§ 16. Das Objekt der Naturwissenschaft
Die menschliche Macht oder Praxis hat zu ihrem Ziel oder Objekt, irgendeinem gegebenen Körper [eine] oder mehrere neue Beschaffenheiten beizubringen; das menschliche Wissen aber hat zu seinem Ziele oder Objekte die Erkenntnis der Form oder wahren Differenz oder erzeugenden Natur oder Emanationsquelle irgendeiner gegebenen einfachen Beschaffenheit oder Qualität. (l. c., II, A. 1)
Die wesentlichen Eigenschaften der Form sind erstlich, daß mit ihrem Dasein untrüglich zugleich das Dasein der Qualität oder Natur, deren Form sie ist, gesetzt ist, daß sie daher durchgängig da ist, wenn jene Qualität da ist, und umgekehrt, daß mit ihrer Abwesenheit auch zugleich die Abwesenheit der Qualität gesetzt ist, sie daher durchgängig fehlt, wenn diese fehlt; zweitens, daß sie eine Qualität aus einer andern Qualität, die allgemeiner als sie selbst (als die Form selbst) ist, ableitet. Die Form einer Sache oder Qualität findet sich daher ohne Ausnahme in allen einzelnen Instanzen vor, in denen sich die Sache oder Qualität vorfindet, denn sonst wäre sie nicht die Form, obgleich die Form in einigen Instanzen offenbarer hervortritt, nämlich in denen, in welchen sie durch andere Beschaffenheiten weniger beschränkt, zurückgestellt und gehemmt ist. Es kann sich daher auch in dem ganzen Umfang der Instanzen, in denen die Form erscheint, auch nicht eine kontradiktorische Instanz vorfinden, sie wird von jeder ohne Unterschied bejaht. (l. c., A. 20)
Ein Beispiel von dem Wesen der Form sei die Form der Wärme. Durch alle einzelnen Instanzen hindurch, d.h. an allen auch noch so verschiedenen Dingen und Stoffen, in denen die Wärme erscheint und sich äußert, zeigt sich, daß ihre Form offenbar nichts anderes ist als eine Begrenzung oder besondere Bestimmung der Bewegung. Die Bewegung steht also zur Wärme im Verhältnis der Gattung, nicht als wenn die Wärme die Bewegung erzeuge oder die Bewegung die Wärme (wiewohl auch dieses teilweise seine Richtigkeit hat), sondern so, daß die Wärme selbst oder das eigenste Wesen der Wärme gar nichts anderes ist als die Bewegung begrenzt durch gewisse Differenzen, daß sie also eine bestimmte Art der Bewegung ist. Diese Differenzen aber sind erstlich die Bestimmung, daß die Wärme eine expansive Bewegung ist, durch welche sich der Körper eine größere Ausdehnung zu geben sucht; zweitens die Bestimmung, eine Modifikation der ersten, daß die Wärme, obwohl eine expansive Bewegung, doch zugleich aufwärts strebt; drittens die, daß die Wärme nicht eine gleichförmig ausdehnende Bewegung des ganzen Massenumfangs, sondern nur der kleineren und inneren Teile eines Körpers und zugleich eine stets gehemmte und zurückgetriebene Bewegung ist, daher die Wärme eine stets in sich abwechselnde, gleichsam flackernde, beständig zitternde und weiterstrebende und durch den Rückstoß gereizte Bewegung hat, welche die Ursache der Heftigkeit und Wut des Feuers und der Wärme ist; viertens die Bestimmung, daß diese penetrante und irritierte Bewegung keine langsame, sondern heftige und selbst durch die kleineren, wenn auch nicht die allerkleinsten und feinsten Teile des Körpers hindurchgehende Bewegung ist. (l. c.)
