§ 80. Der wahre Sinn der Malebrancheschen Philosophie
Der Sinn des Malebrancheschen Grund- und Hauptsatzes, daß wir alle Dinge nur in Gott sehen, laßt sich einfach so veranschaulichen: Die Seele ist ein besonderes, bestimmtes Wesen, ebenso wie die Materie und alle materiellen Dinge solche bestimmte besondere Wesen sind, d. i., die Seele oder der Mensch ist ein dunkles, unklares, finstres Wesen ebenso wie die materiellen Dinge; denn die Besonderheit, die bestimmte Beschaffenheit verdunkelt, macht trüb und finster; das reine Wasser z.B. ist wohl hell, durchsichtig, aber ein Wasser mit besondern Ingredienzen und Beschaffenheiten ist trüb. Die Seele kann daher unmöglich in sich oder durch sich die Dinge erkennen und sehen; denn zum Erkennen und Sehen ist Licht erforderlich, sie kann als ein besonderes Wesen ebensowenig in sich und durch sich die Dinge erkennen, als wir durch ein besonderes, bestimmtes Licht die Farbe der Dinge wahrnehmen können, da die Anschauung der Farben die Anschauung des Lichts voraussetzt, nur in ihr möglich ist. Gott ist daher nur das Licht der Menschen; denn er ist kein besonderes, sondern ein allgemeines, beschaffenheitsloses Wesen; er ist allein das reine, das klare, durch keine Bestimmtheit getrübte Wesen; wir können daher nur in ihm die Anschauung der Dinge haben, wie wir nur im Lichte die Farben oder farbigen Dinge sehen. »Les idées que nous voyons en lui sont lumineuses.« (»Rep. ä Mr. Regis«)
Der wahre Sinn des Malebrancheschen Hauptsatzes ist also kein andrer als der: Gott ist die Vernunft oder der Geist in uns, oder: Der Geist, die Vernunft in uns ist Gott.138) »Elle (scl. la substance de Dieu) est la lumière ou la raison universelle des esprits.« (l. c. ) Da Malebranche den Geist nur im Sinn des einzelnen Geistes erfaßt, ihn für eins mit dem Menschen nimmt, der seine eigentliche individuelle Existenz nur in seinem moralischen und empfindenden Selbst, im Gefühl, Herz u. dgl. hat, kurz, so, wie er Objekt der Theologie und der empirischen Psychologie überhaupt ist, so war es ganz richtig und konsequent von ihm, so war er darin und nur darin allein Philosoph, daß er die allgemeinen Begriffe, die allgemeinen und notwendigen Ideen, die als diese dem einzelnen Geiste nicht angehören, nicht in ihm, nicht aus ihm sein können, in Gott setzte, ihn nur durch Gott die Dinge sehen und erkennen ließ.139) Der große Mangel an Malebranche aber ist eben der, daß er von jener Vorstellung des Geistes und allen mit ihr zusammenhängenden Folgen ausgeht und so überhaupt nicht frei wird von der Theologie. Aus dieser Verschmelzung der theologischen, besonders Augustinischen Vorstellungen mit seiner Philosophie ergeben sich alle Schwächen, Unbegreiflichkeiten, Willkürlichkeiten, Unklarheiten und Widersprüche in derselben. Daher kommen die vielen unpassenden Ausdrücke und Vorstellungen, die sich in ihm finden, daher, daß er von der Gnade, vom Willen, von der Macht Gottes ableitet, was er aus innrer Notwendigkeit, von bestimmten, Erkenntnis gewährenden Begriffen ableiten sollte. So bemerkt schon Locke (»Examen du sentiment du P. Malebranche etc.«, Œuvres diverses, Tom. II, p. 184, 169), der ihn übrigens, so recht er in vielen einzelnen Punkten hat, doch in den wesentlichen Punkten (man vergleiche z.B. p. 161, 176, 180, 190) unrichtig versteht, ohne auf die eigentliche Idee einzugehen, den Widerspruch, daß er die Anschauung und Erkenntnis der Dinge erst von der Einheit des Geistes mit Gott und dann doch gleich wieder von der Gnade, dem Willen Gottes abhängig macht, Gott dem Geiste nur das offenbaren läßt, was ihm gefällt. (»R. d. l. Vér.