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Gottfried Keller war ein großer Briefschreiber. Es lag wohl in seiner schreibenden Hand ein Mitteilungsbedürfnis, das der Mund nicht kannte. »Es ist sehr kalt heute; das Gärtchen vor dem Fenster schlottert vor Kühle; siebenhundertundzweiundsechzig Rosenknospen kriechen beinahe in ihre Zweige zurück.« Solche Verlautbarungen mit ihrem kleinen Bodensatz von Nonsens in der Prosa (den Goethe einmal für den Vers obligat erklärt hat) sind der sinnfälligste Beleg dafür, daß das Schönste und Wesentlichste diesem Schriftsteller mehr noch als andern unter dem Schreiben kam, weswegen er sich qualitativ immer weniger zutraute, als er konnte, quantitativ immer mehr. Im übrigen sind seine Briefe nicht nur räumlich in einer Grenzmark des sprachlichen Bereichs gelegen. Sie stellen in vielen ihrer besten Exemplare ein Mittleres zwischen Brief und Erzählung dar, Gegenstücke der Mischform zwischen Brief und Feuilleton, wie sie gleichzeitig Alexander von Villiers pflegte. Den hingebenden Überschwang des 18. Jahrhunderts, die formvollendete Konfession der Romantik darf man in diesen Briefen nicht suchen. Ein Muster ihrer spröden, verschrullten Art ist der folgende, zudem wohl die ausführlichste Äußerung, die wir vom Schreiber über seine Schwester haben – jene Regula, von der er gesagt hat, daß sie »in puncto alte Jungfer leider auf die unglücklichere Seite dieser Nation zu stehen gekommen« sei. Auch der unfehlbare, nicht ganz unverschworene Blick, den Keller für das Angefaulte, Lumpige besaß, verleugnet sich nicht, wenn er dem Adressaten das Einverständnis der beiden fahrenden Vortragskünstler beschreibt. Und wie so oft beginnt er damit, seine Säumnis zu entschuldigen. »Die Korrespondenzen«, heißt es gelegentlich, »stehen wie Wolken über meinem armen Schreibtisch.« Er selber aber ist ein wolkenschiebender, von langer Hand schweigender, die Schwüle unversehens mit gezackten Spaßen zerreißender, dumpf nachdonnernder Jupiter epistolarius.

Gottfried Keller an Theodor Storm

Zürich, 26. Februar 1879.