Die Form ist daher nicht etwa eine abstrakte Idee oder nicht materiell oder schlecht bestimmt. Die Formen sind nichts anderes als die Gesetze und Bestimmungen der reinen Naturwirksamkeit oder Wirklichkeit, welche das eigentümliche Wesen irgendeiner Qualität, wie z.B. der Wärme, des Lichts, der Schwere, in allen für sie empfänglichen Dingen, sie seien auch sonst noch so verschieden, auf eine identische Weise bestimmen und konstituieren. Die Form der Wärme und das Gesetz derselben ist daher dasselbe. Die Form einer Sache ist eben das eigenste Wesen einer Sache, ist nichts anderes als sie selbst; Sache und Form unterscheiden sich nicht anders, als sich Erscheinung und Existenz, Äußeres und Inneres, Subjektives und Objektives unterscheiden. (l. c., A. 17, 13)
Wenn einem die Formen deswegen etwas abstrakt erscheinen sollten, weil sie Einheiten sind, verschiedenartige Dinge verbinden und in eine und dieselbe Gattung oder Kategorie stellen, wie z.B. die Wärme der himmlischen und irdischen Körper, so bemerken wir ihm nur noch, daß es allerdings gewiß ist, daß in der Natur die verschiedenartigen Dinge durch bestimmte Formen oder Gesetze zu einer gemeinschaftlichen Einheit verbunden sind und daß die Emanzipation der menschlichen Macht von dem gemeinen Lauf der Natur und die Erweiterung und Erhöhung der menschlichen Erfindungskraft einzig und allein von der Erkenntnis dieser Einheiten oder Formen abhängt. (l. c., A. 17)
Das wesentlichste Objekt der Naturphilosophie muß daher überall die Einheit sein, denn alles, was die Natur eint, bahnt uns den Weg zur Erkenntnis der Formen. Selbst die Instanzen in der Natur, die ganz isoliert für sich allein dastehen, nichts gemein zu haben scheinen mit andern Dingen derselben Gattung, wie z.B. der Magnet unter den Steinen, das Quecksilber unter den Metallen, der Elefant unter den vierfüßigen Tieren, müssen uns dazu dienen, die Natur zu einen, um die Gattungen oder die allgemeinen Qualitäten zu finden, die erst nachher durch wahre Differenzen zu bestimmen sind. Man muß solange rastlos fort untersuchen, bis man irgendein bestimmtes, allgemeines Gesetz oder eine Form aufgefunden hat, auf welche sich die besondern Eigenschaften dergleichen seltsamen Dinge, die für Wunder der Natur angesehen werden können, reduzieren lassen, alle ungewöhnlichen oder einzig in ihrer Art dastehenden Erscheinungen in die Abhängigkeit von irgendeiner allgemeinen Form gebracht und so erkannt hat, daß das Wunder einzig und allein nur in den speziellen Differenzen dieser Form, nur im Grad und dem seltenen Zusammentreffen noch anderer Bestimmungen, nicht aber in der Art oder dem Wesen selbst liegt. Aus demselben Grunde muß man auch bei Mißgeburten und anderen ähnlichen Verirrungen der Natur nicht eher von der Untersuchung abstehen, als bis man die Ursachen dieser Abweichungen gefunden hat. (l. c., A. 26, 28, 29)
Darum hat sich auch der menschliche Verstand besonders davor zu hüten, daß er nicht etwa nur bei besondern, untergeordneten, beschränkten Einheiten oder Formen stehenbleibe und eine größere Einheit zu suchen unterlasse, in der Voraussetzung, als wäre die Natur gleichsam schon von der Wurzel an ein Geteiltes und Vielfältiges und eine höhere, umfassendere Einheit der Natur eine bloße Subtilität, ein reines Abstraktum. (l. c., A. 26)
Die Naturphilosophie hat daher die Einheit auch der Dinge, die bisher für ganz heterogen galten, nachzuweisen, diese vermeintliche Ungleichartigkeit nicht als einen wesentlichen, substanziellen Unterschied, sondern nur als eine Modifikation einer gemeinsamen Qualität aufzuzeigen und durch diese Reduktion der Verschiedenheit und Besonderheit auf die Einheit der Natur gleichsam die Masken, die sie in den besondern konkreten Körper verhüllen und unerkenntlich machen, herunterzuziehen. So hielt man bisher, um nur ein Beispiel anzuführen, die Sonnenwärme, die animalische Wärme und die Wärme des Feuers für wesentlich verschiedene Arten, in der Meinung, daß nur die himmlische und animalische Wärme Leben zeugten und erhielten, die Wärme des Feuers dagegen nur Verderben und Vernichtung bewirke. Allein die Erfahrung, daß eine Weinrebe auch in einem Hause, wo beständig das Feuer erhalten wird, reife Trauben hervorbringt, beweist, daß auch die Wärme des Feuers dasselbe bewirkt, was die Sonnenwärme. Die Naturphilosophie hat daher ihre vermeintliche wesentliche Verschiedenartigkeit zu verwerfen und ihre, obwohl sehr bedeutend unterschiedenen Wirkungsweisen oder Eigenschaften doch nur als besondere Bestimmungen oder Modifikationen einer und derselben Natur oder Wesenheit zu erkennen. (l. c., A. 35)
Selbst bloße Analogien darf darum die Naturphilosophie nicht etwa als bloße Absurditäten verwerfen; im Gegenteil, sie muß sie aufsuchen, denn sie sind die untersten Stufen in der Erkenntnis der Einheit der Natur. Eine solche, und zwar nicht absurde, Analogie ist z.B., daß der Mensch eine umgekehrte Pflanze ist; denn bei der Pflanze ist die Wurzel, gleichsam ihr Haupt, unten, die Samenteile aber oben, dagegen bei dem Menschen ist das Haupt, gleichsam die Wurzel der Nerven und Lebensfunktionen, oben, die Samenorgane aber sind unten. (l. c., A. 27)
Also das wesentliche Objekt der Naturphilosophie ist und bleibt die Erkenntnis der Formen. Denn wer sie erkannt hat, begreift die Einheit der Natur auch in den verschiedensten Materien. Nur wer sie findet, ist daher auch allein im Besitze der wahren Anschauung der Natur und hat die Macht, frei und unbeschränkt auf sie einzuwirken und Werke hervorzubringen, die weder der verändernde Wechsel der Natur noch der nur ins einzelne gehende Fleiß der Empirie noch der Zufall selbst würde je hervorgebracht haben und die nie einem Menschen auch nur in den Sinn gekommen wären. (l. c., A. 3)
Wer die allgemeinen, wesentlichen Formen der Materie erkennt, ist gewissermaßen allwissend, denn durch sie weiß er, was sein kann, und daher auch im wesentlichen, was war was ist und was sein wird. (»Descript. Globi Intell.«, c. 5)