«, Liv. III, P. II, ch. 6) Der Hauptmangel aber, der aus jener Verschmelzung theologischer Vorstellungen und philosophischen Denkens hervorgeht, ist folgender. Gott ist zwar als das allgemeine Wesen bestimmt, es sind alle Wesen, auch die materiellen, in ihm enthalten und aufgehoben; die Materie ist daher insofern keine unüberwundene Realität für Gott, kein Gegensatz gegen ihn, und der Geist kann daher auch in ihm, weil in ihm der Gegensatz aufgehoben, die Materie ideell gesetzt ist, die Dinge schauen und erkennen. Aber die Trennung oder Kluft vielmehr zwischen der geistigen, intelligiblen und der materiellen, sinnlichen Welt bleibt doch zugleich in Wahrheit befestigt. Die Materie wird nicht auf eine wahrhafte und positive Weise aufgehoben, d. i., nicht in ihrer Notwendigkeit begriffen. Denn Gott, das allgemeine, das unendliche, das absolut reelle Wesen ist als das höchst geistige, höchst immaterielle, d. i. als das von aller Materie abgesonderte Wesen bestimmt und in diese Immaterialität gerade seine wesentliche Bestimmung gesetzt; die Materie und mit ihr die Natur ist daher zwar als ein Ungöttliches, als ein Nichtiges, Unreelles gesetzt, weil es als ein von Gott Ausgeschiedenes bestimmt ist; aber ein solches Negatives, das nur ein Ausgeschiedenes, ein Verstoßenes, nur als ein Nichtiges gefaßt ist, bleibt eben gerade dadurch als ein eignes, isoliertes, zwar kopfhängerisches, aber nichtsdestoweniger heimtückisches und arglistiges Wesen im Dunkeln für sich bestehen.
Gott enthält zwar auch nach Malebranche die Natur oder Materie, die körperlichen Dinge in sich, aber er enthält sie nur als immaterielle Dinge, als Ideen, in der Abstreifung von allem Materiellen; die materiellen Dinge bleiben ein von Gott Ausgeschiedenes, die Ideen ein von ihnen Abgetrenntes. Es ist daher insofern auch nicht einzusehen, wie der Geist in Gott die materiellen Dinge schauen könne, und es bleibt unentschieden, ob der Geist die Dinge wirklich, die materiellen Dinge als materielle oder nur die Ideen derselben wahrnimmt. Malebranche sagt daher auch bald, daß der Geist die Dinge selbst sieht, bald, daß er nur die idealen Objekte, die Ideen der Dinge sieht.140) Zugegeben selbst, daß, wie Malebranche sagt, man erst die Dinge in ihrer Wahrheit, so, wie sie wirklich sind, in Gott sieht141), daß man also, wenn man gleich nur die idealen Objekte sieht, deswegen doch nicht etwa »Scheindinge« sieht, so bleibt doch die Wahrnehmung des Materiellen als Materiellen, die Wahrnehmung überhaupt einer Materie ein Unbegreifliches. Die materiellen Dinge als materiell, die Materie oder die Natur bleibt deswegen auch ein fremdes, im Organismus des Ganzen nicht notwendig enthaltenes, unheimliches, unbegreifliches Wesen, ihr Dasein ein unauflösliches Rätsel: »Sie hat keinen andern Grund als die Macht und den Willen Gottes«, d.h., sie hat keinen Grund, sie ist kein Notwendiges, sondern ein absolut Zufälliges und Willkürliches. »La création de le matière (est) arbitraire, et dépendante de la Volonté du Créateur. Si nos idées sont représentatives, ce n'est que parce qu'il a plû à Dieu de créer des êtres qui leur répondissent. Quoique Dieu n'eût point crééde corps, les esprits seroient capables d'en avoir les idées.« (»Rép. à Mr. Regis«)
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135) Man vergleiche z.B. Éclaircissement sur la »R. de la Vérite«, XI. Éclairc, sur le III. liv.
