Edgar Allan Poe1
[ Einleitung von Hedwig Lachmann ]
Die Verhängung schweren Leidens über ein vom Hause aus sonnenloses Menschendasein ist eine der unergründlichen Willensäußerungen der Natur. Es gibt innere Kräfte, die im Zwielicht indifferenter Lebensverhältnisse halb schlummern, ungleich flackern, gedämpft schimmern wie Gaslicht im Halbdunkel, doch es kommt die Nacht, sie kommt mit der Unabwendbarkeit von Naturvorgängen, und die gedrückten Flammen schlagen auf, werfen grelle Streiflichter, malen übergroße, verzerrte Schatten. – Das Leben sucht sich für seine Stürme gern eine weite, zerklüftete Menschenbrust, es liebt die düstern Gründe, die tiefen Risse, die verborgenen Spalten, es trägt seinen Aufruhr am Liebsten dorthin, wo die Wirren der inneren Natur bereits Empörung und Kampf geschaffen haben.
Solchem Eindringen der Schicksalstücke auf ein düster geartetes Gemüth begegnen wir bei Edgar Allan Poe. Von einer Beschaffenheit, die selbst unter günstigem Horoskop bedeutsame Conflikte gezeitigt hätte, mahnt sein Inneres unter dem Ansturm des Leidens an die Opfer elementarer Verheerungen. Sein Leben umfaßt die kurze Spanne Zeit von 38 Jahren. Er war 1811 in Baltimore geboren und starb 1849 auf einer Reise nach New-York. – Aus der Perspektive entrückter Zeit erscheinen die Umrisse eines in’s Auge gefaßten, hinter uns liegenden Zieles nicht in ihrer Schärfe; durch das Fernrohr vermittelnden Studiums blickend, erkennt man, daß die Linien bei freier Betrachtung weniger schneidend hervortreten, die Ecken und Kanten abgerundeter erscheinen würden. Zeitgenössische Biographen beurtheilen Poe größtentheils mit der Leidenschaftlichkeit oder überlegenen Kälte, wie sie obzuwalten pflegen, wenn der Gegenstand des Interesses ein naher ist, über den Aufzeichnungen späterer liegt etwas wie väterliche Milde; zweifellos ist, daß sein Wandel einer jener stürmischen, ungezügelten, unbeständigen Lebensführungen war, die viele verdammen, niemand gut heißt, wenige bemitleiden.
Früh verwaist, war er von einem reichen Schotten in Virginia, Mr. Allan, adoptiert und in eine Schule nach England gebracht worden, wo er bis zu den Universitätsjahren verblieb. In seiner Erzählung „William Wilson“ entwirft er ein Bild aus dieser Zeit. Schon damals zeigten sich die Anfänge zu einem bewegten Drama, in welchem der Held seine Rolle mit aller Innerlichkeit einer ursprünglichen Natur auffaßte. In die kleinen Begebnisse des Schullebens legt er die Bedeutsamkeit, bringt ihnen dasselbe intensive, wechselnde Empfinden entgegen, das im gereifteren Alter schicksalsbestimmende Geschehnisse wachzurufen pflegen. – Nach beendeter Schulzeit kehrte er nach Amerika zurück und hiermit beginnt die fiebrischen Periode seines Lebens, welche ihren Abschluß in der Enterbung von seiten seines Pflegevaters fand und die erschütterte Grundlage wurde, in welcher geordnete Verhältnisse nicht Wurzel fassen wollten. Der Geist der Störrigkeit, den er einmal eine der natürlichsten und vorherrschendsten seelischen Eigenschaften nennt, von dem die Philosophie in ihrem analytischen Verfahren keine Notiz nehme, muß ihm in hohem Grade inne gewohnt haben. Eine starre Unbeugsamkeit den Forderungen der Menschen gegenüber, ein Trotz, der das eigene Herz ebenso martert als er fremde verletzt, der sich an den Schmerzen der eigenen Brust weidet, drückt ihm den Stempel auf. Und doch war das düstere Weltbild, das er in sich trug, nicht so sehr das Ergebniß seines mit der natürlichen und gesellschaftlichen Ordnung in Conflikt gerathenen Innern als die Widerspiegelung einer Phantasie, der finstere Genien ein Land erschlossen, wo sich Raum- und Größenverhältnisse in’s Titanenhafte dehnten, wo stille Freuden keinen Boden, kleines Glück keine Heimath hatte. Seinem Studium, während dessen er sich ebenso durch glänzende, geistige Errungenschaften als durch Zügellosigkeit hervorthat, ward durch die Relegation von der Universität ein jähes Ende bereitet. In Erbitterung über diese Ehrenkränkung, so verdient sie gewesen sein mochte, und wohl auch im Drange, ein besonderes Leben zu beginnen, faßte er den knabenhaften Entschluß, sich den aufständischen Griechen beizugesellen, kam jedoch nur bis Petersburg, wo er, aller Baarschaft entblößt, mit Hilfe des dortigen amerikanischen Konsuls zurückbefördert werden mußte. Er mag seinen Pflegevater ob solcher Excesse nicht eben milde gestimmt gefunden haben. Zwar ermöglichte ihm dieser noch auf Wunsch den Eintritt in eine Militärschule; nachdem er sie jedoch eigenmächtig verlassen, kam es zum völligen Bruch. Nun folgt eine schwere Leidenszeit. Als er mit einer Serie Erzählungen „Tales of the Folio Club“ einen Preis gewonnen, erschien er vor dem Komitee, ein wahres Bild des Jammers, mit allen Zeichen der Entbehrung und Verwahrlosung. Wohlwollende Männer nahmen sich seiner an und verhalfen ihm zu journalistischer Thätigkeit. Es duldete ihn aber nicht lang am selben Orte. Von Richmond war er nach Baltimore gegangen und hatte sich gegen 1839 in Philadelphia niedergelassen. Hier entstanden seine vielleicht bedeutendsten und charakteristischsten Erzählungen „Ligeia“ und „der Fall des Hauses Usher“.
