§ 54. Descartes' Leben und Schriften


René Descartes, geboren den 31. März 1596 zu La Haye in Touraine, stammte aus einem alten und berühmten adeligen Geschlechte. Sein Vater, der ihn schon in seinen Knabenjahren wegen seiner unersättlichen Wißbegierde seinen Philosophen nannte, schickte ihn zur Ausbildung seiner Talente in das Jesuitenkollegium zu La Flèche. Er zeichnete sich daselbst vor allen seinen Mitschülern, besonders in der Mathematik, aus. Mit dem größten Lerneifer hörte er, wie er selbst von sich erzählt, seinen Lehrern zu, studierte die klassischen Autoren und las noch überdies, ohne sich an den gewöhnlichen Lehrgegenständen des Kollegiums genügen zu lassen, solche Bücher, die von den seltsamsten und merkwürdigsten Dingen handelten, so viele, als er nur immer bekommen konnte.91) Ungeachtet seiner Lernbegierde und seines auf die Wissenschaften verwandten Fleißes sah er sich jedoch am Schlusse seiner Studien in den Hoffnungen, die ihn dabei belebt hatten, getäuscht. Statt einer gewissen und deutlichen Erkenntnis der fürs Leben nützlichen Gegenstände, die er sich von seinen Studien versprochen hatte, sah er sich vielmehr in so viel Zweifel und Irrtümer verwickelt, daß er der Meinung war, alle seine Bestrebungen hätten ihn zu weiter nichts geführt als zur Erkenntnis seiner Unwissenheit. Sobald es ihm daher freistand, aus dem Kollegium zu treten, gab er mit dem Entschlusse, keine Wissenschaft in Zukunft mehr zu suchen, er fände sie denn entweder in sich selbst oder in dem großen Buche der Welt, gänzlich das Studium der Wissenschaft auf, verwarf alle Büchergelehrsamkeit als eitel und unnütz und brachte dafür zunächst seine Zeit mit der Erlernung und Ausübung der ritterlichen Künste hin, von denen er die Fechtkunst selbst zum Gegenstande einer kleinen Abhandlung machte.92) Nachdem er in Paris eine Zeitlang in den Zerstreuungen und Vergnügungen der vornehmen Welt gelebt, dann aber sich gänzlich in die Einsamkeit zurückgezogen hatte, in der er fast zwei volle Jahre zubrachte, versenkt in das Studium der Mathematik und Philosophie, trat er im 21. Lebensjahre, keineswegs jedoch in der Absicht, selbst als Schauspieler auf dem Theater der Welt aufzutreten, sondern nur Zuschauer zu bleiben von den verschiedenen Akten und Situationen des menschlichen Lebens, als Volontär in Kriegsdienste93), zuerst bei den Holländern, dann bei den Bayern, zuletzt bei den Kaiserlichen, und machte mehrere große Reisen, um die Natur in verschiedenen Gegenden und die Völker in ihren besondern Gebräuchen und Sitten durch unmittelbare, eigne Anschauung kennenzulernen.

Nach der Rückkehr von seinen Reisen und einem mehrjährigen Aufenthalte in Paris, wo er bald in der gesellschaftlichen Welt und in Umgang mit zahlreichen Freunden, bald in der größten Zurückgezogenheit nur in der Beschäftigung mit den Wissenschaften gelebt hatte, verließ er endlich 1629 gänzlich sein Vaterland, um den vielen Besuchen und sonstigen Zerstreuungen, denen er daselbst ausgesetzt war, zu entgehen94), und begab sich nach Holland, um hier seinen bleibenden Aufenthalt zu nehmen und ungestört und unbekannt — getreu seinen Wahlsprüchen:

 

Bene qui latuit, bene vixit, und:

Illi mors gravis incubat,

Qui notus nimis omnibus

Ignotus moritur sibi

 

der Philosophie zu leben und seine wissenschaftlichen Ideen zu verwirklichen, ein Zweck, den er denn auch hier ohne Hindernis erreichte. So erschienen: 1637 unter dem Titel »Specimina Philosophiae«, ohne seinen Namen, in französischer Sprache, seine »Dissertatio de Methodo«, welche seine Entwicklungsgeschichte, die Regeln seiner Methode und allgemeinsten Grundsätze seiner Philosophie enthält, seine »Dioptrik«, seine »Meteorologie« und »Geometrie«, die dann später in lateinischer Sprache, in die sie ein Freund des Cartesius übersetzte, herausgegeben wurden; 1641 sein früher schon angefangnes, durch seine Reisen aber, seine mathematischen und physikalischen Studien unterbrochnes metaphysisches Werk, nämlich seine »Meditationes de prima Philosophia, in quibus Dei existentia et animae humanae a corpore distinctio demonstrantur« (Amsterdam), nebst den Erwiderungen auf die Einwürfe von einem Löwenschen Doktor Caters, von mehreren Pariser Theologen und Philosophen, ferner von Hobbes, Arnauld und Gassendi, denen Descartes seine »Meditationen« zur Prüfung im Manuskript mitgeteilt hatte; 1644 seine »Principia Philosophiae« (Amsterdam), ein Werk, welches seine ganze Philosophie enthält; 1649 seine Schrift »Passiones animae«.

