Alfred Adler
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Über den nervösen Charakter
Grundzüge einer vergleichenden Individual-Psychologie und Psychotherapie
(1912)
Vorwort zur ersten Auflage
Nachdem ich in der »Studie über Minderwertigkeit von Organen« (1907) den Versuch gemacht hatte, den Aufbau und die Tektonik der Organe im Zusammenhang mit ihrer genetischen Grundlage, mit ihrer Leistungsfähigkeit und ihrem Schicksal zu betrachten, ging ich — gleichermaßen gestützt auf vorliegende Befunde wie auf meine eigenen Erfahrungen, daran, dieselbe Methode der Betrachtung in der Pathopsychologie durchzuführen. In der vorliegenden Arbeit sind die hauptsächlichsten Ergebnisse meiner vergleichenden, individualpsychologischen Studien über die Neurosen niedergelegt.
Wie in der Organminderwertigkeitslehre ist in der vergleichenden Individualpsychologie die empirische Grundlage dazu benützt, ein fiktives Maß der Norm aufzustellen, um Grade der Abweichung daran messen und vergleichen zu können. In beiden Wissensgebieten rechnet die vergleichende Forschung mit der Herkunft des Phänomens, mißt daran die Gegenwart und sucht die Linie der Zukunft aus ihnen abzuleiten. Diese Betrachtungsweise führt uns dahin, den Zwang der Entwicklung und die pathologische Ausgestaltung als das Ergebnis eines Kampfes anzusehen, der im Gebiet des Organischen um die Gleichgewichtserhaltung, um Leistungsfähigkeit und Domestikation entbrennt; die gleiche Kampfbereitschaft in der Psyche steht unter der Leitung einer fiktiven Persönlichkeitsidee, deren Wirksamkeit bis zum Aufbau des nervösen Charakters und der nervösen Symptome reicht. Wird so im Organischen »das Individuum eine einheitliche Gemeinschaft, in der alle Teile zu einem gleichartigen Zweck zusammenwirken« (Virchow) — bauen sich die mannigfachen Fähigkeiten und Regungen des Organismus zu einer planvoll gerichteten, einheitlichen Persönlichkeit aus, dann können wir jede einzelne Lebenserscheinung derart erfassen, als ob in ihr Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft samt einer übergeordneten, leitenden Idee in Spuren vorhanden wären.
Auf diesem Wege hat sich dem Autor dieses Buch ergeben, daß jeder kleinste Zug des Seelenlebens von einer planvollen Dynamik durchflössen ist. Die vergleichende Individualpsychologie erblickt in jedem psychischen Geschehen den Abdruck, sozusagen ein Symbol des einheitlich gerichteten Lebensplanes, der in der Psychologie der Neurosen und Psychosen nur deutlicher zutage tritt.
Die Ergebnisse einer derartigen Untersuchung am neurotischen Charakter sollen Zeugnis ablegen für Wert und Anwendbarkeit unserer Methode der vergleichenden Individualpsychologie bezüglich der Probleme des Seelenlebens.
Wien, im Februar des Jahres 1912
Dr. Alfred Adler
Vorwort zur zweiten Auflage
Die philosophische Gesamtanschauung von der menschlichen Seele, mit der ich den nervösen Charakter durchleuchtete, ist für mich und einen großen Kreis von Bekennern Weltanschauung und Menschenkenntnis geworden, der gegenüber jede andere Betrachtung des seelischen Geschehens unrichtig oder lückenhaft erscheint.
Zwischen den beiden Auflagen dieses Buches liegt der Weltkrieg mit seinen Fortsetzungen, liegt die furchtbarste Massenneurose, zu der sich unsere neurotisch-kranke Kultur, zerfressen von ihrem Machtstreben und ihrer Prestigepolitik, entschlossen hat. Der entsetzliche Gang der Zeitereignisse bestätigt schaurig die schlichten Gedankengänge dieses Buches.
Und er entschleiert sich als das dämonische Werk der allgemein entfesselten Herrschsucht, die das unsterbliche Gemeinschaftsgefühl der Menschheit drosselt oder listig mißbraucht.
Unsere Individualpsychologie ist weit über den toten Punkt beschreibender Seelenkunde hinaus. In unserem Sinne einen Menschen schauen und erkennen heißt: ihn den Verirrungen seines wunden, aufgepeitschten, aber ohnmächtigen Gottähnlichkeitsstrebens entreißen und der unerschütterlichen Logik des menschlichen Zusammenlebens geneigt machen, dem Gemeinschaftsgefühl.
Der Ausbau meiner Lehre hat einige Klarstellungen und Ergänzungen im vorliegenden Bande nötig gemacht. Aus dem gleichen Grunde soll in kurzer Zeit ein zweiter Band 1) erscheinen, der außer wichtigen Vorarbeiten einige notwendige Ergänzungen und neue Arbeiten enthalten wird.
Ein Rückblick auf die Entwicklung meiner Individualpsychologie ergibt den ununterbrochenen Ausbau einer Seelenforschung auf drei ineinandergreifenden Ebenen: dem kindlichen Minderwertigkeitsgefühl entsprießt ein gereiztes Streben nach Macht, das an den Forderungen der Gemeinschaft und an den Mahnungen des physiologisch und sozial begründeten Gemeinschaftsgefühls seine Schranken findet und in die Irre geht. Dem oft sinnlosen Geschwätz von Freibeutern und Geschichtenschreibern ist vielleicht durch diesen leicht faßlichen Hinweis eine hilfreiche Hand geboten.
