[Die Talente, die bei Dummen anzutreffen sind.]
Wir haben im Vorhergehenden bereits gesehen, daß Dummheit und Talent nicht Gegensätze bilden, die einander ausschließen. Diese Erkenntnis hat sich auch schon Kant aufgedrängt, der bemerkt: "Torheit und Verstand haben so unkenntlich bezeichnete Grenzen, daß man schwerlich in dem einen Gebiete lange fortgeht, ohne bisweilen einen kleinen Streif in das andere zu tun"1). Die intellektuelle Begabung eines jeden Individuums setzt sich aus einer Reihe ungleichwertiger Faktoren — Fähigkeiten — zusammen. Der Intelligenteste zeigt nicht in allen Fächern des geistigen Haushalts gleich vorzügliche, der Beschränkteste gleich geringe Leistungsfähigkeit. Das Nebeneinander von ausgesprochenen Fähigkeiten und bedeutenden Mängeln auf intellektuellem Gebiet hat mitunter die Folge, daß das Urteil über die Gesamtbegabung eines Individuums schwankt, weil dem einen mehr die Vorzüge, dem anderen mehr die Mängel entgegentreten. Es ist daher nicht überflüssig, wenn wir im Folgenden zusehen, welche besonderen Talente mit der als Beschränktheit zu bezeichnenden allgemeinen intellektuellen Minderwertigkeit, und welche Mängel andererseits mit guter, selbst hervorragender intellektueller Begabung vereinbar sind.
Am häufigsten begegnen wir bei Beschränkten einer größeren oder geringeren Befähigung für Handfertigkeiten, wozu auch die Kalligraphie zu rechnen ist, und Leistungen, die dem Gebiet der Kunst angehören, insbesondere Musik, Zeichnen und Malen. Ein sehr beschränkter Mensch mag ein treffliches musikalisches Gedächtnis besitzen und sich bei entsprechendem Fleiß auch die Technik eines Instruments in hohem Maße aneignen; allein in den Geist eines komplizierteren Musikwerks tiefer einzudringen und in seinem Spiele denselben zum Ausdruck zu bringen, ist er nicht imstande. Ähnlich verhält es sich im allgemeinen mit der Befähigung für die bildenden Künste. Ein beschränkter Kopf mag es als Dilettant in der Malerei zu recht beachtenswerten Leistungen bringen. Ich selbst besitze verschiedene Belege hiefür, und auch unter den Künstlern von Beruf finden sich manche, die bei recht mäßiger Allgemeinbegabung unbestreitbares künstlerisches Talent besitzen. Daß die Beschränktheit sich sogar mit einem sehr hohen Grade künstlerischen Vermögens vereinigen kann, hierfür liefert der Maler Courbet, der als Mitglied und im Auftrag der Kommune die Zerstörung der Vendômesäule leitete (1871), ein sehr prägnantes Beispiel. Unter den wahrhaft genialen Malern und Bildhauern finden wir jedoch, wie hier ausdrücklich hervorgehoben werden soll, keinen, der nicht auch eine treffliche Gesamtbegabung besessen hätte. Auf dem Gebiet der Mechanik leisten mitunter Beschränkte, vereinzelt sogar ausgesprochen Schwachsinnige Bedeutendes. So hatte ich selbst Gelegenheit ein schwachsinniges Dienstmädchen kennen zu lernen, welches für die Konstruktion von Maschinen weit mehr Verständnis zeigte, als bei dem Durchschnitte ihrer Klasse anzutreffen ist, und Reparaturen an solchen und Hausgeräten vorzunehmen vermochte, die gewöhnlich nur von den betreffenden Handwerkern ausgeführt werden. Forel kannte einen äußerst unbeholfenen und geistig allgemein sehr schwach begabten jungen Mann, der eine entschieden geniale Begabung für Maschinenkonstruktion besaß und verschiedene Erfindungen machte2), über einen ähnlichen Fall berichtet Tredgold3). Ein 1835 geborener tauber und schwachsinniger Insasse des Earlswood Asylum, namens Pullen, der nie eine Schule besucht hatte, zeigte schon in früher Jugend ausgesprochenes Talent für Zeichnen und Schnitzen. In der Anstalt, in der er untergebracht war, gestattete man ihm alsbald, sich seiner Neigung gemäß zu beschäftigen. Er schmückte nicht nur die Wände der Anstalt mit einer Menge von Zeichnungen von hohem Kunstwerte, sondern verfertigte auch wundervolle Schnitzereien in Holz und Elfenbein und insbesondere Modelle von