§ 70. Einleitung und Übergang von Descartes zu Malebranche

 

Aus der Philosophie des Descartes geht somit mit Notwendigkeit die Philosophie des Malebranche hervor, deren wesentlichster und für die Geschichte der Philosophie interessantester Gedanke ist, daß wir alle Dinge in Gott erkennen und sehen. Zu dieser spekulativen und allgemeinen Notwendigkeit kommt jedoch noch diese besondere hinzu: Schon Descartes sank von der dem erhabnen Satze »Cogito ergo sum« zugrunde liegenden spekulativen Idee, der Idee von dem geistigen Ursprung des Bewußtseins, von der Einheit des Denkens und Seins, sogleich herab in die populäre theologische Vorstellung des Geistes als des subjektiven, empirischen, einzelnen Selbstes als eines unvollkommnen, erschaffnen Wesens. Bei Malebranche dagegen, der ganz voll ist von theologischen Vorstellungen, bei dem sich die Lichtstrahlen seiner Gedanken fast immer in dem Medium der Theologie brechen, ist schon unmittelbar von vorneherein mit dem Geiste oder der Seele die Vorstellung des empirischen, individuellen, subjektiven Selbstes verbunden. Die Natur der Geister oder der Geist ist daher bei ihm ein endliches, beschränktes, ein erschaffnes oder — die unbestimmte Vorstellung des Erschaffens zu einem bestimmten Gedankenausdruck erhoben — ein besonderes Wesen; denn alles Erschaffne ist nach Malebranches Bestimmung ein Besonderes. »L'ame est un genre d'être particulier. Elle n'est qu'un tel être, un être très limité et très imparfait.« (»Eclairciss. sur le III. liv.«) Nun ist aber unbestreitbar, daß die Seele allgemeine Wahrheiten oder allgemeine Ideen hat und daß ein besonderes Wesen nicht über seine Besonderheit hinaus kann. Ein besonderes Wesen kann also keine allgemeinen Ideen in sich oder nach Malebranches Bestimmung, der die Ideen Modifikationen, Bestimmungen nennt, keine allgemeine Modifikationen haben. »Comment pourroiton voir dans une espèce d'être toutes les espèces d'êtres et dans un être particulier et fini un triangle ou un cercle en général et des triangles infinis? Nulle modification d'un être particulier ne peut être générale.« (l. c.) Eine allgemeine Idee wie z.B. die Idee der Ausdehnung (der Körperlichkeit und Räumlichkeit), in der wir alle körperliche Dinge sehen und sehen müssen, kann aber auch nicht etwa von den körperlichen Dingen kommen; denn sie sind ebensogut Besonderes und überdem ein Materielles, aus dem daher die Idee, die ein Ideales, ein Geistiges ist, nun und nimmermehr kommen kann, weil es mit ihr in keinem Verhältnis steht.

Nur in dem allgemeinen Wesen also, in dem Wesen, das nicht dieses oder jenes ist, nur in diesem sind und können sein allgemeine Ideen, nur in Gott erkennen wir daher die Dinge; denn wir erkennen nach Malebranche alles nur aus und in dem Allgemeinen, das Besondere setzt das Allgemeine voraus.

Gott ist also nach Malebranche nicht nur das Prinzip der objektiven Gewißheit, denn auch nach Malebranche wird der Geist erst durch die unendliche Substanz, in der Idee der absoluten Wahrheit der Realität der körperlichen Dinge gewiß (»Eclairciss. sur le I. liv.«), sondern Gott ist auch das Prinzip aller Erkenntnis, ja, die allgemeine Erkenntnis selbst, die allgemeine Weltanschauung aller Geister. Mit derselben Notwendigkeit aber, mit der die göttliche Substanz die allgemeine Weltanschauung aller Geister und daher das alle Geister Umfassende und Einende, der allgemeine Ort der Geister ist, wie Malebranche sagt, mit derselben ist er auch die einzig wahre Ursache und Tätigkeit, das Prinzip aller Tätigkeit und Bewegung wie in den Geistern, so in den körperlichen Dingen, der Materie oder Natur. Denn das Wesen der Natur ist bei Malebranche wie bei Descartes die Materie und ihre einzige reale Bestimmung die Ausdehnung; das Prinzip der Bewegung ist also nicht in ihr selbst oder ihrem Begriffe und Wesen enthalten; es liegt außer ihr, und zwar nur in der göttlichen Substanz als der Idealität aller Dinge. Gott ist daher nicht nur die allgemeine Ursache der Bewegung wie bei Descartes, sondern er ist auch und muß sein, wenn man konsequent die Prinzipien des Descartes fortentwickelt — da einmal außer dem Wesen der Materie die Bewegung liegt, folglich auch außer den bestimmten, besondern Körpern, deren Wesen eben die Materie oder Ausdehnung ist , die wahre Ursache der besondern Wirkungen oder Bewegungen. Die Naturursachen sind daher jetzt nur Gelegenheitsursachen, die die göttliche Substanz veranlassen, so oder so zu handeln, nicht wirkliche, wahrhafte Ursachen.

Ebensowenig als die Natur kann aber die Seele oder der Geist das Prinzip der Bewegung in sich haben. Denn die Materie steht dem Geiste selbständig gegenüber, ist darum für ihn ein weder im Denken als Idee — noch in der Zeit — als Bewegung — Überwindliches und Bestimmbares, ebenso wie für ihn ein nicht Intelligibles, ein nicht Bewegbares. Was dem Verstande ein andres, ein Finstres ist, das ist doch notwendig auch dem Willen ein solches. Worüber der Geist als denkendes Wesen nichts vermag, darüber vermag er doch auch nichts als wollendes. Die Seele kann daher selbst ihren Körper als Körper nicht aus sich selbst wahrhaft bestimmen oder bewegen, sie ist nicht die wahre, die positive, sondern nur die gelegenheitliche, veranlassende Ursache der Bewegungen, die auf ihren Willen erfolgen.

 


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