[Die Entwicklung der deutschen Sprache vom Indogermanischen bis zum Neuhochdeutschen und deren Bedeutung als Index geistiger Kultur.]


Auch die Entwicklung der deutschen Sprache, welche uns Friedrich Kluge in seinem etymologischen Wörterbuch trefflich veranschaulicht, spricht für einen Fortschritt der Intelligenz der mitteleuropäischen Bevölkerung im Laufe der letzten Jahrtausende. Wenn wir uns fragen, was unter Intelligenz zu verstehen ist, so finden wir als das Wesentliche den Besitz einer Anzahl von Begriffen und die Fähigkeit, mit denselben zu operieren. Der Reichtum an Begriffen, den ein Individuum besitzt, ist nicht für den Grad seiner intellektuellen Begabung maßgebend, da der Erwerb von Begriffen von den äußeren Verhältnissen, in welchen das Individuum lebt, abhängt. Ein sehr beschränkter Städter kann daher eine Anzahl von Begriffen besitzen, die dem in einem abgelegenen Dorf Aufgewachsenen fehlen; letzterer mag jedoch seinen geringeren Begriffsschatz in einer Weise verwerten, die dem Städter unmöglich ist, und sich diesem intellektuell überlegen zeigen. Der Begriffsschatz eines Volkes gibt dagegen einen gewissen Index für die intellektuelle Entwicklung desselben ab, da er das Produkt der Denktätigkeit einer Masse darstellt. Die Bestandteile einer Sprache sind lediglich konventionelle Lautsymnbole für vorhandene Begriffe, und wir können daher aus dem Wortschatz einer gewissen Zeitperiode gewisse Schlüsse auf den Stand der Intelligenz ziehen. Es darf dabei allerdings nicht übersehen werden, daß der Wortschatz einer gewissen Zeit nicht Eigentum eines jeden Einzelindividuums ist. Man hat z. B. berechnet, daß ein englischer Holzarbeiter für seine sprachliche Betätigung nur 500 Wörter braucht, eine höchst geringe Zahl im Vergleich zu dem Wortreichtum der englischen Sprache. Allein wenn auch nur die intelligentesten Elemente der Bevölkerung über den ganzen Wortschatz ihrer Zeit verfügen, kann dieser immerhin noch als ein gewisser Index für die Intelligenzstufe derselben betrachtet werden. Wenn wir die Entwicklung der deutschen Sprache verfolgen, finden wir eine stetige Zunahme des Wortschatzes vom Indogermanischen bis zum Neuhochdeutschen, eine Zunahme, die nicht lediglich auf autochthonen Worterzeugnissen, sondern zum Teil auf Entlehnungen aus fremden Sprachen beruht. Kluge weist insbesondere auf die bedeutende Bereicherung hin, welche der deutsche Wortschatz durch die Berührung der Germanen mit der römischen Kultur erfahren hat. Indes wenn auch die Bereicherung des Wortschatzes auf eine Erweiterung des geistigen Horizontes hinweist, so darf der hierdurch erzielte intellektuelle Gewinn doch nicht allzu hoch veranschlagt werden. Die Fortschritte auf dem Gebiet der Technik und des Verkehrswesens haben in neuerer Zeit zur Bildung einer Menge von Begriffen mit entsprechenden Bezeichnungen geführt, denen man einen Einfluß auf das intellektuelle Niveau der Massen nicht zuschreiben kann. Für die Sprache als Kulturfaktor gilt, was für die Kultur im allgemeinen hervorgehoben werden mußte: Wenn wir auch aus ihrer Entwicklung vom Indogermanischen bis zur Gegenwart auf einen intellektuellen Fortschritt schließen dürfen, so haben wir doch keine Berechtigung zu der Annahme, daß letzterer, soweit die Massen in Betracht kommen, in einem gewissen Verhältnis zur Entwicklung der Sprache steht. Es geht dies schon aus dem Umstand hervor, daß den Massen nur ein beschränkter Teil des in unserer Sprache enthaltenen Wortschatzes zu Gebote steht.

 

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