Das dichterische Reich Edgar Poe’s liegt an der verschwommenen Grenze, wo die Konturen der Wirklichkeit mit den Schatten der Phantasie zusammenfließen. Sein eigenstes Wesen offenbart er, wenn er, von den geheimen Kundgebungen der Natur ausgehend, zwischen ihr und der Menschenseele Fäden spinnt, an denen er die ewigen Räthsel an das Tageslicht der Wahrnehmung ziehen möchte. Und woran ließen sich die Uebergriffe der übersinnlichen in die Erfahrungswelt wohl besser knüpfen, als an die schaurig erhabenste, geheimnißvollste, unabweislichste aller Erscheinungsformen – das irdische Vergehen? Hier schafft er sich ein breites, dunkles Feld, durch dessen aufgelockerte Schollen er verwegene Blicke in den heimlich wirkenden Schooß wirft, auf dieser Verbindungsbrücke zwischen Hier und Dort späht er nach dem Ineinandergreifen der beiden Welten, hier stellt er die intimsten Wechselbeziehungen zwischen Individuum und Natur her und verbreitet darüber die beklemmende Atmosphäre des tragischen Schauders, jenen finstern, aber unleugbaren Zauber, der das Geheimniß seiner dichterischen Gewalt in sich trägt. – Ligeia ist die Personifikation des Willens zum Leben im Kampf mit den Machtbezeugungen der Natur. Er geht von dem Satze aus: „Der Mensch überläßt sich nicht völlig den Engeln oder dem Tode, es sei denn durch die Schwäche seines Willens“ – mit andern Worten: machtlos wäre der Tod, den Willen zu vernichten, wenn ihm dieser als gesammelte, unbeeinträchtigte, ungeschwächte Kraft entgegenträte. Traurig phantastisch, wie dieser Gedanke an und für sich sein mag, er gewinnt Kraft durch die wundersam poetische Gestaltung, durch die feierliche Schönheit, mit der er ihn umkleidet. In dem „fall of the house of Usher“ gibt er eine Analyse entstehenden Wahnsinns. Auch hier das herüberragende Jenseits, das feuergefärbte Dunkel der Stimmung.
