§ 71. Leben und Charakter Malebranches
Nikolaus Malebranche kam zu Paris 1638 mit einem sehr schwächlichen und selbst entstellten Körper auf die Welt. Ob ihm die Natur einen solchen Körper gab, um sich an ihm wegen seiner Verachtung alles Sinnlichen und Körperlichen, die er später in seiner Philosophie aussprach, im voraus zu rächen, oder ob sie ihm deswegen die Güter des Leibes vorenthielt, um ihn desto mehr den Wert der Geistesgüter fühlen zu lassen und ihm die Abstraktion von allem Materiellen, die der Charakter seines Lebens wie seiner Philosophie war, zu erleichtern, mögen die modernen Historiker entscheiden. Soviel ist übrigens gewiß, daß er wegen seiner Mißgestaltung in der Jugend den Umgang der Menschen scheute, aber um so fleißiger und lerneifriger war.
1660 trat er in das Oratorium (Congregationem patrum) zu Paris. Das Studium der Theologie, namentlich der Kirchengeschichte und Kritik der Bibel, mit dem er sich daselbst beschäftigte, ließ seinen Geist unbefriedigt. Glücklicherweise bekam er daher zufällig im 26. Jahre seines Lebens Cartesius' »Abhandlung vom Menschen« in die Hand; denn mit dieser Schrift ging mit einem Male ein neues Licht in seinem Geiste auf. Was er längst vermißt hatte, fand er in ihr: ein Wissen, das allein geeignet war, die Sehnsucht seiner Seele zu stillen, ein Wissen, von dem er bisher noch keine bestimmte Idee gehabt hatte. Die Bekanntschaft mit Descartes bildet daher auch den Wendepunkt seines Lebens. Denn seitdem gab er, die Mathematik ausgenommen, alle andere Wissenschaften für das ihn allein beseligende Studium der Philosophie hin, schloß alle nur gelehrte Bücher von seiner Lektüre aus, studierte nur noch, um seinen Geist zu erleuchten, aber nicht, um sein Gedächtnis vollzuladen.130) Als ihm die Historiker und Kritiker deswegen Vorwürfe machten, fragte er sie, ob Adam im Besitze des vollkommnen Wissens gewesen wäre. Als sie seine Frage bejahten, sagte er zu ihnen, daß das vollkommne Wissen also nicht Kritik und Geschichte wäre und daß er auch nichts weiter wissen wollte, als was Adam wußte. Bei diesem seinen entschiednen Enthusiasmus für die Philosophie ist es nicht zu verwundern, wenn er so schnelle und bedeutende Fortschritte in ihr machte, daß er schon 1674 sein Hauptwerk, »De la Recherche de la Vérité, ou l'on traite de Nature de l'Esprit de l'homme et de l'usage qu'il en doit faire pour eviter l'erreur dans les Sciences«, verfertigt hatte, wovon auch im nämlichen Jahre noch der erste Band im Drucke erschien.
Die schönste, die notwendigste und des Menschen würdigste Erkenntnis war Malebranche die Selbsterkenntnis, die Erkenntnis des Menschen. Der Gegenstand dieses seines vorzüglichsten Werkes ist daher auch der Geist des Menschen sowohl an sich als in seinem Verhältnis zum Körper und zu Gott, mit dem er nach ihm auf eine innigere und notwendigere Weise verbunden ist als mit dem Körper. Er zeigt darin, daß unsre Sinne, unsre Einbildungskraft und unsre Leidenschaften zu unsrer innern Glückseligkeit und zur Erkenntnis der Wahrheit uns gar nichts nützen, daß sie im Gegenteil uns verblenden und bei jeder Gelegenheit verführen, daß überhaupt alle Erkenntnisse, die der Geist durch den Körper oder auf Veranlassung gewisser Bewegungen im Körper erhält, in Beziehung auf die von ihnen vorgestellten Objekte ganz falsch und verworren, obgleich zur Erhaltung des Leibs und der leiblichen Güter nützlich sind. Er zeigt ferner darin die Abhängigkeit des Geistes von den sinnlichen Dingen, damit er aus seinem Schlafe erwache und von ihnen sich zu befreien bestrebe. Er untersucht die verschiednen Fähigkeiten des Geistes und die allgemeinen Quellen der Irrtümer, wobei er sich als einen trefflichen Psychologen bewährt, und gibt zuletzt dann die Methode an, wie man die Wahrheit erforschen soll.131)
Das Werk »De la Recherche de la Vérité« erregte, wie sich bei der Menge frappanter und neuer Ideen, die es enthält, nicht anders als erwarten ließ, sehr großes Aufsehen und erwarb Malebranche die Freundschaft vieler denkenden Menschen. Aber es wurden auch von verschiedenen Seiten her sehr harte Urteile darüber gefällt. Der erste, der es kritisierte, war der Abt Foucher. Es ging Malebranche wie allen tiefern Philosophen: Er wurde mißverstanden. Er ließ sich aber dadurch nicht in seiner Überzeugung noch in dem Frieden seines Geistes stören. Denn er erwartete kein andres Los, er wußte nur zu gut, daß die evidentesten und erhabensten metaphysischen Wahrheiten dem größten Teil der Menschen unbegreiflich, ja, lächerlich sind und daß vor allem Bücher, die allgemeine Vorurteile bestreiten, ohne weiteres verdammt werden und die Wahrheit, die anfangs nur als ein lächerliches und chimäres Phantom erscheint, nur mit der Zeit sich bewährt und offenbart.132)
1677 schrieb Malebranche seine »Conversations Chrétiennes«, um das Verhältnis seiner Philosophie zur Religion näher auseinanderzusetzen. Seine Lehre von der Idee und der Gnade und seine Behauptung, daß das Vergnügen glücklich mache, verwickelten ihn in Streitigkeiten mit Arnauld und Regis, mit dem er schon früher in betreff eines physikalischen Gegenstandes eine Fehde bestanden hatte. Mehrere Abhandlungen erschienen von beiden Seiten. 1680 erschien Malebranches Abhandlung »De la Nature et de la Grâce«, 1603 seine »Meditations Chrétiennes et Metaphysiques«, 1684 le »Traité de Morale«, 1688 »Entretiens sur la Metaphysique et sur la Religion«, worin er seine ganze, schon in seiner »Rech. de la V.« enthaltene Philosophie nochmals zusammenstellt und erörtert. Seine letzten Schriften waren »Entretien d'un Philosophe chrétien et d'un Philosophe chinois«, 1708, und »Réflexion sur la Prémotion physique«, 1715, als Antwort auf eine Schrift, die den Titel hatte: »De l'action de Dieu sur les créatures«. In diesem letztern Jahre, dem Todesjahre Malebranches, trat auch noch zu guter Letzt der Jesuit du Tertre gegen ihn auf.
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130) S. Fontenelles Éloge du P. Malebranche in seinen »Éloges des Academiciens« im V. Bd. seiner Œuvres, Amsterdam 1764, p. 267, 248.
131) Vergl. Malebranches Préface zum Tome premier seiner »Recherche de l.V.«.
132) Vergl. z.B. die interessante Vorrede zum zweiten Bande seiner »Rech. d. l. V.« u. I. Éclairc. sur le I. Liv. de l. »Rech. d. l. V.« u. Ecl. sur le III. Liv., X. Ecl., et Fontenelle, l. e., p. 256.