§ 80. Der wahre Sinn der Malebrancheschen Philosophie

 

Um den wahren Sinn, die eigentliche Idee der Malebrancheschen Philosophie, deren interessantester und wesentlichster Gedanke ist, daß wir alle Dinge nur in und durch Gott erkennen oder alle Dinge nur in ihm Objekte unsrer Anschauung und Erkenntnis werden können und sind, muß man nicht bloß den Gegensatz zwischen Geist und Körper im Auge haben, welchen die Philosophie des Cartesius fixierte und wovon Malebranche ausging, sondern, wie schon in der Einleitung angeführt wurde, hauptsächlich bedenken, daß dieser die Seele oder den Geist als ein besonderes Wesen faßte — eine Auffassung, die übrigens nichts weiter als eine nähere Bestimmung jenes Gegensatzes ist, denn entgegengesetzte Wesen sind eben besondere , daß also bei ihm, da die Besonderheit wesentlich Vielheit und Einzelheit in sich schließt, die Anschauung des Geistes als lauter Geister, als einer Vielheit von Geistern, d. i. eben als eines einzelnen Wesens denn mit einem einzelnen sind zugleich viele einzelne gesetzt — zugrunde liegt. Malebranche ging von der Theologie in die Philosophie über, aber er wird von ihr nicht frei; es bleiben die Vorstellungen der Theologie, wenn er sie gleich größtenteils nur anwendet, um sie aufzuheben, dennoch wenigstens die äußere Grundlage seiner Gedanken. In der Theologie ist nämlich der Geist nur als lauter einzelne Geister, d. i. als Personen, Gegenstand, und der Geist, die Einheit des Geistes oder der vielen Geister kommt nur zum Vorschein als ein Geist, der selbst wieder ein besonderer Geist ist, zugleich aber nicht wie die andern einer unter den vielen, sondern einzig ist, keinen seinesgleichen hat, als der vollkommene Geist über den andern als ihre Einheit insofern steht, inwiefern sie vor ihm elle gleich sind. Wenn daher Malebranche, der von der Theologie ausgeht, vom Geiste, von der Seele spricht, so versteht er darunter nichts als die sogenannten erschaffenen Geister, die vielen einzelnen Seelen, die Personen, die Menschen. Malebranche sagt daher auch gleichbedeutend bald »esprit«, bald »esprits eréés«, bald wieder »les esprits«, bald »les hommes«.

Malebranche versteht unter dem Geiste, der Seele nichts andres eben als das Ich, das unmittelbar nur mit sich identische, unmitteilbare, einfache, einzelne Selbst des Menschen, das als einzelnes Selbst nur im Gefühle sich Objekt ist und erkennt, nur soviel von sich weiß, als es erlebt, erfährt. Die Seele, sagt Malebranche, erkennt sich nicht durch die Ideen, sondern nur durch das Selbstgefühl, durch die Erfahrung des innern Gefühls. »Je sens mes perceptions (d. i. nicht die Ideen, die allgemein oder objektiv sind, sondern die Affektionen derselben in mir, sie, wie sie als allgemeine, zugleich meine, in mir sind, oder die Vorstellung, die Gefühle in mir von den Ideen) sans les connoître, parce que n'ayant une idée claire de mon ame je ne puis découvrir que par le sentiment intérieur les modifications, dont je suis capable.« (»Reponse à Mr. Regis«) »Lorsque nous voyons les choses en nous,... nous ne voyons que nos sentimens et non pas les choses.« (»Rech. de la V.«, Liv. IV, ch. 11, 1) Unter den Dingen, die in der Seele sind, oder unter den Modifikationen oder Bestimmungen der Seele versteht daher Malebranche auch hauptsächlich135) nur die selbstischen Bestimmungen der Seele, die Empfindungen, die Gefühle z.B. des Schmerzes, Vergnügens, selbst die sinnlichen Empfindungen wie Wärme, Farbe, die von der Cartesischen Schule bloß für Bestimmungen der Seele gehalten wurden, ob er gleich auch unter die Modifikationen, unter denen er die sensations, die passions und inclinations aufführt, auch die pures intellections rechnet.136) Aber unter diesen pures intellections können nichts verstanden werden als die Vorstellungen überhaupt oder die reinen Begriffe nur insofern, als sie nicht in der Beziehung auf ein Objekt, sondern nur auf das Selbst gedacht werden, etwas Subjektives ausdrücken, das Selbstgefühl des Individuums affizieren.

