[Eyrichs und meine Untersuchungen über die Beziehungen zwischen Kopfumfang und geistiger Entwicklung. Mängel der feineren Organisation des Gehirns die organische Grundlage der Dummheit.]


Untersuchungen über die Beziehungen von Kopfumfang und geistiger Begabung haben zu ähnlichen Ergebnissen wie die Studien über Beziehungen zwischen Gehirngewicht und geistiger Begabung geführt. Möbius hat zwar den Satz aufgestellt: "Der Umfang des annähernd normal geformten Kopfes wächst im allgemeinen mit den geistigen Kräften", doch haben die schon an früherer Stelle erwähnten von Eyerich und mir an einem sehr großen Material (Soldaten, Einjährigen und Schulkindern) ausgeführten Untersuchungen keine Bestätigung dieser Aufstellung ergeben. Wir fanden, daß bei allen beobachteten Abstufungen des Kopfumfangs 50,5—60 cm es nicht an schwachbegabten Individuen mangelte; dagegen mit der Zunahme des Kopfumfangs der Prozentsatz der Schwachbegabten entsprechend abnahm und der Gutbefähigten sich steigerte; daneben zeigte jedoch der Prozentsatz der Durchschnittlichbegabten bei allen Abstufungen des Kopfumfangs von 53—59 cm keine auffälligen Schwankungen.

Man darf nach dem Angeführten den Gehirnumfang nicht als den in erster Linie die geistige Begabung bestimmenden Faktor betrachten, denselben aber auch nicht als einen für die geistige Entwicklung ganz bedeutungslosen Umstand ansehen. Soviel erscheint nach den zur Zeit vorliegenden Erfahrungen sicher, daß bei beschränkten Individuen sich häufig ein an Masse mehr oder weniger hinter dem Durchschnitt zurückbleibendes Gehirn findet; auf der anderen Seite ist aber auch nicht in Abrede zu stellen, daß dieses Manko an Masse allein die intellektuelle Minderwertigkeit nicht bedingen kann, da, wie der Fall Gambetta zeigt, auch ein Gehirn von geringem Gewicht mit der Befähigung zu sehr bedeutenden geistigen Leistungen sich verknüpfen kann. Wir haben des weiteren aber auch gesehen, daß bedeutendes Gehirnvolumen keine großen intellektuellen Leistungen garantiert. Alle diese Umstände weisen darauf hin, daß die organische Grundlage der Beschränktheit im allgemeinen weniger in der quantitativen als der qualitativen Beschaffenheit, d. h. weniger in geringem Umfang als der Organisation des Gehirns zu suchen ist; und zwar kommen jedenfalls weniger die gröberen Organisationsverhältnisse, wie sie in der Windungsentwicklung ihren Ausdruck finden, als die feineren in Betracht, die durch den größeren oder geringeren Reichtum an bei den psychischen Prozessen tätigen Elementen und deren Verbindungen gegeben sind. Für diese Auffassung sprechen unter anderem ebensowohl Eyerichs und meine Erfahrungen, daß sich bei gleichem Schädelumfang sehr verschiedene Begabungsgrade finden, wie auch die Befunde Lomers 1) über die Schädelkapazität bei Angehörigen verschiedener Berufe. Er fand die Schädelmaße geistesgesunder und geisteskranker Bauern im Durchschnitt größer, als diejenigen der Handwerker, Kaufleute und Beamten, obwohl man den Bauern eine höhere intellektuelle Begabung, als den Angehörigen der erwähnten Stände wohl im allgemeinen nicht zuschreiben kann2).

Wenn wir nach dem eben Angeführten die organische Grundlage der (normalen) Dummheit in den feineren Strukturverhältnissen des Gehirns zu suchen haben, so gilt dies selbstverständlich nur soweit, als die Dummheit auf angeborener Veranlagung beruht. Die Erscheinungen, in welchen die Dummheit sich äußert, sind jedoch nicht immer lediglich auf angeborene Veranlagung zurückzuführen. Der Einfluß dieser wird, wie wir schon an früherer Stelle sahen, sehr häufig durch Momente verstärkt, welche ungünstig auf die geistige Entwicklung des Individuums einwirken: vernachlässigte oder verkehrte Erziehung, Mangel des Schulunterrichts usw., und in zahlreichen Fällen kommen lediglich diese Momente als Ursache der Dummheit in Betracht.

 

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1) Lomer: Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie, Bd. 64.

2) Stieda, "Das Gehirn eines Sprachkundigen", Wiener med. Wochenschrift, 1908, Nr. 6, hat die Ansicht geäußert, daß in dem feineren Bau der Hirnrinde die Ursache für die Verschiedenheiten der psychischen Funktionen der Einzelindividuen zu suchen sei. Ich habe die oben angeführte Ansicht bereits vor einigen Jahren ("Über die Beziehungen des Kopfumfangs zur Körperlänge und zur geistigen Entwicklung", S. 51) vertreten und darauf hingewiesen, daß wir in die Art und Weise, in welcher neben der Organisation die Massenzunahme des Gehirns die intellektuellen Leistungen zu fördern vermag, vorerst keinen Einblick haben. Wenn man die Gesamtheit der zur Zeit vorliegenden Erfahrungen über die Beziehungen zwischen Gehirngewicht und Intelligenz berücksichtigt, so scheinen dieselben darauf hinzuweisen, daß geringeres Gewicht sich vorwaltend mit einfacheren, bedeutenderes Gewicht mit höher entwickelten Organisationsverhältnissen des Gehirns verbindet. Hierbei kommt hoch in Betracht, daß die Massenzunahme des Gehirns aber auch auf Umständen beruhen kann, welche die Leistungen desselben nicht zu steigern geeignet sind (größere Länge oder Dicke der Fasern).


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