Alfred Adler

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Praxis und Theorie der Individualpsychologie

 

Vorträge.

Zur Einführung in die Psychotherapie für Ärzte, Psychologen und Lehrer

 

 

 

(1920)

 

 





Vorwort zur ersten Auflage


Die individualpsychologische Forschung erstrebt eine Vertiefung der Menschenkenntnis, die nur zu holen ist aus dem Verständnis der Stellung des Individuums zu seiner sozial bestimmten Aufgabe. Nur die Bewegungslinie, in der sich die soziale Aktivität einer Persönlichkeit darstellen und empfinden läßt, gibt uns Aufschluß über den Grad der Verschmelzung eines Menschen mit den Forderungen des Lebens, der Mitmenschen, des Weltalls. Sie gibt uns auch Aufschluß über den Charakter, über den Elan, über sein körperlich-geistiges Wollen. Sie läßt sich zurückverfolgen bis zu ihren Ursprüngen in der Zeit der Ichfindung und zeigt uns dort, in der frühesten Position des Menschenkindes, die ersten Widerstände der Außenwelt und die Form und Kraft des Wollens und der Versuche, sie zu überwinden. In diesen frühesten Kindheitstagen schafft sich das Kind irrend und unverständig seine Schablone, sein Ziel und Vorbild und den Lebensplan, dem es wissend-unwissend folgt. Vorbildlich werden ihm dabei alle Erfolgsmöglichkeiten und die Beispiele anderer Überwinder. Den Rahmen gibt ihm die umgebende Kultur.

Über dieser tiefsten Bewegungslinie des Individuums, von der das Menschenkind manches weiß, deren grundlegende Bedeutung es immer verkennt, baut sich die ganze seelische Struktur auf. Alles Wollen, der ganze Kreis der Gedanken, des Interesses, Assoziationsverlauf, Hoffnungen, Erwartungen und Befürchtungen laufen im Geleise dieser Dynamik. Aus ihr und zu ihrem Schutze stammen Weltanschauung, Antrieb oder Bremsvorrichtungen, und jedes Erlebnis wird so weit gedreht und gewendet, bis es zugunsten des eigentlichen Persönlichkeitskernes, jener kindlichen Bewegungslinie, seinen Nutzeffekt abgegeben hat.

Unsere Individualpsychologie hat aber auch den Nachweis erbracht, daß die Bewegungslinie des menschlichen Strebens zunächst einer Mischung von Gemeinschaftsgefühl und Streben nach persönlicher Überlegenheit entspringt. Beide Grundfaktoren zeigen sich als soziale Gebilde, die erste als angeboren, die menschliche Gemeinschaft festigend, der zweite als anerzogen, als naheliegende allgemeine Verführung, die unablässig die Gemeinschaft zum eigenen Prestige auszubeuten trachtet.

Es war nicht allzu schwierig, die Prestigepolitik des Einzelindividuums den Psychologen, Pädagogen und Neurologen klarzulegen. Daß sich Prestigewissenschaft dem Einflüsse unserer Individualpsychologie zu entwinden trachtet, daß sie mit Finten und auf Umwegen unsere Aufdeckungen nicht bekämpft, sondern übernimmt, ist mir und meinen Schülern keine sonderliche Überraschung. Vor der einen Tatsache, daß sie immer unseren Aufdeckungen des Machtrausches nachhinkt, sie niemals überflügelt, verblaßt ihr eigener Dünkel und ihre Großsprecherei.

Schwieriger dürfte es uns fallen, den allgemeinen Beitrag des Gemeinschaftsgefühls klarzumachen. Denn hier stoßen wir gegen das Gewissen des einzelnen. Viel leichter verträgt er den Nachweis, daß er wie alle andern nach Glanz und Überlegenheit strebt, als die unsterbliche Wahrheit, auch ihn umschlinge das Band der menschlichen Zusammengehörigkeit, und er verschleiere es listig vor sich und den andern. Seine Körperlichkeit verweist ihn auf den Zusammenschluß, Sprache, Moral, Ästhetik und Vernunft zielen auf Allgemeingültigkeit, setzen sie voraus, Liebe, Arbeit, Mitmenschlichkeit sind die realen Forderungen des menschlichen Zusammenlebens. Gegen diese unzerstörbaren Wirklichkeiten stürmt und tobt das Streben nach persönlicher Macht oder sucht sie listig zu umschleichen. In diesem unablässigen Kampf aber zeigt sich die Anerkennung des Gemeinschaftsgefühls.

Das Wissen der Menschen um die Beweggründe ihrer Handlungen, das allgemeine Verständnis von den seelischen Erscheinungen bei Gesunden und Nervösen, die immer anderes bedeuten können, als sie oberflächlich zum Ausdruck bringen, ist unzulänglich, solange die formale Gestaltung und die Dynamik ihrer Leitlinie verborgen bleibt. Was Führer der Menschheit als das Wirken Gottes, des Schicksals, der Idee, der ökonomischen Grundlage erfaßt hatten, zeigt uns die Individualpsychologie als die machtlüsterne Ausgestaltung eines formalen Gesetzes: der immanenten Logik des menschlichen Zusammenlebens.

Der vorliegende Band enthält Vorarbeiten, Erweiterungen und Forschungen der Theorie und Praxis der Individualpsychologie und hat die Aufgabe, durch eine Reihe von älteren und neuen Arbeiten den Weg zu unserer Wissenschaft zu weisen. In diesem Sinne ist er auch ein Begleiter des früher erschienenen Werkes Über den nervösen Charakter.

 

Prigglitz, im August 1920

 




Vorwort zur vierten Auflage


Ich habe durch Ergänzungen, Klarstellungen und Erweiterungen getrachtet, dieses Buch auf die gegenwärtige Höhe der Entwicklung der Individualpsychologie zubringen.

 

Dr. Alfred Adler

Visiting Professor der Columbia University, New York

 

New York, im März 1930

 


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