§ 66. Kritik des Prinzips der Cartesianischen Naturphilosophie


Der Haupt- und Grundmangel in der Cartesianischen Naturanschauung liegt nicht nur darin, daß er das Wesen der Materie lediglich in die ganz einfache, abstrakte Bestimmung der Ausdehnung setzte, sondern auch darin, daß er überhaupt die Materie als solche, in der Abstraktion von der Bewegung, als das einzig Substantielle von der Natur zugrunde legte, sie nur in der Bestimmung der Positivität, nicht auch der Negativität erfaßte, nicht das Mangelhafte der Materie für sich selbst, das die Materie als eine bloße Materie Aufhebende in ihr selbst erkannte. Der Hauptmangel also ist der, daß er die Bewegung, die eben die Indifferenz des bloßen Ausgedehnt- und Außereinanderseins der materiellen Teile aufhebt, die Teile aus ihrer toten Indifferenz aufschreckt, wacker durcheinander rüttelt und dadurch, daß sie die Materie der Bestimmung der Indifferenz, die sie zur bloßen Materie macht, beraubt, Unterschied, Beschaffenheit, Physikalisches in ihr erzeugt und so gewissermaßen sie immateriell macht, vergeistigt, daher die erste abstrakte Form des Lebens oder das erste abstrakte Prinzip aller Qualität und alles Lebens ist, nicht aus der Materie selbst entspringen ließ, nicht aus und in ihr selbst enthalten erkannte, sondern zu Gottes Macht seine Zuflucht nahm und so äußerlich sie in die Natur hineinschleppte.116) Descartes wie Hobbes erkannten, daß die Materie für sich allein zur Konstruktion der Natur unzulänglich sei, und trugen daher, teils durch die Erkenntnis dieses Mangels, teils durch die Erfahrung dazu bewogen, die Bewegung mit zur Materie hinzu, verbanden sie äußerlich mit ihr; aber sie erkannten nicht, daß dieses Bedürfnis der Bewegung nicht nur ein subjektives, sondern ein objektives, ein Bedürfnis der Materie selbst ist, daß die Bewegung ihr selbst durchaus wesentlich, eine aus ihr selbst hervorgehende Notwendigkeit, daß sie, um in personifizierenden Bildern die Sache zu erläutern, nichts andres ist als der aus ihrem eignen Magen in der Materie aufsteigende Ekel an sich, als die aus ihren eignen Eingeweiden sich erhebende Indignation über die Leerheit und Stupidität ihrer Indifferenz, die sie aus dem Schlaf ihrer absoluten Geistlosigkeit zu dem unterscheidenden Tageslicht eines bestimmten Lebens aufweckt.

So mangelhaft und abstrakt aber auch die Grundprinzipien der Naturphilosophie des Descartes sind, und so viele übereilte, unbegründete Hypothesen, wie z.B. die Hypothese von seinen Wirbeln, er auch aufstellte, so bleibt ihm doch nicht nur das hohe Verdienst, auch in der Naturphilosophie von vornen angefangen, sich zu einer neuen, aus selbständigem Geiste erzeugten, die Natur im großen umfassenden Anschauung derselben erhoben und mit Macht auch im Gebiete der speziellen Gegenstände der Naturwissenschaften den menschlichen Geist in Tätigkeit versetzt, die Gelegenheit zu fernern Entdeckungen und Berichtigungen gegeben und selbst manche richtige Gesetze gefunden zu haben, sondern es bleibt ihm auch das noch viel höhere Verdienst, das geistige und allgemeine, das metaphysische oder spekulative Prinzip, welches dem Standpunkte der Erfahrung und namentlich des auf Erfahrung gegründeten Naturstudiums zugrunde liegt und ihm objektive, allgemeine Bedeutung gibt, zuerst bestimmt ausgesprochen zu haben. Denn die Erfahrung setzt, wie schon früher gezeigt wurde, als die geistige und verborgene Bedingung ihres Anfangs das geistige Prinzip voraus, welches den Geist seiner Philosophie ausmacht, wenn er es gleich in seiner abstraktesten und beschränktesten Form aussprach. Die Naturwissenschaften, besonders aber die Physik stand daher auch bis auf die neuesten Zeiten im wesentlichen und allgemeinen, d. i. dem metaphysischen oder naturphilosophischen Teil nach, auf dem Standpunkt der Philosophie des Descartes, obwohl die meisten Physiker keine Cartesianer waren, sondern im Gegenteil mehr dem Atomismus huldigten, der aber im wesentlichen selbst nicht von der Naturphilosophie des Descartes verschieden ist, da er ebenso wie diese auf bloßem Mechanismus und Materialismus beruht. Denn die allgemeinen Prinzipien der Naturphilosophie des Descartes, seine Anschauung von der Natur als einer bloßen Materie, von der Bewegung als einem äußerlich oder unbegreiflich mit der Materie Verbundenen, von den Poren, von der Indifferenz der Materie blieb auch die Grundlage der späteren Physik.

 

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116) Henricus Morus behauptet gegen Cartesius in einem Briefe an ihn, daß die Materie ein dunkles Leben sei. »Hinc enim illud consurgeret, quod a meo intellectu minime alienum est materiam utique vitam esse quandam obscuram (utpote quam ultimam Dei umbram existimo), nec in sola extensione partium consistere, sed in aliquali semper actione, h. e. vel in quiete vel in motu, quorum utrumque revera actionem esse ipse concedis.« (»Ren. Desc. Epist.«, P. I., Ep. LXX, p. 215)


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