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Es gibt wenige deutsche Prosaiker, deren Kunst so ungebrochen in die Briefstellerei eingeht wie die von Görres. Wie die Meisterschaft eines Handwerkers, der seine Werkstatt neben der Wohnstube hatte, niemals im Werk allein, sondern gleichzeitig im privaten Lebensraume des Mannes und seiner Familie sich ausprägte, so ist es bei Görres mit der Schreibkunst der Fall. Wenn die frühromantische Ironie Friedrich Schlegels – siehe die »Lucinde« – esoterischer Art und bestimmt ist, eine kühle Aura um das reine, sich selbst genügsame »Werk« zu legen, schlägt die spätromantische eines Görres die Brücke zum Biedermeier. Die Ironie beginnt, sich von der Artistik zu lösen, um sich der Innigkeit und Schlichtheit zu verbinden. Dem Geschlecht, welchem Görres angehörte, ging die Reminiszenz der gotischen Bürgerstube mit ihren Knospentürmchen und Bogengängen an Stuhl und Truhe wirklich tief in den Alltag ein, und wenn sie uns in den Gemälden der Nazarener bisweilen gekünstelt und kalt erscheint, so gewinnt sie desto mehr Wärme und Kraft in den intimeren Bereichen. Der folgende Brief spiegelt sehr schön den Übergang der idealisch ausgespannten Romantik ins beschauliche Biedermeier.

Joseph Görres an den Stadtpfarrer Aloys Vock in Aarau

Straßburg, 26. Juni 1822.

Ich muß wieder einmal mein Antlitz gegen das Aartal wenden und sehen, was meine freien Bündler über dem Jura machen. Ich setze daher sofort gleich den linken Fuß an den alten Salzturm bei Basel, dann gar nicht weit ausnehmend den rechten, unsern guten Bricktalern damit über die Nase fahrend, oben auf den Sattel an der Scharte und sehe nun hinunter und finde gleich die hölzerne Brücke, auf der man am hellen Tage nicht sieht, an die man unter drei Franken Strafe, die Hälfte für den Angeber, sein Wasser nicht abschlagen darf, natürlich um das schöne grüne Bergwasser unten nicht zu verderben, sehe links die alte Zwingburg, deren Mauern die tapferen Aarauer zwölften Geschlechts abwärts überschritten, dahinter die Wohnung, wo ehemals Prof. Görres seinen patriotischen Phantasien nachgehangen, endlich ganz links am Ende, um nicht mehr irre zu gehen, im vorvorletzten Hause, meinen liebwertesten Herrn Pfarrer etwas zerstreut auf der Galerie hinten auf und nieder gehen, bisweilen nach der Scharte sehen und seinen Augen nicht recht trauen, ob der Heruntersehende wirklich der Herr Schreibende ist, und ob er aus dem Briefe heraussieht, oder der Brief aus ihm, und ob seine Gedanken auf dem Berge stehen oder der Berg in seinen Gedanken. Das sind nun eben die kuriosen Fälle, wie sie im Leben vorkommen, und wenn der Pfarrer mich wirklich anredet und mich ernsthaft fragt, ob ich denn wirklich der selbige Herr Görres sei, der bekanntermaßen zehn Monat in des Bürgermeisters Haus gewohnt und im Garten auf und ab trottiert, so kann ich mit gutem Gewissen nicht ja sagen, da der leibliche Überrock, den ich vor acht Monaten von da mitgenommen, wirklich ganz abgetragen und zerrissen ist; und doch auch ohne rot zu werden, nicht recht nein, da ich mich wirklich zu erinnern glaube, daß das fragliche Subjekt wirklich da herumspaziert. Da gebe ich ihm denn kurzweg in der Verwirrung die Hand und fühle nun gleich, wie's steht, und daß ich bei alten Freunden und Bekannten bin.
Um nun auf die albernen Reden auch ernsthafte Diskurse zu führen, so will ich Ihnen sagen, wie dieser mein Brief hinter großen Wettern herzieht, die viel Menschen hier das Leben gekostet und ganz nahe auch meine Frau und Sophie auf dem Wasser getroffen hätten. Das sind furchtbare Stürme in diesem Jahre, die sich über die Gebirge nach Norden hin verirrt. Marie meint, Sie würden nun seit vier Wochen auch kein Feuer mehr im Ofen haben, obgleich immer noch Morgen und Abend etwas kühlich spitze Finger machen möchten; ich sage ihr aber, man brauche sie ja eben nicht herauszustrecken und sie vielmehr, wie sich's denn auch ohnehin schickt, bei sich behalten.
Viel hundert Vögel, die eben auf der großen Kastanie vor meinem Fenster ihr Schlaflied singen, lassen Ihr Zeiserlein auch aufs schönste grüßen.