[Bedeutung der Lebensfürsorge als Kulturantrieb. Verschiedenheiten in der Ausdehnung derselben bei Kulturvölkern.]
Lippert bezeichnet in seiner trefflichen Kulturgeschichte die Lebensfürsorge als den Grundantrieb aller Kultur. Je geringer dieselbe ist und je leichter die umgebende Natur das für dieselbe Nötige gewinnen läßt, um so weniger Denkanstrengungen sind erforderlich, und so begreift es sich, daß die Tapuyaindianer in Brasilien, obwohl von der herrlichsten Natur umgeben, auf der untersten Stufe der Menschheit stehen, da ihre Lebensfürsorge eine äußerst beschränkte ist und sich mit sehr geringer geistiger Anstrengung betätigen läßt. In der Ausdehnung der Lebensfürsorge unterscheiden sich die Natur- und Kulturvölker im allgemeinen in auffälligster Weise, und einen wichtigen Beleg hiefür bildet der Umstand, daß Naturvölker durch epidemische Krankheiten, Gifte (Alkohol) und Naturereignisse (Mißwachs) häufig ungleich schwerer heimgesucht werden, als Kulturnationen. auch bei letzteren schwankt die Ausdehnung der Lebensfürsorge im großen und ganzen je nach der Höhe der Kulturentwicklung, dann hinwiederum in den einzelnen Bevölkerungskreisen je nach dem Grade der Bildung, sowie nach wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen. Diese Unterschiede betreffen sowohl die persönliche als die soziale Seite der Lebensfürsorge. Erstere schließt nicht lediglich die Sorge für die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse in sich; sie bedeutet die Fürsorge für alles, was die Existenz des Individuums in gesundheitlicher, wirtschaftlicher und sozialer Beziehung betrifft, und erheischt sowohl ein Wissen wie ein Streben nach Kenntnissen, das dem Naturmenschen völlig abgeht und auch bei der Mehrzahl der Angehörigen der zivilisierten Nationen nur in geringem Maße vorhanden ist. Die soziale Seite der Lebensfürsorge betrifft zunächst das Wohl der Familie, dann aber auch des Stammes und der Volksgenossen und kann inbezug auf letztere so weit gehen, daß sie die Interessen der Person und der Familie denen des Stammes und Volkes unterordnet.
So gewaltig nun auch der Anteil ist, welchen die Lebensfürsorge an unseren Kultureinrichtungen hat, so bildete und bildet dieselbe doch nicht die einzige Quelle kulturellen Fortschritts. Alles, was der Befriedigung ästhetischer oder überhaupt höherer, rein geistiger Bedürfnisse dient, ja, auch viele sinnliche Annehmlichkeiten (Bequemlichkeiten) fallen außerhalb des Bereiches der Lebensfürsorge und müssen dennoch als ein wichtiger Teil unseres Kulturbesitzes betrachtet werden. Außerdem dürfen wir nicht übersehen, daß das Maß der Lebensfürsorge keinen absolut sicheren Index für den Kulturzustand eines Volkes oder einer Zeitperiode bildet, da dasselbe in einer Hinsicht sehr weitgehend, in anderer sehr mangelhaft sein mag und durch örtliche Verhältnisse, Volkscharakter und andere Umstände mitbeeinflußt wird. Wir betrachten z. B. gegenwärtig Abortanlagen, welche rasche und gründliche Entfernung der Fäkalien gewährleisten, als einen wichtigen hygienischen und damit auch kulturellen Fortschritt. Auch die alten Römer hatten bereits für die Abfuhr der Fäkalien höchst beachtenswerte Vorkehrungen getroffen. Auf der andern Seite fehlten in den herrlichsten Palästen Frankreichs noch im 18. Jahrhundert Aborte gänzlich; man begnügte sich noch mit dem Gebrauche von Leibstühlen. Ebenso geschah es in Rom noch in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in im übrigen gut eingerichteten Häusern (vereinzelt auch in München), und in der Umgebung Roms finden sich noch gegenwärtig kleinere Gasthäuser, in denen der Fremde vergeblich nach dem Ort der Bequemlichkeit fragt1). Es ist dies ein Zustand der Bedürfnislosigkeit, der sich zweifellos an vielen anderen Orten Italiens noch findet, bei uns dagegen selbst in den entlegensten und ärmlichsten Dörfern nicht mehr vorkommt. Der Italiener der unteren Stände übertrifft den Deutschen an Lebensfürsorge, soweit diese durch Sparsamkeit und Nüchternheit betätigt wird, steht jedoch hinter dem Deutschen an Lebensfürsorge zurück, soweit hiefür Reinhaltung des Körpers, der Kleidung und der Behausung in Betracht kommt.
Inbezug auf die soziale Fürsorge begegnen wir ähnlichen Unterschieden in einzelnen Ländern. So übertreffen wir auf dem in Frage stehenden Gebiet, soweit es sich um öffentliche Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutz von Leben und Gesundheit handelt, die Vereinigten Staaten bei weitem. Während z. B. bei uns überall da, wo eine Straße ein Schienengeleise kreuzt, Schranken und ähnliche Vorrichtungen angebracht sind, die beim Passieren eines Zuges herabgelassen werden, um das Betreten des Bahnkörpers zu verhindern, begnügt sich der Amerikaner damit, eine Tafel mit der Aufschrift: "Look out for the engine" anzubringen. Die Fürsorge für das liebe Publikum geht bei uns sogar soweit, daß man polizeilicherseits das Auf- und Abspringen von einem im Gang befindlichen Trambahnwagen verbietet, eine dem Amerikaner ganz unbekannte und unverständliche behördliche Bevormundung. In den Vereinigten Staaten sind dafür andere Arten sozialer Lebensfürsorge, so die Lebensversicherung zugunsten von Familienangehörigen, gewisse Eigentumsrechte der Frauen etc. verbreiteter wie bei uns. Derartige Besonderheiten der Ausdehnung der Lebensfürsorge beruhen auf nationalen Eigentümlichkeiten und gestatten keinen Schluß auf den Stand der Kultur.
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1) Eine mir befreundete Dame, Kollegensgattin, wurde von dem Wirte einer Locanda in der Umgebung Roms, den sie nach dem bewußten Orte fragte, mit stolz erhobenem Haupte auf die ganze umgebende Campagna hingewiesen.