Der Erfolg, den er mit diesen Erzählungen erzielte, weckte in ihm einen freudigen Schaffensdrang und schien sein Leben in glattere und ruhigere Bahnen bringen zu wollen. Im Herbste desselben Jahres veröffentlichte er seine sämmtlichen Prosaerzählungen unter dem Titel „Tales of the Grotesque and Arabesque.“ Sein literarischer Ruf war nun in steter Zunahme begriffen. Im Jahre 1840 ward er dem „Graham Magazine“ verpflichtet und entwickelte während anderthalb Jahren eine ungemein produktive Thätigkeit als Schriftsteller und Kritiker, die ihm auch in Europa viele Leser und enthusiastische Bewunderer verschaffte. Größeres Aufsehen jedoch noch als die Erzählungen erregte seine Schrift „Autography“ und die Veröffentlichungen über Kryptographie. Hierin behauptete er, menschlicher Scharfsinn könne keine geheime Schrift erfinden, die menschlicher Scharfsinn nicht zu entziffern vermöge, und in der That gelang ihm die Lösung der schwierigsten Proben, die ihm darauf hin eingesandt wurden. Edgar Poe hat uns freiwillig einen Blick hinter die Coulissen seines Schaffens thun lassen, er hat bekannt, daß er mit der kühlen Berechnung des Mathematikers vorgehe, hat die Entstehung des „Raben“ vom ersten Keimen an dargelegt und zwar, weil er diese Methode des Producirens zum Prinzip erheben wollte. Die Conception entsprang dem Wunsche, eine bestimmte Wirkung im Gemüth des Lesers zu erzielen. Nachdem er das Schöne als einzig legitimes Gebiet der Poesie erkannt hatte, suchte er nach dem Ton seiner höchsten Offenbarung und fand ihn in wehmüthiger Trauer. Er fragte sich nun: Was dient zur speciellen Reizerhöhung eines Gedichtes? Von allen bisher in Anwendung gebrachten Mitteln zeigte die Erfahrung den Refrain als das wirksamste. Und welcher Refrain entspricht am besten dem beabsichtigten Tone? Das Wort „Nevermore“ sprang ihm hiebei, kraft seiner Bedeutung, sofort als zweckmäßestes in die Augen. Doch nun galt es, die Eintönigkeit dieses Wortes in Einklang mit der Verstandesthätigkeit des Geschöpfes zu bringen, welches dazu bestimmt wäre, es beständig zu wiederholen. Da stieg denn der Gedanke an ein nichtdenkendes, der Sprache fähiges Wesen in ihm auf, und der Rabe, von jeher in Beziehung zum Menschenschicksal gebracht, gab den Ausschlag. Er folgerte weiter: Nach allgemein menschlichem Einvernehmen ist der traurigste aller Begriffe – der Tod, und am poetischsten ist der Tod, wenn ihn Schönheit verklärt; demnach ist der Tod einer schönen Frau zweifellos das Poetischste und ein trauernder Liebender der passendste Träger des poetischen Begriffs. Angesichts der Schwierigkeit, einen Liebenden, welcher seine Geliebte betrauert, und einen Raben, der beständig das Wort „Nevermore“ wiederholt, in Verbindung zu bringen, ergab sich als einzige Möglichkeit eine Art Zwiegespräch, in welchem die Antworten des Raben wie zufällig auf die anfangs gleichgültigeren und allgemeineren Fragen des Liebenden erfolgen müßten, bis dieser schließlich durch den Charakter des Wortes an und für sich, die häufigen Wiederholungen, den üblen Ruf des Vogels, in einen Zustand abergläubischer Furcht versetzt, Fragen ganz anderer Art an ihn richtet, um deren Lösung er leidenschaftlich besorgt ist. In dieser Weise der Klimax zusteuernd, stellte er endlich die Frage fest, in Bezug auf welche „Nevermore“ den höchsten Grad des Schmerzes in sich tragen müßte und so, am Ende des Gedichts „wo alle Kunstwerke ihren Anfang haben sollten“ entstand zuerst der Vers, in welchem dem Liebenden aus der Antwort des Raben das Urtheil ewiger Verdammniß entgegentönt.
Im Einklang mit dem hier dargethanen Verfahren sind die früher genannten Zeugnisse seines zergliedernden und combinirenden Scharfsinns. Zügellos wie seine Phantasie war, fing er sie ein bei der tollsten Jagd und ließ sie denselben gefahrvollen Weg noch einmal am Zaum machen. Mag dies Auseinanderlegen seiner Gebilde manche Illusion in Bezug auf Inspiration und das Schaffen „aus einem Guß“ zerstören – die Kunst, wie er den ephemeren Geschöpfen seiner Phantasie Realität verschafft, das Abnorme mit Schutzwällen umgibt, an denen es einen Rückhalt gewinnt und glaubhaft wird, wie er, die unheimlichsten Tiefen eher verdeckend als enthüllend, eine brennende Ungwißheit entfacht, zwingt uns trotzdem in den Bannkreis seiner dämonischen Dichterkraft. Der Blick für alles Natürliche, Harmlose, Liebliche hat ihm gefehlt. Nacht, Grauen bilden die Scenerie für absonderliche Menschen, dunkle Thaten, seltsame Geschehnisse. Aber so absichtlich er das Lichtscheue und Verborgene sucht und aus den Schlupfwinkeln herauszieht – Sünde und Verbrechen sind bei ihm nie niedrig, nie gemein, nicht der Ausfluß menschlicher Kleinheit, sie sind von innen heraus geboren, die natürlichen Ergebnisse eines so und nicht anders beschaffenen Innern, sie sind mit jenen Schauern umhüllt, die verstummen machen, Thaten, so furchtbar, so dunkel erhaben, daß man sie nicht nennen kann, wie jene des Mannes, welcher nicht allein sein will, des „Mannes der Menge,“ der sich Tag und Nacht in die dichtesten Menschenknäuel drängt, in wilder Verzweiflung vorwärts jagd, wenn er eine Straße leer findet, und sich mit Jauchzen in neues Gewühl stürzt.