136) Man vergl. z.B. l. c., XI. Écl.
137) Unendlich ist die Konfusion in diesem Paragraphen, an dem ich daher auch soviel als möglich gestrichen habe. Sie liegt aber keineswegs nur in den Worten »Ich«, »Selbst«, »einzelner Geist«, »Mensch«, »Individuum«; sie liegt in der Sache, im Wesen der Abstraktion, der Philosophie, welche die Tätigkeit des Denkens vom Menschen absondert und zu einem selbständigen Wesen macht, dem sich aber doch stets unwillkürlich wieder das sinnliche Bild des Menschen unterschiebt. Ich denke, ich bin. Wer ist denn aber das Ich in diesem Cogito? Ist es ganz und gar in diesem Denken enthalten? Nein, nur das Ich, »inwiefern« es ein denkendes Wesen ist! Also haben wir noch ein andres Ich, ein Ich, das kein denkendes, sondern ausgedehntes, sinnliches Ich oder Wesen ist. Warum spaltest du mich aber in zwei Wesen? Warum soll denn nicht Ich, dieses sinnliche, ausgedehnte Wesen, auch das denkende sein? Weil »Ich jeder«, Ich universal, aber die res extensa eine res singularis ist? Ist denn aber nicht jeder auch dieser, Ausgedehnter? Stimmst du denn nicht deswegen im Denken mit andern Menschen überein, weil du im Leibe mit ihnen übereinstimmst? Könntest du mit einem Philosophen fraternisieren, wenn er dir zum Zeichen seiner Freundschaft statt der menschlichen Hand eine Katzenpfote oder Bärentatze reichte?
138) Eine Wahrheit, die schon die Griechen erkannt und ausgesprochen hatten. »Ho Empedoklês tô en heautô Deô (worunter nichts andres als der Geist oder die Vernunft verstanden werden kann) ton ektos kateilêphen« (Sextus Empir., »Adv. Gramm.« I, c. 13, 303) Und bei Euripides findet sich irgendwo ausdrücklich der Satz: »Ho nous gar hêmin estin en hekastô Deos«
139) Leibniz akkommodiert in seinem »Examen des principes du R. P. Malebranche«, den er ganz aus seinem eignen Standpunkt prüft und beurteilt, das Prinzip Malcbranches seinen Gedanken auf folgende Weise: »Je suis persuadé que Dieu est le seul objet immédiat externe des Ames, puisqu'il n'y a que lui hors de l'ame qui agisse immédiatement sur l'ame. Et nos pensées avec tout ce qui est en nous, entant qu'il renferme quelque perfection, sont produites sans intermission par son opération continuée. Ainsi entant que nous recevons nos perfections finies des siennes qui sont infinies, nous en sommes affectés immédiatement. Et c'est ainsi, que notre esprit est affecté immédiatement par les idées éternelles qui sont en Dieu, lorsque notre esprit a des pensées qui s'y rapportent et qui en participent. Et c'est dans ce sens, que nous pouvons dire que notre esprit voit tout en Dieu.« (L. Opp. Omn., ed. Dutens, T. II)
140) Z.B. Éclairc. sur le liv. III, X. Écl.
141) On ne voit la Véritéque lorsque l'on voit les choses, comme elles sont, et on ne les voit jamais, comme elles sont, si on ne les voit dans celui qui les renferme d'une manière intelligible. (»R. de la Vér.«, Liv. IV des inclin., ch. 11)