§ 15. Die Methode der Naturwissenschaft

 

Die Naturwissenschaft stützt sich, wie die übrigen Wissenschaften überhaupt, nur auf die Erfahrung; ihr Glück und Gedeihen hängt daher von dem der Erfahrung ab. Deswegen ist es notwendig, daß an die Stelle der bisherigen Weise der Erfahrung eine andere und vernünftigere Weise trete. Bisher schweiften nämlich die Menschen im Gebiete der Erfahrung nur flüchtig herum, ohne einen bestimmten Weg und Plan zu verfolgen. So hat z.B. der Fleiß der Chemiker manche Entdeckungen gemacht, aber gleichsam nur zufällig und unabsichtlich oder nur durch gewisse Veränderungen der Experimente, nicht in Folge einer bestimmten Methode oder Theorie. Eine Erfahrung aber, die durch keine bestimmte Methode geleitet wird und nur sich selbst überlassen ist, ist nur ein blindes Herumtappen. (l. c., A. 73, 70, 108, 82)

Der Sinn nämlich ebensowohl als der Verstand sind für sich allein nicht hinreichend zur Erfahrung und Erkenntnis; sie bedürfen bestimmter Hülfsmittel, d. i. einer bestimmten Aufsicht und leitender Regeln, einer bestimmten gesetzmäßigen Anweisung und Methode. Denn der Sinn für sich selbst ist schwach und täuscht, selbst Werkzeuge erhöhen nicht um einen bedeutenden Grad seine Kraft, daher alle wahre Erfahrungserkenntnis der Natur, die keine willkürliche Deutung der Natur nach vorausgesetzten Meinungen (keine anticipatio), sondern eine getreue Übersetzung (interpretatio) der Natur ist, nur durch eine genaue, spezielle Beachtung aller Instanzen und die Anwendung geschickter Experimente, wo der Sinn bloß über das Experiment, das Experiment aber über die Sache selbst urteilt, zustande kommt. Der Verstand aber, wenn er sich selbst nur überlassen ist, nicht unter der Leitung einer bestimmten Methode steht, fliegt unmittelbar vom Sinnlichen zum Übersinnlichen, vom Besondern zum Allgemeinen empor, um sich daran zu laben und zu begnügen, indem er bald der Erfahrung überdrüssig wird. (l. c., A. 50, 37›19,20)

Wie die bloße Hand ohne Instrumente wenig ausrichtet, so auch der sich selbst überlassene Verstand; er bedarf daher wie sie Instrumente. Nur durch die Kunst wird der Geist den Dingen gewachsen. (l. c., A. 2; »De Augm. Sc.«, V. 2)

Dieses Instrument der Instrumente, dieses geistige Organ, diese Methode, die allein die Erfahrung zu einer sichern und erfolgreichen Experimentierkunst erhebt, ist die Induktion38), von der daher allein das Heil der Wissenschaften abhängt.

Die Induktion aber, die allein den Wissenschaften eine glückliche Zukunft verbürgt, ist wohl zu unterscheiden von der bisher üblichen Induktion, denn diese eilt im Fluge von dem Sinnlichen und Besondern hinauf zu den allgemeinsten Axiomen, stellt sie sogleich als unerschütterlich wahre Sätze auf und macht sie dann zu den Prinzipien, aus denen sie die mittleren oder besonderen Sätze ableitet; die neue, bisher noch unversuchte, aber allein wahre Induktion dagegen kommt erst ganz zuletzt zu den allgemeinern Sätzen, steigt vom Sinnlichen und Besondern nur nach und nach, in einem ununterbrochenen Stufengange zu ihnen hinauf. (»N. O.«, I, A. 19)

Die Induktion, die übrigens nicht bloß die Methode der Naturwissenschaft, sondern aller Wissenschaft, wurde bisher nur zur Auffindung der Prinzipien angewandt, die mittlern und untern Sätze aber wurden dann aus ihnen vermittelst des Syllogismus abgeleitet. Allein es ist offenbar, daß wenigstens im Gebiete der Naturwissenschaft, deren Gegenstände materiell bestimmt sind, die untern Sätze durch den Syllogismus nicht sicher und richtig abgeleitet werden können denn im Syllogismus werden die Sätze durch Mittelsätze auf die Prinzipien zurückgeführt, aber eben diese Methode des Beweisens oder Erfindens hat nur in den populären Wissenschaften wie Ethik, Politik seine Anwendung. Die Induktion muß daher ebensowohl zur Entdeckung der allgemeinen als der besondern Sätze angewandt werden. (l. c., A. 127; »De Augm. Sc.«, V, c. 2)

Die ältere und neuere Induktion haben zwar das miteinander gemein, daß beide mit dem Besondern anfangen und im Allgemeinen endigen, sie unterscheiden sich aber wesentlich dadurch, daß jene nur in aller Eile das Gebiet der Erfahrung durchstreift, diese aber mit der gehörigen Umsicht und Ruhe in ihm verweilt, jene schon gleich vom Anfang an unfruchtbare allgemeine Sätze aufstellt, diese aber nur stufenweise sich zum wahrhaft Allgemeinen erhebt und so die Wissenschaft fruchtbar macht, denn nur die Axiome, die im gehörigen Stufengange und mit der erforderlichen Umsicht vom Besondern abgezogen werden, entdecken uns wieder Besonderes, führen uns zu neuen Erfindungen und machen so die Wissenschaft fruchtbar und produktiv. (»N. O.«, I, A. 22, 24, 104)

Die wahre Induktion ist also eine ganz andere als die bisher gebräuchliche. Denn die bisherige Induktion, deren Verfahren in einer simplen Aufzählung von Exempeln besteht, ist etwas Kindisches, erbettelt nur ihre Schlüsse, hat von jeder widersprechenden Instanz eine Widerlegung ihrer Schlüsse zu befürchten und richtet sich in ihren Aussprüchen nach viel zu wenigen Fällen, als sich gehört, und selbst unter diesen nur nach solchen, die eben gerade bei der Hand sind, nach den ganz gemeinen und gewöhnlichen Fällen. Die wahre Induktion dagegen zergliedert und trennt die Natur durch gehörige Ausschließungen und Ausscheidungen und schließt auf die affirmativen Bestimmungen einer Sache erst dann, wenn sie eine hinreichende Anzahl verneinender Instanzen gesammelt und untersucht und alle Bestimmungen, die nicht wesentlich zur Sache gehören, von ihr ausgeschlossen hat. (l. c., A. 105, 69; »De Augm. Sc.«, l. c.)

 


 © textlog.de 2004 • 19.11.2024 06:21:32 •
Seite zuletzt aktualisiert: 05.09.2005 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright