Die Zwangsneurose
(1918)
Die Entmutigung, das sicherste Kennzeichen des Nervösen, zwingt ihn, zwischen sich und die unumgänglich nötigen Entscheidungen eine Distanz zu legen. Um diese Distanz rechtfertigen zu können, greift er zu Arrangements, die sich wie ein Berg von Mist vor ihm auftürmen. So scheidet er sich von der Front des Lebens. Auf die Frage: »Wo warst du denn, als man die Welt verteilet?« antwortet er mit dem Hinweis auf seinen Misthaufen. Sein Verbleiben im Hinterland, auf der unnützlichen Seite des Lebens, trägt demnach einen durch seinen zitternden Ehrgeiz bedingten Zwangscharakter, erzwungen nicht durch die Zwangsidee, sondern durch seine Furcht vor der Kooperation, vor seinen Lebensproblemen.
Nirgends wird dieser Berg von selbst arrangierten Hindernissen so deutlich wie bei der Zwangsneurose.
Wer sich der Stimmung des Zwangsneurotikers erinnert, hat sicher den Eindruck eines Menschen, der sich ununterbrochen abseits von der normalen menschlichen Betätigung emsig abquält. Niemals fehlt diese Stimmung ängstlicher, peinigender, quälender Natur.
Es ist auch auffällig, wie Patienten, die niemals mit medizinischer Literatur in Berührung kamen, die Eingebungen zu Zwangshandlungen mit einem Begriff bezeichnen, den auch die Wissenschaft wie die Philosophie aufgenommen hat: als Imperative. Man macht die überraschende Beobachtung, daß die Philosophie oft ähnliche Ausdrücke und Anschauungen produziert wie der Kranke.
Die Formen, in denen die Zwangsneurose meistens auftritt, sind: Waschzwang, Gebetzwang, Zwang zur Masturbation, moralische Zwangsideen der verschiedensten Art, Grübelzwang usw. Man kann vom Standpunkt einer systematischen Einteilung das Gebiet der Zwangsneurose noch erheblich erweitern und findet den gleichen Mechanismus auch beim Symptomengebiet der Enuresis nocturna, bei Nahrungsverweigerung nervöser Natur, Zwangshungern, Perversionen usw.
Das Symptom der Zwangshandlungen ist auch in die schöne Literatur übergegangen.
Auf drei Fälle soll hier hingewiesen werden.
So die Lebensgeschichte des verschollenen Romantikers von Sonnenberg, der in früher Kindheit und bis über die Pubertät hinaus am Symptom des Gebetzwanges gelitten hat. Er war ein trotziger, sehr ehrgeiziger und ungebärdiger Junge, geriet mit seiner Umgebung häufig in Konflikt. Frühzeitig tauchten religiöse Ideen auf. Er zeigte dieses Symptom meist während der Unterrichtsstunde, so daß der Unterricht oft stockte und unterbrochen werden mußte. Dann hat Jean Paul in Schmelz-les Reise nach Flaez eine Unzahl von Zwangshandlungen beschrieben. In der Kindheit trat beim Helden der Handlung der Zwang auf, plötzlich laut »Feuer« zu schreien, was leicht Paniken hervorrufen konnte. Dieses und ähnliche Symptome sind außerordentlich häufig und führen zuweilen große Störungen des öffentlichen Lebens herbei.
Im dritten Fall, in Vischers Auch einer, ist die ganze Weltanschauung des Helden auf Nieszwang und Schnupfen aufgebaut.
Für die Zwangsneurose ist es besonders charakteristisch, daß alle Zwangshandlungen ein Vorstadium besitzen, daß man als Kampf des Patienten gegen seine Eingebung bezeichnen kann. In diesem Stadium verweilt er mit peinlichen Gefühlen. Es wird von allen Autoren als besonders bedeutsam hervorgehoben, daß der Patient sich der Sinnlosigkeit seines Zwangssymptoms in voller Weise bewußt ist.