Nach seiner Trennung von Graham verfällt er in die alte Noth. Eine widrige Leidenschaft wirft breite Schatten über ihn und raubt seinem Tode das Erhabene. In einem rührenden Briefe an einen vertrauten Korrespondenten thut er dieses Gebrechens Erwähnung und spricht zugleich von dem, was seinem Leben den tiefsten Gehalt gab und ihm zur Quelle größten, seelischen Leidens wurde. – Mit einem geringen Einkommen hatte er in Richmond eine junge, gänzlich mittellose Verwandte, Virginia Clemm geheirathet, die uns als ungemein liebreizend und begabt geschildert wird. Mit ihr und ihrer Mutter, die der gute Engel der jungen Leute war, und an der er mit kindlicher Liebe hing, war er duch die verschiedenen Städte gewandert, welche die Schauplätze seiner Thätigkeit bildeten, und hatte sich gegen das Ende seiner Laufbahn in New-York niedergelassen. Nach kurzer Ehe hatte seine Frau das Unglück, sich beim Singen ein Blutgefäß zu sprengen. Poe schreibt hierüber: „Ich nahm Abschied von ihr für immer und litt alle Qualen ihres Todes; sie genas theilweise – ich hoffte wieder. Nach einem Jahre barst das Blutgefäß von Neuem und ich machte genau dasselbe durch, dann wieder, wieder und wieder in verschiedenen Zwischenräumen, und nach jedem neuen Eintritt der Störung liebte ich sie mehr und klammerte mich mit verzweifelterer Hartnäckigkeit an ihr Leben. Doch ich bin von Konstitution in ungewöhnlichem Grade sensitiv und nervös. Mein Geist umnachtete sich mit langen, fürchterlichen Zwischenräumen des Hellsehens. In diesen schrecklichen Paroxysmen – trank ich – Gott allein weiß, wie viel und wie oft. Selbstverständlich schoben meine Feinde meine Krankheit auf das Trinken, anstatt sich letzteres aus meiner Krankheit zu erklären.“
Zu diesen Leiden gesellte sich ein Mangel an allem Nöthigen, so daß die öffentliche Barmherzigkeit in Anspruch genommen werden mußte. Der drohende Verlust machte ihn unfähig zur Arbeit. Er duchirrte die Straßen wie im Wahnsinn, in unhörbarem Zwiegespräch mit seinen Geistern, die er stets zu beschwören wußte, die Augen in leidenschaftlichem Gebete aufwärts gewandt. Die Nacht hindurch pflegte er mit durchnäßten Kleidern den Stürmen zu trotzen, um im Aufruhr der Elemente seinen Schmerz zu betäuben. Der schließlich erfolgte Tod seiner Frau warf ihn auf ein langes Krankenlager, von dem er sich nur erhob, um öfter und öfter der Leidenschaft anheimzufallen, die ihn binnen Kurzem zerstörte. – Ulalume und Annabel Lee stammen aus der Zeit seiner Trauer und sind in ihrer süßen Melancholie wohl das Rührendste, was er gedichtet.
Noch einmal macht er den ernsten Versuch, seinem verfehlten Leben eine neue Richtung zu geben. Er tritt nach langer Pause mit einer bedeutenden Arbeit an die Oeffentlichkeit, die er dem Publikum zuerst durch Vorlesungen vermittelt: es sind die später unter dem Titel „Eureka, a prose Poem“ veröffentlichten Abhandlungen über die Entstehung des Weltalls. Auch seinen häuslichen Verhältnissen sollte frischer Reiz verliehen werden. Er war an die Stätte seiner Kindheit zurückgekehrt und hatte sich dort mit einer Dame verlobt, die er in seiner Jugend gekannt. Kurz vor der beabsichtigten Verheirathung unternahm er eine Reisen nach New-York, um einer literarischen Verpflichtung nachzukommen; auf dem Schiff gerieth er in schlimme Gesellschaft, die einen abermaligen Rückfall in sein Leiden herbeiführte, und aus dieser Umnachtung erwachte er nicht wieder. Er starb einen Tag darauf am 7. Oktober 1849.
Wir wenden uns den echten und rechten Verkündern des Schönen zu, sie allein sind mächtig Klarheit und Freude zu geben, in ihnen finden wir den Ausdruck unsres reinsten und besten Empfindens; aber auch Irrsterne wandeln nah’ der Sonne, blutroth, unheimlich, doch göttlichen Ursprungs. In Poe war ein Funke von der heiligen Flamme des Genius und der ist wie das Knöchelchen Albadaran der arabischen Sage, das den Körper überdauert.
H. L.
- Hedwig Lachmann, Einleitung zu: Ausgewählte Gedichte, von Edgar Allan Poë. Übertragen von Hedwig Lachmann. Berlin, 1891.↩