung seiner Aufgaben nicht zutraut, dann kann man sich auch vorstellen, wie es in der Seele eines solchen Kindes aussehen mag. Wir finden dort Zaghaftigkeit, Schüchternheit, Verschlossenheit, Mißtrauen und alle andern Züge, mit denen der Schwache sich zu verteidigen sucht. Sein Ziel wird außerhalb der Grenzen des Erreichbaren, weit hinter der Front des Lebens liegen.


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