Wie alle derartigen Maximen und Anschauungen in der Neurosenliteratur muß man auch diesen Satz cum grano salis nehmen. Eine Anzahl von Patienten haben berichtet, daß sie gerade in ihrer Symptomhandlung eine Erlösung und Erledigung gefühlt haben, »weil sie aus ihrem ganzen Wesen entsprungen sei und sich als berechtigt und notwendig erwiesen habe«. Diesem Stadium einer gefühlsmäßigen Entscheidung zugunsten des Symptoms geht eine große Spannung in der Psyche des Patienten monate- und jahrelang vorher. Daher sind wir berechtigt anzunehmen, daß auch diese Stellungnahme eigentlich nur der Lockerung des Symptoms diente, als ob sich der Patient aus seinem angeblichen Kampf gegen die Zwangshandlung das Recht zusprechen wollte, sein Symptom zu produzieren. Es ist auch nicht zu übersehen, daß der Kranke in seiner Argumentation willkürlich schaltet, daß er Richter, Kläger und Angeklagter in einer Person ist.
Die Zwangsneurose stellt in der Tat ein ungefähr abgeschlossenes Krankheitsbild dar und weist auch die Grundzüge der allgemeinen Neurosen auf. Zusammenhänge der verschiedensten Natur liegen vor. Der Übergang zum neurasthenischen Komplex ist ein ganz gewöhnlicher. Wenn wir die Zwangshandlung des Luft Schluckens ins Auge fassen, die häufiger vorkommt als man gewöhnlich annimmt, so wird der Zusammenhang mit einer großen Anzahl von neurasthenischen Magen- und Darmstörungen augenscheinlich. Ebenso häufig sind die Zusammenhänge mit der Hysterie, und gerade im Gebiete der Kriegsneurosen sind die Analogien mit hysterischem Tremor, Lähmungen und Spasmen recht bekanntgeworden. Nicht selten findet man beim Errötungszwang das Auftauchen von leichteren oder schwereren paranoiden Erscheinungen (Beobachtungswahn). Den Zusammenhang mit Angstneurosen ergibt die Tatsache, daß die Unterdrückung der Zwangssymptome durch Angst ersetzt wird. Nicht selten gehen die Zwangsneurosen in Alkoholismus oder Morphinismus über oder sind mit ihnen verbunden. Zusammenhänge mit impulsivem Irresein, mit Zwangsimpulsen zu Verbrechen und mit zwangsmäßigen Selbstbeschuldigungen, ebenso zu Moral in-sanity ergeben besondere Bilder. Eine Unzahl von Beziehungen liegen zu scheinbaren Unarten vor, so z. B. zu gewissen Formen von Faulheit, zur Pedanterie, Zeitvertrödelung und insbesondere zu quälenden, hypermoralischen oder religiösen Anschauungen, Wahrheitsfanatismus usw.
Eigentlich besitzt jeder Mensch irgendeinen Anteil in seinem psychischen Wesen, der an die Zwangsneurosen erinnert, der, verschiedentlich ausgebildet, gelegentlich zu Störungen nicht unbeträchtlicher Art führt. So übertriebenes Vertrauen auf überirdische Hilfe, das sich bei manchen Menschen durch ihr ganzes Leben und alle ihre Handlungen zieht, als ob sie alles geschenkt haben wollten. Ferner Silbenzählen, Lesen der Firmentafeln, Zählen der Fenster usw., alles scheinbar ohne Sinn, worüber viele normal gebliebene Menschen berichten können. Besonders in der Kindheit sind ähnliche Erscheinungen häufig und weisen auf das Schwächegefühl gegenüber der Wirklichkeit hin.
Außerordentlich enge Zusammenhänge bestehen zwischen Zwangsneurose und neurotischem Zweifel.
Der psychische Zusammenhang aller dieser Erscheinungen bringt die Gefahr nahe, uns in der Psychologie mit ihren unmeßbaren Differenzen zu verlieren.
Es gibt aber eine Anzahl von Proben auf die Richtigkeit oder ungefähre Richtigkeit einer neuropsychologischen Anschauung.
Die eine Probe besteht in folgendem: Der Neurologe hat in Anwesenheit des Hausarztes eine Untersuchung, ein Examen des Patienten durchzuführen, ohne sich zu Suggestivfragen oder zu irgendwie planmäßigen Ausforschungen hinreißen zu lassen. Wohl aber so vorzugehen, daß auf die ganze Persönlichkeit des Untersuchten ein Licht fällt. Und dies ohne Verabredung mit dem konsultierenden Arzt. Dieser sieht gewöhnlich den Zusammenhang, während der Patient von diesem, der im Laufe des Examens aus der Fragestellung und den Antworten zutage kommt, keine Ahnung hat.
