[Die Zwangsneurose]
Zusammenfassung
In einer Stimmung von ängstlicher, peinlicher, quälender Natur taucht als »imperative Eingebung« die Zwangsidee, das Zwangssprechen, die Zwangshandlung auf. Die Häufigkeit dieser Neurose ist bekannt, ist aber größer, als derzeit angenommen wird, wenn der nervöse Zwang als Symptomenbild der Neurose verstanden wird und nicht durch einen ungerechtfertigten Einteilungsmodus verkürzt erscheint. Als Beitrag aus der schönen Literatur kann die biographische Schilderung aus dem Leben des in Melancholie verstorbenen, verschollenen Romantikers Sonnenberg gelten, fener Vischers Auch einer und die Figur »Schmelzles« von ]ean Paul. Enuresis, Stottern, Zwangshungern und sexuelle Perversionen gehören unbedingt in diese Gruppe.
Die allgemeine Behauptung der Autoren, daß das wesentliche Merkmal der Zwangsneurose in der Empfindung des Unsinnigen, aber Unabwendbaren beim Patienten bestehe, trifft gelegentlich nicht zu. Zuweilen betont der Patient entgegen seiner sonstigen Haltung das Zweckmäßige und seiner Natur Entsprechende im Zwang. Die Bedeutung dieser Betonung von der Unsinnigkeit des Phänomens liegt aber nicht dort, wo die Autoren sie suchen, im Beweis von der uneingeschränkten Intelligenz des Patienten, sondern in der dadurch erworbenen Krankheitslegitimation, in der Unterstreichung des trotz aller Mühe Unentrinnbaren und in der Feststellung einer großen Qual und einer Mehrbelastung, die zu einer teilweisen oder völligen Enthebung von den allgemeinen Pflichten den Grund abgeben muß.
Die Grenzen zum neurasthenischen, hysterischen und angstneurotischen Symptomenkomplex sind oft verschwommen; Alkoholismus, Morphinismus usw. sind nahe verwandt, impulsives Irresein, Triebhandlungen, zwangsmäßige Selbstbeschuldigungen, gewisse Stereotypien und Verstimmungen psychotischer Natur zeigen eine ähnliche psychologische Struktur. Erscheinungen des normalen Seelenlebens leiten uns zum brauchbaren Untergrund des Zwangsphänomens, gewisse Formen von Gewohnheiten, übertriebenen Prinzipien, Mißbrauch der Wahrheit und der Moral sind psychologisch von ähnlicher Struktur. Eng ist der Zusammenhang mit der Stimmungslage des Zweifels, der gleichfalls das Vorwärtsschreiten hindert und ein verkapptes Nein! gegenüber vorliegenden Forderungen bedeutet. Die richtige Definition jeder Neurose lautet: »Ja-aber!«
Die individualpsychologische Klarstellung eines Falles von Zwangsneurose ergibt die unbewußte Absicht des Patienten, sich durch den krankhaften Zwang vom Zwang der Kooperation und der gesellschaftlich notwendigen Forderungen zu entlasten oder zu befreien, einen sekundären Kriegsschauplatz zu errichten, um dem Hauptkampfplatz des Lebens entweichen zu können und die Zeit zu vertrödeln, die ihn sonst zur Erfüllung seiner individuellen Aufgaben ziehen würde.
Als einzig entscheidende Probe auf die Richtigkeit der psychologischen Klarstellung des Falles kann nur gelten, wenn es sich erweist, daß der Patient auch mit anderen Mitteln als mit dem der Zwangsneurose, also ganz abgesehen von seinen krankhaften Erscheinungen, unter Vorwänden, Ausflüchten, Ausreden und unter scheinbar guten Gründen den Forderungen seines Lebens zu entfliehen trachtet oder zum mindesten die Verantwortung für die Entscheidungen über seine Leistungen zu mildern versucht.
Die Behandlung besteht in dieser Aufklärung des Sachverhaltes, in der Beseitigung von irrtümlichen Anschauungen aus der Kindheit, in einer offenen Wundbehandlung des übertriebenen Ehrgeizes, der Eigenliebe und der überängstlichen Tendenz des Patienten, sich zu isolieren. Der technische Apparat der Zwangsneurose muß erkannt, klargestellt und durch Demaskierung aufgehoben werden. Dazu hilft in erster Linie die Kooperation mit dem Arzt.
Diese Kooperation ist selbstverständlich als Training zu verstehen. Neuerer Zeit gehen einige Autoren daran, oberflächliche Ähnlichkeiten, mehr im Worte liegend als in der Sache, speziell Ähnlichkeiten mit motorischem, organisch bedingtem Verhalten bei postenzephalitischen Erscheinungen (Iteration, Blickzwang, Wiederholungszwang usw.), den sogenannten »Striären Komplex« mit der Zwangsneurose in Verbindung zu setzen. Als ob eine organische Grundlage maßgebend wäre und die Neurosenwahl bedingen würde. Eine solche Auffassung ist als entschiedener Rückschritt anzusehen und zeugt von dem Mangel an psychologischem Verständnis der Zwangsneurose. Das »Verharren in einer einmal eingenommenen Einstellung« (Goldstein) hat bei der Postenzephalitis eine ganz andere Bedeutung als in der Zwangsneurose, in der Neurose überhaupt und wohl im Leben jedes Individuums. Öde Vergleiche beider Erscheinungen, von denen bei Goldstein nichts, bei späteren Autoren manches zu finden ist, führen zu Scheinproblemen. Die neurotische Zwangsbewegung ist aktives Arrangement des Lebensfeigen, bei dem er beharren muß, weil er in intelligenter, wenn auch irrtümlicher Weise alles andere fürchtet. Die von den Autoren angeführten Fälle sind viel durchsichtiger, als die Autoren meinen.