§ 35. Das Leben Gassendis und seine Bedeutung in der Geschichte der Philosophie
Ein Beförderer des Empirismus von großem Ruhm — der ausgezeichnetste Philosoph unter den Humanisten und der gelehrteste Humanist unter den Philosophen, wie ihn Bayle nennt — war der Zeitgenosse und Freund Hobbes', Peter Gassendi, erst Domprobst zu Digne, dann Professor der Mathematik am Collège Royal zu Paris, geboren 1592 in einem kleinen Orte des französischen Bistums Digne. In seiner Jugend hatte er die aristotelische Philosophie, die damals noch allein auf den Schulen herrschte, nicht nur studiert, sondern selbst auch mehrere Jahre als Professor der Philosophie vorgetragen. Aber Aristoteles hatte bei ihm frühzeitig durch die Lektüre Ciceros, Petrus Ramus', Ludwig Vives' und anderer seine Autorität verloren. Er genügte ihm so wenig, daß er seine Ansichten, wenn er sie am Vormittag seinen Schülern erklärt hatte, am Nachmittage widerlegte. Seine erste Schrift war daher auch gegen Aristoteles, wenigstens den von der Schule vergötterten Aristoteles, gerichtet und im Geiste der Skepsis geschrieben.67) Ihr Titel ist: »Exercitationes paradoxicae adversus Aristoteleos«. Seine Neigung zog ihn dagegen zur Philosophie des Epikur hin, die er daher wieder hervorrief und in folgenden Schriften erläuterte: »De vita et moribus Epicuri«, »Animadversiones in X Librum Diog. Laertii«, »Syntagma Philosophiae Epicuri«.
Gassendi erwarb sich durch die Wiederbelebung der epikurischen Philosophie vielen Beifall. Dem die Natur sezierenden und auf das Sinnliche gerichteten Geist des Empirismus mußte die von sinnlich bestimmten Prinzipien ausgehende und die Natur zerlegende demokritische oder epikurische Atomenlehre sich natürlich mehr empfehlen und mehr entsprechen als die aristotelische Philosophie. So zog schon Bacon den Demokrit dem Aristoteles vor. So hatten auch die Ärzte Claude de Berigard († 1663) und Johann Chrysostomus Magnenus in seinem »Democritos reviviscens« die Atomenlehre wiederzubeleben gesucht.
Gassendis Philosophie, sein »Syntagma philosophicum« enthalten die beiden ersten Foliobände seiner Werke, die im ganzen aus 6 Bänden bestehen und zu Lyon 1658 erschienen. Sein Leben, das im Jahre 1655 endete, beschrieb Samuel Sorbière.
Gassendi kommt keineswegs in der Geschichte der Philosophie nur als reproduzierender, gelehrter, historischer Philosoph in Betracht, sondern auch als Selbstdenker. »Welche Pöbelhaftigkeit«, ruft er daher mit Indignation den Aristotelikern zu, »in Dingen, welche nicht die Religion, wo man freilich den Verstand unter den Gehorsam des Glaubens gefangennehmen muß, sondern die Natur betreffen, der Autorität dieses oder jenen Philosophen seinen Geist zu unterwerfen! Und welche Faulheit, statt mit den eigenen Augen nur mit den Augen des Aristoteles zu sehen und statt die Natur selbst nur die Schriften des Aristoteles über die Natur zu studieren! Und welche Kleinmütigkeit, den eigenen Kräften und Anlagen zu mißtrauen, zu Glauben, daß die Natur sich in einem Genie erschöpft habe, daß sie folglich keine Menschen mehr, sondern nur noch Affen hervorbringen könne, gleich als wenn die Natur nicht immer sich gleichbliebe und daher nicht ebensogut noch heute wie einst große Geister erzeugen könnte.« (»Exercit. parad.«, L. I, Exerc. II) In diesem Geiste, in dem hier Gassendi die Aristoteliker anredet, hat er denn auch die epikurische Philosophie sich angeeignet — nicht als Affe, sondern als Mensch, nicht als Wiederkäuer, sondern als Selbstdenker. Er weicht von Epikur keineswegs nur da ab, wo er sich nicht mit der christlichen Theologie verträgt und wo sich freilich Gassendi große Inkonsequenzen zuschulden kommen läßt, sondern auch da, wo seine Lehren sich nicht mit der Vernunft und den Fortschritten der Naturwissenschaften vertragen, so daß in dieser Beziehung E. nur der historische Anknüpfungspunkt ist für Gassendis eigene Gedanken und seine trefflichen, lichtvollen Entwickelungen von den Entdeckungen der modernen Physik und Astronomie.68)
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67) Vergl. »Exercitationes paradoxicae«, Lib. II, Exercitio VI, deren Resultat ist: »Nihil adhuc vere sciri per Philosophiam universam ex Rebus Naturalibus.« »Du wirst sagen«, läßt er den Schulphilosophen reden, »daß in der Sonne Form und Materie sei, sagen, daß in der Luft Form und Materie sei, sagen, daß im Regen Form und Materie sei, sagen, daß im Steine, sagen, daß im Baume, sagen, daß im Menschen Form und Materie sei. O herrliche Philosophie! Alles hat Materie und Form! Damit wissen wir alles! Wozu plagen wir uns also noch mit der Ergründung der Natur?«
68) Die Bedeutung Gassendis hat Schaller in seiner »Geschichte der Naturphilosophie«, I. Bd., richtig bestimmt. Ich konnte, ohne den ganzen Standpunkt meiner Geschichte zu verrücken, mein früheres Urteil über Gassendi nicht anders berichtigen und erweitern als in der hier geschehenen Weise. Auch hatte ich leider bei der Revision meiner Darstellung Gassendis nur seine »Exercitationes« und »Animadversiones in Diog. Laert.«, die übrigens allerdings eine kompendiarische Übersicht über den ganzen Descartes gewähren, zur Hand.