§ 69. Ausbildung der Cartesianischen Philosophie durch Arnold Geulincx

 

Nicht ohne Interesse für die Geschichte der Erkenntnis ist das System des Arnold Geulincx besonders auch deswegen, weil es in der offnen Behauptung, die Vereinigung von Leib und Seele und überhaupt die Welt sei ein Wunder, ein Unbegreifliches, Unaussprechliches, den wahren Grund oder Ursprung aller Unbegreiflichkeiten, der in vielen Denkarten oder sogenannten Systemen der neuern Zeit versteckt ist, wenigstens nicht leicht gefunden wird, so klar und unverhohlen an den Tag legt. Man geht nämlich von einseitigen und beschränkten Begriffen oder Vorstellungen aus, die aber, ungeachtet ihrer Einseitigkeit und Beschränktheit, für absolute gelten, ohne bezweifelt, d. i. ohne in ihrer Beschränktheit erkannt zu werden, für die richtigen, die einzig annehmbaren genommen werden; im Verlaufe aber des Denkens nun kommt man auf Fakta, die jenen Vorstellungen widersprechen, aus ihnen nicht erkennbar, ja vielleicht geradezu die Verneinung derselben sind. Da man nun nicht auf die Begriffe, von denen man anfängt und die die Fundamentalbegriffe sind, zurückgeht, um sie in ihre Schranke zurückzuweisen, weil sie als die unbeschränkt, absolut wahren vorausgesetzt sind, so ist es eine notwendige Folge, daß man die aus jenen einseitigen Vorstellungen oder Begriffen nicht erkennbaren Fakta als unbegreiflich, als Grenzen der Vernunft selbst, als Dinge, die über die Vernunft hinausgehen, bestimmt, aus dem sehr begreiflichen Grunde, weil jene einseitigen Begriffe für die einzig vernünftigen, für die Vernunft selbst gelten, und daher, statt daß die Ursache dieser Unbegreiflichkeit in der Beschränktheit jener Begriffe erkannt, sie vielmehr auf die Vernunft selbst geschoben wird.

So ist es auch hier bei Arnold Geulincx der Fall. Er geht aus von dem Begriffe des Geistes als des sich nur im Unterschiede vom Materiellen wissenden Selbstes, das von ihm nicht in seiner Schranke, als ein Moment des Geistes erkannt ist, sondern ihm für den ganzen Geist, für das Wesen selbst des Geistes gilt, und von dem Begriffe der Ausdehnung als der einzig wesenhaften Bestimmung des Körpers. Beide Begriffe sind unvereinbar. Nun ist aber die Vereinigung von Leib und Geist ein Gewisses, ein Faktum, und jene Begriffe gelten für die einzig richtigen, für die absoluten, die vernünftigen oder mit der Vernunft identischen; die Vereinigung von Seele und Körper ist daher als ein über jene Begriffe Hinausgehendes, als ein ihre Einseitigkeit, die gerade ihre wesentliche Bestimmung ist, in der sie gerade als die richtigen festgehalten werden, Verneinendes, begreiflicherweise ein Unbegreifliches, die (negative) Grenze der Vernunft (weil jene einseitigen Begriffe für die positive Grenze der Vernunft gelten), nach Arnold Geulincx also ein nur von dem Willen Gottes Hervorgebrachtes, ein Wunder.

Es läßt: sich daher hieraus folgende Lehre und Regel für alle philosophischen Forschungen abstrahieren: Wo du nur immer im Verlaufe deines Denkens auf Unbegreiflichkeiten stößest, da sei gewiß, daß sie nur Folgen oder Erscheinungen von den Mängeln und Einseitigkeiten der Begriffe sind, von denen du als den einzig richtigen ausgehst, daß du auf eine höchst sonderbare, ja komische und selbst unredliche Weise und an einem sehr ungeschickten Orte, nämlich nicht am Anfang, wo du es hättest tun sollen, sondern erst hinterdrein, wo es zu spät ist, im Verlaufe oder am Ende deines Denkens die Unzulänglichkeit und Mangelhaftigkeit deiner prinzipalen Begriffe eingestehst. Wo du also auf Unbegreiflichkeiten stößest, da nimm dir die Mühe, auf den Anfang zurückzugehen, d.h. von vornen anzufangen, deine Fundamentalbegriffe zu prüfen, in ihrer Einseitigkeit zu erkennen oder sie und hiermit deinen ganzen Standpunkt selbst aufzugeben; kannst du das nicht, so sei wenigstens so bescheiden, deine Beschränktheit als die deinige zu erkennen, deine Schranken nicht zu den Schranken anderer oder gar der Vernunft selbst zu machen.

 

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125) Diese Darstellung ist aus Geulincxs Hauptwerk, seiner »Ethica« (Tract. I u. II), Amstel. 1696, geschöpft.

 


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