§ 30. Übersicht und Kritik der Hobbesschen Moral und Politik
Die Hobbessche Philosophie oder richtiger Empirie weiß nichts von Geist und Seele; in ihr, die einzig auf das Materielle das Gebiet des Denkens beschränkt, einzig den Körper zum Objekt der Philosophie macht, bloß ihn als das Denkbare kennt, kommt ja allein dem Körper Wirklichkeit und Substanzielles Dasein zu; in ihr kann daher auch von keiner Psychologie, d. i. Seelenlehre, die Rede sein, sondern nur von einer empirischen Anthropologie. Nur als sinnliches, einzelnes, empirisches Individuum kann daher auch bei ihr in der Moral der Mensch Objekt sein. Indem aber in ihr das einzelne sinnliche Individuum zugrunde gelegt und als solches fixiert wird als ein Reales, ist die Basis der Moral, der Wille, als Wille des sinnlichen Individuums, als eins mit seiner Sinnlichkeit und Einzelexistenz, notwendig auch ein sinnlicher, d. i. ungeistiger, unmoralischer Wille, d.h. Begierde, Verlangen. Und da der Träger und das Subjekt des Willens, das einzelne Individuum, bedingt, von außen bestimmt, den mechanischen Eindrücken und Einwirkungen der Objekte preisgegeben, kurz, ein schlechtweg und durchaus determiniertes ist, so ist auch der Wille notwendig hier ein Determiniertes, Abhängiges; er ist nichts als eine von den Objekten des Willens selbst hervorgebrachte Bewegung des Bluts und der Lebensgeister. So wie ferner das Individuum nicht nur ein einzelnes, sondern notwendig auch ein besonderes, von andern Individuen unterschiedenes ist, so ist auch das Objekt des Willens, der zu seiner Grundlage das einzelne und besondere, unterschiedene Individuum hat, das Gute nur ein besonderes, verschiedenes, rein individuelles, nur relatives. Nichts ist an und für sich gut oder böse; das Maß dessen, was gut oder böse ist, ist das sinnliche Individuum. Das Gute hat daher nur die Bedeutung des Wohltuenden, Angenehmen, Lusterweckenden, Nützlichen, das Böse die Bedeutung nur eines Übels, des Unangenehmen, Schädlichen. Das größte aller Güter ist auf diesem Standpunkt notwendig die Selbsterhaltung, das größte aller Übel der Tod.55)
Da der Mensch nur als sinnliches, d. i. einzelnes Individuum Gegenstand und Grundlage der Hobbesschen Empirie und in dieser sinnlichen Einzelheit als ein Selbständiges und Reales fixiert ist, so ist es daher auch notwendig, daß der Staat in ihr nichts Ursprüngliches und Ansichseiendes, sondern nur etwas entweder durch Gewalt und Unterwerfung oder durch freiwillige Übereinkunft und Verträge von den Individuen selbst Hervorgebrachtes und Gemachtes56) und ihm daher der Zustand der unbeschränkten Selbständigkeit und Freiheit der einzelnen Individuen als der sogenannte Naturzustand vorausgesetzt ist. Der Staat, die Vereinigung der in ihrer sinnlichen Einzelheit und Individualität als selbständig und real vorausgesetzten, in dieser Selbständigkeit und Realität ihrer sinnlichen Einzelheit nicht nur gegen alle Verbindung und gegeneinander selbst gleichgültigen, sondern auch feindseligen Individuen kann daher nur ein gewaltsamer Zustand sein, die Einheit nicht des Organismus, sondern der erdrückenden, nicht unterordnenden, sondern unterwerfenden, d. i. der blinden, rohen, mechanischen Gewalt. Da der Staat nur eine äußere Verbindung ist, nicht aus innerer Notwendigkeit hervorgeht, so bleiben die Individuen, obwohl sie im Staate das Prädikat und die Bestimmung Bürger bekommen und in bezug auf den tyrannisch unterdrückenden Staat alle Rechte verlieren, in bezug auf ihre Mitbürger statt des Rechts auf alles, welches ein jeder einzelne im Naturzustande hatte, nur das beschränkte Recht auf einiges behalten57), dennoch im Staate außer dem Staate, in der Verbindung außer der Verbindung, im sogenannten Naturzustande, d. i. einzelne für sich selbständige Individuen; denn an sich, ihrer Natur nach, sind sie gegen alle Staatsverbindung und Einheit gleichgültig, nur insofern sind sie es nicht, als sie im Staate den im allgemeinen Krieg des Naturzustandes unerreichbaren Zweck eines amönen Lebens erreichen können. Notwendig kann daher diese Masse, diese aufgelöste Menge der gegeneinander indifferenten Individuen nur durch eine unumschränkte Zwingherrschaft zusammengehalten werden und die Einheit, der Staat, nur in der obersten absoluten Staatsgewalt Existenz haben, so daß sie allein, sei sie nun die Herrschaft mehrerer oder eines Zwingherrn, das Volk, der Staat selbst ist.58) Der status civilis ist nun zwar ein von dem status naturalis unterschiedener Zustand, ja eine gewaltsame Negation, Verneinung desselben, indem er die in der Moral und im status naturalis vorausgesetzte Realität der einzelnen Individuen aufhebt, sie in bezug auf den Staat aller Rechte, Freiheit und Selbständigkeit beraubt; aber zugleich bleibt doch der Staat, obwohl gerade nur die Zwingherrschaft den Staat und folglich den Unterschied des status civilis vom st. naturalis ausmacht, im Naturzustande.59) Denn der Zwingherr hat das Recht auf alles, welches im Naturzustande jeder einzelne, hiermit alle hatten und wodurch der Naturzustand eben ein Naturzustand war; der status civilis unterscheidet sich daher nur darin vom status naturalis, daß in jenem auf einen einzelnen oder auf einige konzentriert und gehäuft ist, was in diesem alle hatten. Die absolute Unbeschränktheit, welche die oberste Staatsgewalt hat, macht diese gerade zu jener natürlichen Freiheit, die jeder einzelne im Naturzustande hat; sie bleibt, weil sie nicht beschränkt und bestimmt ist, unsittlich, ungeistig, unorganisch, den Begriff des Staats aufhebend, eine rohe Naturgewalt.
Dieser Widerspruch, der aus der ganzen Grundlage der Hobbes' Staatsrechtslehre hervorgeht, beruht besonders darauf, daß Hobbes unter Recht nichts versteht als die natürliche Freiheit, den Begriff des Rechts von dem des Staates absondert und außer den Staat hinaus in den fingierten Naturzustand hineinträgt. Der Staat hat dagegen nur die Bedeutung einer Aufhebung oder Einschränkung der unbeschränkten Naturfreiheit oder des Naturrechtes.60) In der obersten Staatsgewalt ist zwar noch die ganze überschwengliche Fülle des unbeschränkten Naturrechts unverkümmert zusammenund aufeinandergehäuft, aber eben wegen dieser Zusammenhäufung auf einen Punkt das Recht des Volks, der unter der Staatsgewalt Stehenden, nur der dürftige Rest, das magere, armselige Überbleibsel von dem, was von der anfangs unbeschränkten, durch den Staat aber eingeschränkten Sphäre des Rechts übrigbleibt, so daß der Staat zwar einerseits dem Naturzustande entgegengesetzt erscheint, andererseits aber doch wieder nicht qualitativ von ihm unterschieden ist, die Menschen nicht in einen dem Begriff und Inhalt nach, qualitativ und spezifisch vom Naturzustande unterschiedenen Standpunkt, auf eine sittliche und geistige Stufe versetzt, sondern nur als limitierter Naturzustand erscheint.