Ihr Brief, liebster Freund, so willkommen er mir ist, hat mich doch in ärgerlicher Weise an meiner Saumseligkeit ertappt, mit welcher ich seit Monaten mit einem Brief an Sie laborierte. Der Winter ist mir zum erstenmal fast unerträglich geworden und hat fast alle Schreiberei lahmgelegt. Immer grau und lichtlos, dabei ungewöhnlich kalt und schneereich, nach vorangegangenem Regenjahr, hat er mir fast täglich namentlich die Morgenstunden vereitelt. Ein einziges Mal hatte ich neulich ein Frühvergnügen, als ich eines Kaminfegers wegen um vier Uhr aufstehen mußte, der den Ofen zu reinigen hatte. Da sah ich das ganze Alpengebirge im Süden, auf acht bis zwölf Meilen Entfernung, im hellen Mondschein liegen, wie einen Traum, durch die vom Föhnwinde verdünnte Luft. Am Tage war natürlich alles wieder Nebel und Düsternis.
Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrem Landkaufe und Baumpflanzen; wer die Mutter noch hat, darf wohl noch Bäume setzen. Sie sind aber ja ein Hexenmeister von Fleiß, wenn wir drei neue Arbeiten zu gewärtigen haben; sie sollen und werden Ihrem guten Namen nichts schaden, da Sie ja das Vermögen nicht besitzen, absichtlich unter sich selbst herabzusteigen, wie gewisse Industrielle, und unabsichtlich hat es doch auch seine Mucken.
Den koketten Rhapsoden Jordan hab ich vor Jahren hier auch gehört, und zwar in den gleichen Kapiteln; gar wunderbar war es, das kränkliche Knäblein der Brunhild (welch modernes Romanmotiv!) zu Siegfried sagen zu hören: »Du bist lieber als Papa.« Jordan ist gewiß ein großes Talent; aber es braucht eine hirschlederne Seele, das alte und einzige Nibelungenlied für abgeschafft zu erklären, um seinen modernen Wechselbalg an dessen Stelle zu schieben. Jenes Nibelungenlied wird mir auch mit jedem Jahr lieber und ehrfurchtgebietender, und ich finde in allen Teilen immer mehr bewußte Vollkommenheit und Größe. Als man nach der besagten Vorlesung in Zürich aus dem Saale ging, hatte sich der Rhapsode unter der Türe aufgestellt, und jeder mußte an ihm vorbeigehen. Vor mir her ging Kinkel, auch ein Vortragsvirtuose und »schöner Mann«, und nun sah ich, wie die beiden sich kurz zunickten und lächelten in einer Weise, wie nur zwei Frauen sich zulächeln können. Ich wunderte mich, wie zwei so lange Kerle und geriebene Luder sich gegenseitig so schofel behandeln mögen. Wahrscheinlich verdirbt das reisende Deklamierwesen etwas die Poeten.
Petersen ist ja eine fürsorgliche edle Seele; wenn es auf ihn ankäme, so ließe er uns den Verlegern schön mitspielen, daß ihnen Hören und Sehen verginge. Indessen schenken wollen wir den Herren gerade auch nichts. Da wir an Geldsachen sind, so will ich gleich noch einen wichtigen Punkt zur Sprache bringen. Sie haben nämlich schon einige Male Ihre Briefe mit Zehn-Pfennig-Marken frankiert, während es nach außerhalb des Reiches zwanzig sein müssen. Nun habe ich eine Schwester und säuerliche alte Jungfer bei mir, die jedesmal, wenn sie das Strafporto von vierzig Pfennigen in das Körbchen legt, das sie dem Briefträger an einer Schnur vom Fenster des dritten Stockes hinunterläßt, das Zetergeschrei erhebt: »Da hat wieder einer nicht genug frankiert!« Der Briefträger, dem das Spaß macht, zetert unten im Garten ebenfalls und schon von weitem: »Jungfer Keller, es hat wieder einer nicht frankiert!« Dann wälzt sich das Spektakel in mein Zimmer: »Wer ist denn da wieder?« (An Ihren Beraubungen haben Sie nämlich Konkurrenz in den österreichischen Backfischen, die an alle Dichter der letzten jeweiligen Weihnachtsanthologie um Autographen schreiben, sofern der Wohnort des betreffenden Klassikers aus dem Buche ersichtlich ist.) »Den nächsten Brief dieser Art«, schreit die Schwester fort, »wird man sicherlich nicht mehr annehmen!« – »Du wirst nicht des Teufels sein!« schrei ich entgegen. Dann sucht sie die Brille, um Adresse und Poststempel zu studieren, verfällt aber, da sie meine offenstehende warme Ofenröhre bemerkt, darauf, die Erbssuppe von gestern zu holen und in die Wärme zu stellen, so daß ich den schönsten Küchengeruch in mein Studierzimmer bekäme, was sonderlich für den Fall eines Besuches angenehm ist. »Raus mit der Suppe!« heißt's jetzt, »und stell sie in deinen Ofen!« »Dort steht schon ein Topf, mehr hat nicht Platz, weil der Boden abschüssig ist!« Neuer Wortkampf über die Renovation des Bodens, endlich aber segelt die Suppe ab, und die Portofrage ist darüber für einmal wieder vergessen; denn mit der Suppe hat Angriff und Verteidigung, Sieg und Niederlage gewechselt.
Haben Sie also die Güte, der Quelle dieser Kriegsläufte nachzugehen und sie zu verstopfen. Machen Sie es aber nicht wie Paul Lindau, der mir seinerzeit nach einer Reihe von halbfrankierten Mahnbriefen um irgend einen Geschäftsartikel schnöd bemerkte, so was könne bei ihm gar nicht vorkommen; höchstens könne es sich um ein einmaliges Versehen seines Sekretärs handeln, er bitte deshalb um Nachsicht wegen des unliebsamen Vorfalls usw. Da hatt' ich von diesem Humoristen mein Teil weg!
Ich danke für Ihre Jahreswünsche gar herzlich und hoffe, daß ich in der Tat einen Ruck vorwärts tue mit meinen Lebensrestanzen; denn der Handel fängt doch an, unsicher zu werden, und ein Altersgenosse nach dem andern wird kampfunfähig oder segelt gar von dannen. Ihnen wünsche ich gleichfalls das Beste, vor allem Beruhigung wegen des mysteriösen Übels, von dem Sie mir schrieben, und an das wir vorderhand nicht glauben wollen.

Ihr G.Keller