Schiffen, Transportdampfern und Kriegsschiffen, deren vollendetste bis in das kleinste Detail sich erstreckende Ausführung die Bewunderung aller erregte, welche dieselben sahen. Und dieser Mann, der ein so hervorragendes künstlerisches und mechanisches Talent besaß, lernte nicht mehr als die einfachsten Wörter lesen und schreiben und war völlig unfähig, sich in der Welt fortzubringen4). Auch im Rechnen, insbesondere soweit es sich hierbei um rein mechanische Gedächtnisleistungen handelt, zeigen die Beschränkten mitunter eine besondere Gewandtheit5). Das Gleiche gilt für die Aneignung fremder Sprachen, soweit hierfür Gedächtnis und Übung erforderlich sind. Gewöhnlich leisten jedoch hiebei die Beschränkten im mündlichen Gebrauch fremder Sprachen ungleich mehr als im schriftlichen6).
Besonders bemerkenswert ist der Kontrast zwischen geringer Allgemeinbegabung und geschäftlicher Tüchtigkeit, dem man bei den Angehörigen der Geschäftswelt (Kaufleuten, Industriellen) nicht selten begegnet. Die betreffenden Individuen zählen schon in der Volksschule gewöhnlich zu den schlechteren Schülern. In den Mittelschulen sind ihre Leistungen, von einzelnen Fächern abgesehen, zumeist so gering, daß sie früher oder später sich als unzulänglich für die Anforderungen des Unterrichts erweisen. Diese für die theoretischen Unterrichtsgegenstände wenig befähigten und oft auch sehr wenig Interesse bekundenden jungen Menschen erweisen sich in den Geschäften, denen sie sich widmen, häufig entschieden als recht brauchbar und erzielen bei tüchtiger Schulung und andauerndem Fleiß bei selbständiger Geschäftsführung, wie in abhängiger Stellung bedeutende Erfolge. Es ist mitunter geradezu auffallend, wie beschränkt das Urteil dieser Leute, die in ihrem Geschäft so trefflich ihren Vorteil zu wahren und allen Anforderungen ihres Kundenkreises zu genügen verstehen, über alle Angelegenheiten ist, die nicht in Beziehung zu ihrer Branche stehen. Ob es sich um ein Schauspiel, einen vielgelesenen Roman, ein Werk der bildenden Kunst, eine Erfindung von großer Tragweite, ein politisches Ereignis handelt — sie sind unfähig, sich über den Gegenstand ein Urteil zu bilden, das der Bedeutung desselben einigermaßen gerecht wird, und dazu auch vielfach außerstande, ihre Gedanken in klarer, folgerichtiger Weise auszudrücken. Auch unter den Vertretern der gelehrten Berufe begegnen wir manchen, die trotz allgemeiner intellektueller Minderwertigkeit in einem bestimmten wissenschaftlichen oder praktischen Gebiete sich als tüchtige Kräfte erweisen. Bei den wenig begabten Angehörigen des zarten Geschlechts finden wir keineswegs selten einzelne besonders entwickelte Fähigkeiten, welche zu irrtümlichen Urteilen über den Gesamtstand der Intelligenz der Betreffenden führen mögen. So zeichnen sich manche sehr beschränkte Mädchen und Frauen durch Geschick in weiblichen Handarbeiten, andere durch ausgesprochene wirtschaftliche Talente aus. Letztere verstehen es, eine treffliche Küche zu führen, den Hausstand stets in bester Ordnung zu halten und bei beschränkten Mitteln durch Ökonomie und Fleiß noch Ersparnisse zu machen. Diese trefflichen Hausfrauen, die jedes Speise- und Stoffrestchen nützlich zu verwenden wissen, stehen ratlos da, wenn es sich um Angelegenheiten handelt, die nicht den Haushalt betreffen, urteilen über Gegenstände von allgemeinem Interesse mit der Naivität von Kindern und sind völlig unfähig, in die geistige Individualität ihrer Angehörigen einzudringen. Bezüglich des Gedächtnisses ist hier noch zu bemerken, daß, wenn dasselbe auch im allgemeinen bei der Dummheit mehr oder weniger mangelhaft ist, es doch auch einzelne Beschränkte gibt, die ein treffliches Gedächtnis besitzen. Insbesondere kann das Gedächtnis für einzelne Vorstellungsgebiete, Namen, Zahlen, geschichtliche und geographische Daten sehr entwickelt sein; selbst bei Schwachsinnigen findet man mitunter auffällige Gedächtnisleistungen7).