Descartes zog sich durch seine Philosophie viele Widersacher und Feinde zu unter andern auch den gehässigen, streitsüchtigen Theologen Gisbert Voetius, der seine Philosophie des Atheismus beschuldigte, durch seine Intrigen es so weit brachte, daß sie auf der Universität Utrecht verboten wurde, ihn aber auch dann noch schmähsüchtig verfolgte und in allerlei verdrüßliche Händel verstrickte. Aber er erwarb sich auch durch sie viele Anhänger und Verehrer und selber die Freundschaft und Gunst der geistreichen und gelehrten Prinzessin Elisabeth, der ältesten Tochter Friedrichs V., Kurfürsten von der Pfalz, und der Königin von Schweden, Christine, die ihn, um sich von ihm in seine Philosophie vollkommen einweihen zu lassen, zu sich an den Hof einlud. Descartes nahm auch diese Einladung endlich an, wiewohl mit großem Widerwillen95), und reiste 1649 von Holland, seiner geliebten »philosophischen Einsiedelei«, nach Stockholm ab, wo er aber schon im nächsten Jahre, 1650, den 11. Februar starb. Nach seinem Tode erschienen seine »Briefe«, in denen mathematische, physikalische, metaphysische und moralische Gegenstände besprochen werden, und seine Abhandlungen über den Menschen, die Bildung des Fötus, das Licht, nebst noch einigen andern Arbeiten und Exzerpten aus seinem handschriftlichen Nachlaß. Seine sämtlichen Werke erschienen zu Amsterdam (1672, 1692), zu Frankfurt (1692), zu Paris (1701 und 1824 von Cousin). Sein Leben beschrieb Baillet (Paris 1691 und 1693 im Auszug).

Die meisten Anhänger und Freunde fand Descartes in Holland und Frankreich; die namhaftesten derselben sind unter andern Claude de Clerselier, Louis de la Forge, Antonius Le Grand, Jakobus Rohault96), Balthasar Bekker, ein Deutscher, der bekanntlich viele Verdienste um die Aufklärung sich erwarb, Arnold Geulincx.

 

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91) S. Cartesii »Dissertatio de Methodo«, p. 4, Amstelodami 1650. Nach dieser Elzevierschen Ausgabe (R.D.C., »Opp. philos.« Edit. III), Appendix 1649 (enthaltend die fünften und siebenten Einwürfe nebst D.s Antworten und Briefen an Dinet und Voëtius) werden auch die übrigen Schriften des Descartes, deren Seitenzahl bemerkt ist, hier zitiert.

92) Baillet, »La Vie de Mr. Des-Cartes«, Liv. I, ch. 8.

93) »En se déterminant à porter les armes, il prit la résolution de ne se rencontrer nulle part comme acteur, mais de se trouver par tout comme spectateur des rôles, qui se jouent dans toutes sortes d'Etats sur le grand thêàtre de ce monde.« (l. c., ch. 9)

94) Vergl. 1. c., Liv. III, ch. 1, und Cart. »Epist. ad Voetium«, P. VII.

95) Der Grund dieser Abneigung war unter anderm hauptsächlich das Vorgefühl oder die Ahnung eines ihm bevorstehenden Unglücks, das eben in der Tat kein andres als sein Tod war. Er schreibt selbst in einem Briefe an Peter von Chanut (s. Cartesii »Epistolae«, P. I, Ep. 44) noch vom Jahr 1648: »Tam infelices fuerunt omnium, quae viginti abhino annis institui, itinerum exitus, ut metuam, ne me nihil aliud in hoc maneat, quam aut ut incidam in praedones, qui me spolient, aut naufragium, quo peream.«

96) Ausführlicheres hierüber s. z.B. bei Morbof, »Polyhistor. Philos.«, T. II, Lib. I, c 15, De Novatoribus in philos.; ibid., Lib. II, c. 17, und M. J. Tepelius, »Historia Philos. Cartesii«, Norimberg 1674, c. 4 u. 5.


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