Der ernste Leser wird, hoffe ich, mit mir bis zu dem Aussichtspunkt gelangen, der uns ermöglicht, jede Menschenseele im einheitlichen Fortschreiten nach einem Ziel der Überlegenheit zu erblicken, so daß Bewegungen, Charakterzüge und Symptome unweigerlich über sich hinausweisen. Die gewonnenen Erkenntnisse werden ihn dann freilich mit einer Lebensaufgabe belasten: voranzugehen hei dem Abbau des Strebens nach persönlicher Macht und bei der Erziehung zur Gemeinschaft.
Wien, im Mai 1919
Dr. Alfred Adler
Vorwort zur dritten Auflage
Es ist vielleicht nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, daß unsere individualpsychologischen Anschauungen, die in diesem Buche zum ersten Male auseinandergesetzt wurden, eine zwangsläufige Gebundenheit an ein organisches Substrat ablehnen.
Unsere Feststellungen lassen vielmehr erkennen, daß die seelische Entwicklung eines Menschen und deren Fehlschläge, auch die Neurosen und Psychosen, aus seiner Stellungnahme zur absoluten Logik des menschlichen Zusammenlebens stammen. Der Grad seiner Verfehlung — die mangelhafte Verwachsenheit mit den kosmischen und sozialen Erfordernissen — liegen allen seelischen Störungen zugrunde und bedingen ihr Ausmaß. Der Nervöse lebt und müht sich ab für eine Welt, die nicht die unsere ist. Sein Widerspruch gegen die absolute Wahrheit ist größer als der unsere.
Zu diesem Widerspruch gelangt er weder durch eine zellulare Struktur seines Gehirnes noch durch humorale Einflüsse, sondern durch ein in einer schwierigen Position der Kindheit erworbenes Minderwertigkeitsgefühl. Von da an beeinflußt die größere Neigung für allseits bereitliegende Irrtümer dauernd die seelische Entwicklung. Wir leugnen die organische Disposition zur Neurose, aber wir haben deutlicher wie alle anderen Autoren den Beitrag der Organminderwertigkeit zur Schaffung einer seelischen Position, die Vorschubleistung körperlicher Schwäche zur Herstellung eines Minderwertigkeitsgefühls nachgewiesen.
Unsere Individualpsychologie lehrt das menschliche Seelenleben als versuchte Stellungnahme zu den Forderungen des sozialen Lebens begreifen. Die Stellungnahme in der Neurose und Psychose ist stark in die Irre gegangen. Die Annahme einer besonderen Form angeborener Sexuallibido als eines zwingenden oder gar ausschließlichen Faktors der seelischen Entwicklung finden wir nirgends bestätigt, die »Erhaltung der psychischen Energie« erscheint uns als ein frommer Wunsch der Autoren, dem wir uns gerne anschließen.
Die kritische Stellungnahme zu den Anschauungen Freuds und Kretschmers, die in dieser Auflage schärfer zum Ausdruck kommt, erklärt sich aus der großen Bedeutung dieser Autoren für die Entwicklung der Neurosenpsychologie. Soweit ich es vermochte, versuchte ich auch allen anderen Autoren, die Selbständiges schufen, gerecht zu werden.
Die Verpflichtung zur Offenheit bedrängt mich anläßlich der Herausgabe der III. Auflage dieses Buches in quälendster Weise. So will ich denn ein Geständnis machen, das mir sicherlich dauernd die Zuneigung meiner Leser rauben wird. Nach einem eingehenden ablehnenden Gutachten über vorliegendes Buch wurde meine Bewerbung um Habilitierung an der Universität vom Wiener Professorenkollegium abgelehnt.
Durch diesen Ratschluß war ich bisher verhindert, öffentliche Vorlesungen für Studenten und Ärzte abzuhalten. Der Wissende versteht, wie schwierig die heute doch gelungene Verbreitung meiner Anschauungen geworden ist. Vielleicht hat da der folgende Umstand ein wenig mitgeholfen:
Die Anschauungen unserer Individualpsychologie verlangen den bedingungslosen Abbau des Machtstrebens und die Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls. Ihre Losung ist der Mitmensch, die mitmenschliche Stellungnahme zu den immanenten Forderungen der menschlichen Gesellschaft.
Vielleicht gibt es ehrwürdigere Lehren einer älteren Schulwissenschaft. Vielleicht neuere ausgeklügeltere. Sicherlich aber keine, die der Allgemeinheit größeren Nutzen brächten.
Wien, im März 1922
Dr. Alfred Adler
Vorwort zur vierten Auflage
Ich will in diese Auflage die Keime neuer psychologischer Entwicklungen streuen. Dem Kenner werden sie nicht entgehen. Die andern sollen vorbereitet sein für die Leistungen der Individualpsychologie, die sie an andern Orten finden werden.
Was uns Individualpsychologen jene Sicherheit in der theoretischen Entwicklung unserer Anschauungen und in unserer Praxis gibt, ist unter anderem ein wenig vermerkter Tatbestand: jeder Schritt nach vorwärts hat sich folgerichtig aus unseren Grundanschauungen ergeben. Es war bisher nicht nötig geworden, irgend etwas an unserem Gebäude zu ändern, oder dieses zu stützen mit Anschauungen anderer Art.
Wien, Im Dezember 1927
Dr. Alfred Adler
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1) A. Adler, Praxis und Theorie der Individualpsychologie. 3. Aufl. München 1927. Ders., Menschenkenntnis. Leipzig 1926. .