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1) Kant: "Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik."
2) Nach Forel hatte er eine bleibende und damals in Zürich allgemein adoptierte Erfindung in der Konstruktion der Webstühle gemacht.
3) Tredgold: Mental Deficiency (Amentia) 1908.
4) Und doch, bemerkt Tredgold über ihn, ist er offenbar zu kindisch und zugleich zu emotiv, unbeständig, des seelischen Gleichgewichts ermangelnd, um in der Außenwelt vorwärts zu kommen ober auch nur sich zu erhalten. Ohne eine ihn dirigierende Person würden seine hohen Gaben nicht ausreichen, ihm seinen Unterhalt zu verschaffen, und wenn dies auch der Fall wäre, so würde er bald infolge seines vollständigen Mangels an Besonnenheit und Vorsicht und der Unzulänglichkeit seines Verstandes (commun sense) zugrunde gehen.
5) Auch bei ausgesprochenen Imbezillen wird zuweilen eine außergewöhnliche rechnerische Begabung angetroffen. Ein von Dr. Langbon Down beobachteter 12 jähriger imbeziller Knabe konnte mit Blitzesschnelle 3 stellige Zahlen multiplizieren. Ein schwachsinniger Patient Dr. Howes konnte, wenn man ihm das Alter irgend einer Person sagte, in kurzer Zeit die Zahl der Minuten ihres Lebens ausrechnen. Ähnliches leistete ein Schwachsinniger, von dem Dr. Wizel berichtete.
6) Forel berichtet sogar von einem Schwachsinnigen, der ein großes Sprachtalent besaß. Er sprach und schrieb korrekt und fließend deutsch, holländisch, englisch und französisch.
7) Die auffälligen Gedächtnisleistungen bei Schwachsinnigen betreffen in der Regel nur bestimmte umgrenzte Gebiete. So hat, wie Tredgold erwähnt, ein 65 jähriger hochgradig schwachsinniger Mann, Insasse vom Earlswood Asylum eine besondere Neigung für Biographien. Man darf ihm nur den Namen irgend einer hervorragenden Person der älteren oder neueren Zeit nennen, und in einem stetigen, ununterbrochenen Redestrom erfolgt ein vollständig detaillierter Bericht über deren Geburt, Leben und Tod. Er hat auch ein gewisses Verständnis für die Ereignisse, von denen er spricht.
Ein imbeziller junger Mann aus meinem Bekanntenkreise hatte ein auffallendes Interesse und Gedächtnis für geographische Daten. Er studierte beständig Landkarten. Wenn man ihm z. B. irgend einen europäischen Fluß nannte, war er sofort imstande, die an demselben gelegenen Städte anzuführen. Bei manchen Schwachsinnigen und Idioten betreffen die bedeutenden Gedächtnisleistungen lediglich die Merkfähigkeit.
Ein 22 jähriger epileptischer Idiot, den Dr. Martin Barr beobachtete, der weder lesen noch schreiben konnte und spontan nur zusammenhanglose Worte sprach, konnte alles, was ihm vorgesprochen wurde, gleichgültig ob in seiner Muttersprache oder einer fremden fließend und mit richtiger Betonung nachsprechen. Ein von Dr. Langdon Down beobachteter Imbeziller gab ganze Seiten aus einem gelesenen Buch wörtlich wieder, ein anderer konnte den Inhalt einer eben gelesenen Zeitung, ein dritter sogar in umgekehrter Folge das Gelesene wiedergeben. (S. Tredgold I. c.)