Diese Methode hat durchaus keine einwandfreie Bedeutung. Deshalb ist eine weitere Probe über die Richtigkeit unserer Anschauung von den Symptomen nötig. Man schiebe das Symptom und den eigentlichen Grund zur Krankenbehandlung ganz beiseite und kümmere sich bloß um die Persönlichkeit des Patienten. Man versuche, Aufschlüsse über ihn zu bekommen, sein Wesen zu ergründen, seine Absichten im Leben, seine Haltung zu den Forderungen der Familie und Gesellschaft. Man wird bald ein ziemlich scharf umrissenes Charakterbild erlangen. Die Untersuchung zeigt den Patienten mit einer Anzahl von Zügen behaftet, die wir zu einem Gesamtbilde zusammenfügen können.1)
Vor allem zeigt sich, daß es sich um Personen handelt, die wir nicht als passiv bezeichnen können. Sie entbehren einer gewissen Aktivität nicht. Man merkt dies schon daran, daß sie nicht völlig im Hintergrunde des Lebens stehen. Sie haben gewöhnlich schon Prüfungen abgelegt, haben etwas gelernt, aber sie stehen in einem gewissen bedeutsamen Abschnitt ihres Lebens, in dem ihnen eine bestimmte Entscheidung bevorsteht, die Liebe, Ehe, Beruf, Altern usw.
Wenn man aus dieser Skizze und den Richtungslinien einen Schluß gezogen hat, wenn man bei den Patienten Züge großer Empfindlichkeit und ein Verhalten festgestellt hat, das wir als unnahbar bezeichnen können, wenn wir die Tatsache konstatieren können, daß sie wenig Menschenliebe, wenig Nächstenliebe besitzen, daß ihr ganzes Leben Neigung zur Isolierung zeigt, daß sie selten Freunde haben, daß ihr Ehrgeiz aber scharf hervortritt, in der Regel so scharf, daß er ihnen selbst bewußt is.t: dann wird der Eindruck plastisch, daß diese Menschen dem Leben mit einer abwehrenden Geste gegenüberstehen.
Wie bei den anderen Neurosen dürfen wir von einer Positionserkrankung sprechen, im Gegensatz zu den Autoren, die eine Dispositionserkrankung annehmen. Die Familie drückt oft auf den Patienten in einer Weise, daß sie ihn zu einem latenten oder offenen Trotz erzieht. Diese Kampfstellung äußert sich jeder Forderung gegenüber, die das gesellschaftliche Leben stellt. Plötzlich beginnen seine Zwangserscheinungen zu sprechen. Sie sagen uns, daß er seine Abwehrstellung durch sie sichert.
Man lege dann dem Patienten die Frage vor: Was würden Sie tun, wenn Sie heute ganz gesund wären? Und er wird mit großer Sicherheit jene Forderung nennen, von der wir gerade erwarteten, daß er ihr auszuweichen suche.
Bestätigungen dieser Auffassung gab es im Kriege genug. Die Kriegsneurose ist eine Form der Erkrankung, bei der das finale Moment der sichernden Isolierung als das ausschlaggebende zu betrachten ist. Der Krieg stellte Forderungen, denen sich die erschütterte Seele des im Kriege zweckmäßig Nervösgewordenen zu entziehen suchte.
Die Probe auf die Richtigkeit des gefundenen Resultats besteht darin, daß die von uns aus dem Wesen des Patienten erschlossenen Richtungslinien uns das Symptom als notwendig, in irgendeiner Form als verwertbar, intelligent, als gelegen auffassen lassen können. Von einer kausalen Bedingtheit ist natürlich keine Rede; der Patient ist nicht etwa zu seinem Symptom verpflichtet, wie man bei kausaler Betrachtung herausbekommen müßte. Es ist, als ob er sich zu seinem Symptom verlocken, verleiten ließe. Es liegt eine Verführung des menschlichen Geistes vor, die aber so nahe liegt, daß wir sie nachfühlen können.
