§ 4. [Kirche, Philosophie, Scholastik]
Als der negativ religiöse Geist in der Kirche sich zu einer weltbeherrschenden Macht erhoben, die anfangs nur innerliche, in der Gesinnung existierende Verkennung und Verachtung alles sogenannten Weltlichen endlich bis zur weltlichen, gewaltsamen Unterdrückung des Weltlichen gesteigert, selbst die Oberherrschaft der Kirche, als des Inbegriffs des Geistlichen, über den Staat, als den Inbegriff des Weltlichen, sich angemaßt hatte, bestand seine Negativität gegen Künste und Wissenschaften näher darin, daß er sie band und gefangennahm, sie nicht frei gewähren, ihnen keine Selbständigkeit angedeihen ließ, sondern sich ihrer nur als Mittel einerseits zu seiner Verherrlichung, andererseits zu seiner Befestigung bediente. Allein gerade diese scheinbar nur dienstfertigen Geister führten notwendig den Sturz der Herrschaft jenes negativ religiösen Geistes und seiner äußern Existenz, der Kirche, von innen aus herbei, ein Sturz, der die unvermeidliche Folge eben dieser seiner beschränkten Einseitigkeit, seiner unterdrückenden Negativität war.
Obgleich nämlich die scholastische Philosophie im Dienste der Kirche stand, inwiefern sie ihre Sätze anerkannte, bewies und verteidigte, ging sie doch hervor aus einem wissenschaftlichen Interesse, weckte und erzeugte sie doch freien Forschungsgeist. Sie machte die Gegenstände des Glaubens zu Gegenständen des Denkens, hob den Menschen aus der Sphäre des unbedingten Glaubens in die Sphäre des Zweifels, der Untersuchung, des Wissens, und indem sie die Sachen des bloßen Autoritätsglaubens zu beweisen und durch Gründe zu bekräftigen suchte, begründete sie gerade dadurch, größtenteils wohl wider Wissen und Willen, die Autorität der Vernunft und brachte sie so ein anderes Prinzip in die Welt, als das der alten Kirche war, das Prinzip des denkenden Geistes, das Selbstbewußtsein der Vernunft, oder bereitete sie es doch wenigstens vor.5) Selbst die Mißgestalt und Schattenseite der Scholastik, die vielen absurden Quästionen, auf die die Scholastiker zum Teil verfielen, selbst ihre tausendfältigen, unnötigen und zufälligen Distinktionen, ihre Kuriositäten und Subtilitäten müssen aus einem vernünftigen Prinzipe, aus ihrem Lichtdurste und Forschungsgeiste, der sich aber eben in jenen Zeiten und unter der drückenden Herrschaft des alten Kirchengeistes nur so und nicht anders äußern konnte, abgeleitet werden. Alle ihre Quästionen6) und Distinktionen waren nichts anderes als mühsam eingegrabene Ritze und Spalten in dem alten Gemäuer der Kirche, um zum Genusse des Lichtes und frischer Luft zu gelangen, nichts anderes als Äußerungen eines Tätigkeitstriebes des denkenden Geistes, der, wenn er entzogen dem Kreise vernünftiger Gegenstände und angemessener Beschäftigungen in einem Gefängnisse eingesperrt ist, jeden Gegenstand, den er eben zufällig findet, er sei auch noch so geringfügig, noch so unwürdig der Aufmerksamkeit, zu einem Objekte seiner Beschäftigung macht, aus Mangel an Mitteln selbst auf die an sich absurdeste, kindischste und verkehrteste Weise seinen Tätigkeitstrieb befriedigt. Erst da, wo die Scholastik selbst nur noch eine tote historische Reliquie war, schmolz sie ganz im Widerspruch mit ihrer ursprünglichen Bedeutung und Bestimmung mit der Sache des alten Kirchentums in eins zusammen und wurde sie die heftigste Gegnerin des erwachten besseren Geistes.7)
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5) Auch Tennemann gibt in seiner »Geschichte der Philosophie« diese Bedeutung der Scholastik.
6) Selbst die absurdesten und frivolsten Quästionen der Scholastiker, wie z.B., »an asinus possit bibere baptismum? an corpus Christi potuerit esse in Eucharistia ante incarnationem eodem modo, quo nunc est? num Deus potuerit suppositare mulierem (i.e. personam assumere mulieris) num diabolum, num asinum, num cucurbitam, num silicem? et quemadmodum cucurbita fuerit concionatura, editura miracula, figenda cruci?«, müssen hierher gerechnet werden.
7) Ähnliche Erscheinungen sind sehr häufig in der Geschichte. Aber exempla sunt odiosa.