§ 8. [Natur, Erfahrung, Philosophie]
Als der denkende, freie, universelle Geist wieder erwacht war und sich objektives Dasein gab, war es eine notwendige Folge, daß wie die alte heidnische Welt, so auch vor allem die Natur wieder zu Ehren kam, die elende Stellung einer bloßen Kreatur verlor und in ihrer Herrlichkeit und Erhabenheit, in ihrer Unendlichkeit und Wesenhaftigkeit zur Anschauung kam. Die Natur, die im Mittelalter einerseits in die Nacht gänzlicher Ignoranz und Vergessenheit versunken, andererseits nur mittelbar, durch das trübe Medium einer überlieferten und überdies noch übelverstandenen Physik Gegenstand war, wurde daher jetzt wieder unmittelbarer Gegenstand der Anschauung, ihre Erforschung ein wesentliches Objekt der Philosophie und die Erfahrung, weil die Philosophie oder Erkenntnis der Natur als eines vom Geiste unterschiedenen Wesens keine unmittelbare, mit dem Geiste identische, sondern durch Versuche, sinnliche Wahrnehmung und Beobachtung, d. i. die Erfahrung bedingte und vermittelte Erkenntnis ist, eine Sache der Philosophie selbst, eine allgemeine wesentliche Angelegenheit der denkenden Menschheit.15) Die Naturwissenschaften bekamen erst in neuerer Zeit welthistorische Bedeutung, bildeten erst in ihr eine zusammenhängende Geschichte, eine fortlaufende Reihe von Entdeckungen und Erfindungen. Eine Sache tritt aber nur dann erst in welthistorische Bedeutung und Wirksamkeit, wird erst dann mit wahrem Erfolge betrieben und bringt erst dann eine zusammenhängende, qualitativ fortschreitende, mit innerer Notwendigkeit vor sich gehende Geschichte hervor, wenn sie ein objektives Weltprinzip zu ihrem Grunde hat, denn nur dann ist sie notwendig, und diese objektive Notwendigkeit allein ist der Grund, daß sie in produktiver, frucht- und erfolgreicher Entwicklung fortschreitet, eben weil sie nicht von bloß subjektiven Bestrebungen und partikulären Neigungen ausgeht und abhängt. Dieses objektive Geistes- und Weltprinzip der neuern Zeit, in dem die Notwendigkeit und der Grund der neuern Erfahrungswissenschaften lag, war aber im allgemeinen kein anderes als eben der zur Selbständigkeit und zum freien Bewußtsein gelangte denkende Geist.
Die Erfahrung (im Sinne wissenschaftlicher Erfahrung, nicht im Sinne der Erfahrung, die eins mit dem Leben, Erleben ist) ist nämlich nicht, wie man es sich bisweilen vorzustellen pflegt, ein unmittelbar sich von sich selbst ergebender und verstehender, ein kindlicher, ebensowenig ein ursprünglicher, durch sich selbst begründeter, sondern wesentlich ein bestimmtes Geistesprinzip als seinen Grund voraussetzender Standpunkt. Der Standpunkt der Erfahrung setzt, wie sich von selbst versteht, zunächst den Trieb voraus, die Natur erkennen und ergründen zu wollen, ein Trieb, der selbst wieder hervorgeht aus dem Bewußtsein über den Zwiespalt von Sein und Schein, aus dem Zweifel, daß die Dinge so sind, wie sie erscheinen, daß das Wesen der Natur so geradezu und ohne weiteres bei der Hand ist und in die Sinne fällt, setzt also Kritik, Skepsis voraus; daher auch die Anfänger der neuern Philosophie, Bacon und Descartes, ausdrücklich mit ihr anhuben, jener, indem er zur Bedingung der Naturerkenntnis die Abstraktion von allen Vorurteilen und vorgefaßten Meinungen macht, dieser in seiner Forderung, daß man im Anfange an allem zweifeln müsse. Diese Skepsis setzt aber selbst wieder voraus, daß der Geist im Menschen und mit ihm das menschliche Individuum sich im Unterschiede von der Natur erfaßt, daß der Geist eben diesen seinen Unterschied von der Natur als sein Wesen erkennt und in dieser Unterscheidung wie sich, so die Natur zum wesenhaften Objekte seines Denkens macht. Nur auf Grund dieses Prozesses hat der Mensch erst wahrhaftes Interesse, Trieb und Lust, erfahrend und erforschend an die Natur zu gehen, denn eben in dieser Unterscheidung frappiert ihn erst der Anblick der Natur wie den Jüngling der Anblick der Jungfrau, wenn er in das Bewußtsein des Unterschieds gekommen ist, ergreift ihn erst der unwiderstehliche Trieb und Reiz, sie zu erkennen, und wird die Erkenntnis der Natur sein höchstes Interesse.
Der Standpunkt der Erfahrung setzt daher als seinen Grund das Geistesprinzip voraus, das auf bestimmte, wenngleich höchst unvollkommene und subjektive Weise in Descartes sich aussprach und vor das denkende Bewußtsein des Menschen gebracht wurde. Der geistige, der mittelbare Vater der neuern Naturwissenschaft ist daher Descartes. Denn Bacon, obwohl er etwas früher ist und in einem sinnlich und sichtbar näheren Zusammenhang mit dem Standpunkt der Erfahrung, in einer augenscheinlicheren Beziehung zu ihm steht, setzt doch dem Wesen nach das Prinzip des selbstbewußten, sich im Unterschiede von der Natur erfassenden und sie als sein wesentliches Objekt sich gegenübersetzenden Geistes, also das Prinzip voraus, das als solches Descartes zuerst zum Objekte der Philosophie machte. Der unmittelbare oder sinnliche Vater der neuern Naturwissenschaften ist Bacon, denn in ihm machte sich das Bedürfnis und die Notwendigkeit der Erfahrung rein für sich und unbedingt geltend, sprach sich zuerst das Prinzip der Erfahrung als Methode mit rücksichtsloser Strenge aus.16)
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15) Die ersten eigentlichen Anfänge der neuern Philosophie liegen daher auch in den naturphilosophischen Anschauungen der Italiener Cardanus, Bernardinus Telesius, Franz Patritius, Jordano Bruno, der die Anschauung der Natur in ihrer göttlichen Fülle und Unendlichkeit auf die geistreichste und bestimmteste Weise aussprach.
16) Die Reduktion der Naturwissenschaft auf das Cartesianische Geistesprinzip läßt sich nur insofern rechtfertigen, als die ersten Prinzipien unserer bisherigen Naturwissenschaft im wesentlichen mit dem Prinzip der Cartesianischen Philosophie übereinstimmen mathematische, mechanische Prinzipien sind. Abgesehen davon aber ist Bacon nicht nur der sinnliche, wie es im Paragraphen heißt, sondern der wahre Vater der Naturwissenschaft, denn er ist es, der zuerst die Originalität der Natur erkannte — erkannte, daß die Natur nicht aus mathematischen, logischen und theologischen Voraussetzungen, Antizipationen, sondern nur aus sich selbst begriffen und erklärt werden könne und dürfe, während Descartes seinen mathematischen Kopf zum Original der Natur macht. Bacon nimmt die Natur, wie sie ist, bestimmt sie positiv, durch sich selbst, Descartes nur negativ, nur als das Gegenteil des Geistes; Bacon hat zu seinem Gegenstand die wirkliche Natur, Descartes nur eine abstrakte, mathematische, gemachte Natur.