Dieser Irrtum im seelischen Aufbau des Patienten stammt aus einer mehr oder weniger pessimistischen Weltanschauung, baut sich über einem Gefühl der Minderwertigkeit auf und ergibt automatisch eine Verlockung zum Rückzug, sobald die Forderungen der Gemeinschaft an den Patienten herantreten. Andererseits wird aus dieser Tatsache erklärlich, daß eine Änderung seines Wesens durch Belehrung und nur durch sie zustande kommen kann.
Obige Zusammenhänge sollen an zwei Fällen klargelegt werden.
Der erste Fall betrifft eine junge Frau, die vor mehreren Jahren gegen ihren Willen durch einen etwas strengen Vater verheiratet wurde. Sie war immer ein ernstes strebsames, äußerst gewissenhaftes Mädchen gewesen, dessen Gewissenhaftigkeit sich daraus erklärt, daß auch der Vater, den das Mädchen als die bedeutendste Persönlichkeit in der Familie einschätzte, auf diese Eigenschaft ganz besonderen Wert legte. Sie war das einzige Mädchen neben drei Knaben und erzählte sofort spontan, daß sie ihre zurückgesetzte Stellung außerordentlich schwer empfunden habe. Sie war auf die Hauswirtschaft beschränkt und dort eigentlich nur der Obhut einer etwas zänkischen, nörgelnden Mutter anvertraut. Durch ihre Gewissenhaftigkeit verdiente sie sich das Lob des Vaters.
Sie leistete wenig Widerstand gegen die Ehe. Diese war eine katholische und wurde nach zweijähriger Dauer wegen Vergehungen des Mannes im Privatleben gelöst. Nicht lange danach machte sie die Bekanntschaft eines Mannes, den sie bald liebte und mit dem sie eine nach ungarischem Ritus geschlossene Ehe einging. Die Ehe stieß auf den Widerstand der neuen Schwiegermutter. — Die Kriegsjahre brachen herein. Aus der ersten Ehe hatte sie einen Knaben mitgebracht. Nun mußte sie zur Schwiegermutter übersiedeln, während der Mann im Kriege war. Sie kam so kurz nach der Eheschließung in eine neue Situation, aus der sie sich mit allen Fasern heraussehnte. Die neue Situation beschwor ein Gefühl der Niederlage herauf, das sie schon bei ihrer Mutter kennengelernt hatte. Die Kritik der Schwiegermutter fiel außerordentlich heftig aus. Da fiel ihr ein Buch Professor Försters in die Hände. Darin las sie, daß die Ehe in jedem Falle unlösbar sei und daß die Lösung eine schwere sittliche Verfehlung sei.
Seitdem hatte sie von Zeit zu Zeit unter depressiver Stimmung die Idee, sie müsse eigentlich zu ihrem ersten Manne zurückkehren. Die Depression war ununterbrochen vorhanden. Es handelte sich um eine der Zwangsneurosen, bei denen Depressionszustände auftreten, und zwar zur Unterstützung der Zwangsidee. Die Bedeutung dieses Zwangsgedankens bestand darin, daß sie eine Krankheitslegitimation hatte und, darauf gestützt, sich einer Anzahl von Privilegien erfreute, und zwar gerade jener, nach denen ihr Ehrgeiz ganz besonders ging. Sie war nun von jeder Kritik befreit, kehrte der nörgelnden Schwiegermutter den Rücken und begab sich ins väterliche Heim, konnte die Sorge für das Kind, also die niedrig eingeschätzte Hauswirtschaft, der Mutter übertragen und sah sich bald in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Hauses gerückt, mit einer Anzahl von Vorteilen fiktiver Art, wie sie der ehrgeizigen Frau als Ersatz dienen konnten für das, was sie als ihren Nachteil gegenüber ihren Brüdern empfunden hatte.
Wenn man an der Richtigkeit des von mir für alle Neurosen festgestellten Zieles der Überlegenheit zweifelt, dann mache man folgende Probe: Man suche die Absicht des Symptoms selbst, des Zwangsgedankens, sie habe eine Sünde begangen. Was ist der eigentliche Hintergedanke, der hinter diesen Gedanken steckt? Der religiös gewissenhafte Vater war nie auf eine ähnliche Idee gefallen. Die Tochter spielt sich als die religiösere und gewissenhaftere Natur auf! Sie war eine überaus ehrgeizige Natur, die unbefriedigt war, weil ihr Ehrgeiz nicht nur in der neuen Situation keine Erfüllung gefunden hatte, sondern nach der ganzen Art des Ehrgeizes auch nicht finden konnte. Was sie tat, war eigentlich ein Akt der Revolte in der Form der passiven Resistenz, wie wir ihn ähnlich bei jeder Neurose konstatieren können. Sie machte sich unfähig, die ihr obliegenden Arbeiten auszuführen, und zwar dadurch, daß sie statt des Zwanges der Welt, des Lebens, einen selbstgesetzten Zwang aufstellt und mit dieser Präokkupation alle Forderungen der Gesellschaft und des Familienkreises beiseite schiebt. Mit Regelmäßigkeit ist zu konstatieren, daß als größter Feind solcher Patienten eigentlich die Zeit zu betrachten ist. Sie muß die Zeit vertrödeln, denn die Zeit selbst ist eine Forderung an sie in der Form: Wie willst du mich zubringen? Dieser Zeitvertrödelung diente bei der Patientin ein ausgebreitetes System der Korrespondenz mit Geistlichen und Ethikern, dann die Depressionen und erzwungenen Tröstungen der Umgebung. Vor der Forderung, die Pflichten der zweiten Ehe zu erfüllen, war sie zurückgeschreckt, insbesondere, weil sie der Kritik der zweiten Schwiegermutter ausweichen wollte.
Zweiter Fall. Der Patient ist ein außerordentlich wertvoller und ehrgeiziger Mensch. Er hatte schon in der Kindheit eine Unfähigkeit für das Leben empfunden, was ihn von den Kameraden außerordentlich unterschied. Er hatte nie eine Vorstellung über einen zukünftigen Beruf oder über ein zukünftiges Eheleben. Wir dürfen bei der Selbstverständlichkeit solcher Vorstellungen schließen, daß es sich nicht um ein bloßes Fehlen von Gedanken gehandelt haben wird, sondern um den Vorsatz, keinen Beruf auszuüben und keine Ehe zu schließen. Vorsätze, die man bei Kindern oft findet. Patient war wohl außerordentlich ehrgeizig, hatte aber, wie aus dieser Ausweichung hervorgeht, den Glauben an sich verloren.
Er wurde von den Eltern sorgsam erzogen. Der Vater war ein auffällig rechtlicher Mann. Schon in der Kindheit erlitt der Patient einige Unannehmlichkeiten, die seinen Stolz auf seine Moral empfindlich berührten. Er wurde vom Vater auf einer Notlüge ertappt, was ihm sein Leben lang nachgegangen war. Ziemlich früh nach diesem Erlebnis stellten sich Zwangsgedanken in der Form eines heftigen Schuldgefühls ein. Sein Leiden wurde von der ganzen Umgebung peinlich empfunden, und man suchte es zu mildern. Monatelang machte er sich wegen einer falschen Auskunft Selbstvorwürfe, brütete ein Jahr lang über Lappalien, berichtete alles den Eltern, ging dann zu einem seiner Lehrer und beichtete etwa, daß er ihm vor einem Jahr irgend eine unrichtige Angabe gemacht habe.
Er legte dennoch seine Prüfungen ab und absolvierte eine Hochschule. Nun aber, da er ins Leben treten, einem Erwerb nachgehen sollte, brach seine fatale Erkrankung herein und verhinderte ihn daran. Nicht bloß sein Schuldgefühl bestand weiter, sondern es zwang ihn auch, öffentlich niederzuknien und Gebete vor sich her zu sagen. Dabei wiegte er sich scheinbar in der Hoffnung, man werde in ihm einen außergewöhnlich religiösen Menschen sehen, ohne ihn für einen Narren zu halten. Durch diese Annahme gestattete er sich die Prostration.
Die Krankheit schien verschwunden, als man ihm nahelegte, ein anderes Fach zu ergreifen. Kurz vor einem Examen ging er in eine andere Stadt. Dort warf er sich in der Kirche nach längeren Vorbereitungen angesichts einer großen Menschenmenge zu Boden, stieß heftige Anklagen gegen sich aus und bekannte vor dem ganzen Volke seine Schuld. Er wurde interniert, dann vom Vater übernommen.
Nach einer Besserung begann er sein neues Fach zu studieren. Eines Tages war er plötzlich verschwunden. Man fand ihn in einer Irrenanstalt, in die er geflüchtet war, um dort erst seine Heilung abzuwarten. Dorf, von allen Erprobungen enthoben, besserte sich sein Zustand. Die Selbstbeschuldigungsideen traten immer mehr zurück, waren eigentlich ganz belangloser Natur, schlössen wohl noch immer mit dem Imperativ niederzuknien und zu beten; er war aber imstande, Widerstand zu leisten. Der Arzt riet ihm, nach Hause zu fahren und sich irgendwie zu betätigen.
An demselben Tage erschien er plötzlich splitternackt im gemeinsamen Speisezimmer. Er war ein auffallend hübscher, schön gebauter Mensch.
Nach längerer Zeit verließ er die Anstalt in gebessertem Zustande und setzte seine Studien fort. Jedesmal aber, sobald er vor irgendeiner selbstgestellten oder ihm vorgelegten Aufgabe stand, flüchtete er in die Irrenanstalt, um dort längere Zeit zu verweilen. Er galt als guter Kenner in seinem Fache, war also kein passiver Mensch, sondern ziemlich weit den anderen voraus. Er selbst aber stand ganz unter dem Eindruck seiner Unfähigkeit. Das höchste Ziel seines Ehrgeizes war, mehr zu sein als die anderen, vor allem mehr als der ältere Bruder. Sein Leiden gestattete ihm, sich einigermaßen befriedigt zu fühlen, weil er so ungemein viel in der Reserve hatte. Er konnte immer durchdrungen sein von dem Gedanken, was er alles geleistet hätte, wenn nicht diese fatale Neurose über ihn hereingebrochen wäre, die ihm so viel Zeit gekostet, ihm so viel Mühe und Kummer gemacht habe. Folglich: verlockte ihn sein zitternder Ehrgeiz in die rettende Krankheit, wie bei anderen in ähnlicher Lage ein Narkotikum gesucht wird, etwa im Alkoholismus oder Morphinismus, gelegentlich auch in der Politik. Seine Neurose wurde ihm in seiner Entmutigung zum Balsam für den gekränkten Ehrgeiz.
Es ist unmöglich, rein intellektuell ein solches Leben aufzubauen. Er verwendete alle seine Fähigkeiten und Gefühle zum Arrangement des Leidens.
Seinen engeren Kreis nur wollte er jetzt mehr überragen. Dies läßt sich auch aus dem wohlverstandenen Sinn seines Zwangsgedankens entnehmen. »Ich bin ja besser als die anderen, ich fühle mich bereits da als schuldig, wo die anderen nichts Besonderes empfinden können. Ich bin frömmer, tugendhafter, gewissenhafter als alle änderen zusammen, meinen Vater mitinbegriffen.«
So wollte er im beschränkten Kreise der erste sein, nicht in der Gesellschaft, nicht auf der nützlichen Seite des Lebens, nicht mit dem Aufgebot seiner ganzen Kraft. Es genügte ihm sein eigenes Vorurteil und der Schein der Überlegenheit. Er war Herr seiner Entschlüsse und konnte von den Forderungen der Gemeinschaft jene erfüllen, die ihm zusagten. Andere, die er fürchtete, schaltete er durch seine Zwangsneurose aus und war von der Kooperation, die er fürchtete, befreit.
Die Tendenz zur Überlegenheit findet sich bei allen Neurosen. Sie ist auch das treibende Element bei der Zwangsneurose. Man wird es in keinem Falle vermissen. Doch eignet sich das Symptom der Zwangserscheinung nur für solche zur Neurose disponierte Menschen, deren Lebenslinie näher an die Forderungen der Gemeinschaft hinanreicht. Der Ausbruch der Zwangsneurose verhindert dann wie eine Revolte die völlige Hingabe an diese Forderungen.
• Zusammenfassung →
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1) Eine weitere Probe: Man suche eine Voraussetzung, unter der das Gebaren des Patienten verständlich wäre. Ist diese Voraussetzung stichhaltig, dann wird man immer finden, daß auch der Patient von ihr ausgeht, ohne ihre Bedeutung zu begreifen. Oder man frage: »Was würden Sie beginnen, wenn ich Sie in kurzer Zeit heilen würde«, und hat dann fast immer das Problem in der Hand, das den Patienten zwingt, auszuweichen.