Aus dieser Auffassung des Geistes, welcher nichts andres zugrunde liegt als die Vorstellung vom Menschen, inwiefern er sich von der Außenwelt und von andern unterscheidet sein innres eignes Selbst erfaßt und dieses Selbst seine Seele, seinen Geist nennt, ergibt sich nun mit Notwendigkeit der Gedanke, daß wir alle Dinge in Gott sehen, und erhellt zugleich, was denn eigentlich der Sinn desselben ist. Denn was das Wesen des einzelnen Geistes als einzelnen ausmacht, was den Menschen zum Menschen als Individuum macht, ist eben sein unmittelbares, innres Selbstbewußtsein oder Selbstgefühl, sein Ich oder Selbst, das Prinzip seiner Gefühle, Leidenschaften, Neigungen und übrigen Modifkationen.137) Nun hat aber — eine unbezweifelbare Tatsache — der Mensch allgemeine und notwendige Ideen, die für alle gelten, in denen alle übereinstimmen; er hat zum Gegenstand ideale Objekte, die alle auf die nämliche Weise ansehen und ansehen müssen. Das Gefühl gehört ihm an, das ist in ihm, das ist sein; aber das ideale Objekt, das ist mehr als er, das ist nicht Bein von seinem Bein, Fleisch von seinem Fleisch, das ist nicht sein, das ist allgemein, nicht in ihm, inwiefern er nur ein Einzelnes, ein Besonderes ist — denn in ihm als einzelnen können nur einzelne Ideen, die aber darum keine Ideen mehr sind, sondern Gefühle, Affektionen, kann nur Subjektives sein , das ist also nur in dem, was allgemein ist, gehört nur dem an, was selbst nicht dieses oder jenes, sondern allgemeines Wesen ist. Dieses ist aber Gott; die Ideen sind also allgemeinen Wesens, nicht menschlichen, besondern Wesens, sie sind in Gott, aber eben weil Gott das allgemeine Wesen ist, sind sie zugleich auch die Ideen des Menschen, das Gott- und Menschgemeine. »Nous ne les (créatures) voyons qu'en lui (Dieu), que par lui, que comme lui, je veux dire, que dans les mêmes idées que lui. De sorte que nous penserons comme lui. Nous aurons par les mêmes idées quelque société avec lui.« (»Réponse à Mr. Regis«) Sind aber die Ideen in Gott, so schauen wir an und erkennen die Dinge nur in Gott; denn wir erkennen sie nur durch die Ideen.

Die Haupt- und Grundidee aber, in der wir alle Dinge anschauen, ist die Ausdehnung; denn alle Dinge außer uns, d. i. alle Körper, sind ausgedehnt, und diese Idee ist nicht etwa abgezogen von der Wahrnehmung der besondern, ausgedehnten Dinge oder aus einer konfusen Zusammenfassung derselben in eine Idee gebildet. Im Gegenteil, daß ich etwas, was ein Körper ist, sehe, daß ich es als Körper, als Ausgedehntes wahrnehme, dazu ist die Idee der Ausdehnung vorausgesetzt. Sehen heißt eben nichts andres, als ein Ausgedehntes als Ausgedehntes wahrnehmen, und selbst dem sinnlichen Wahrnehmen des Sehens ist daher die Idee der Ausdehnung vorausgesetzt; ich kann die Dinge nur im Raume, d. i. in der Ausdehnung, sehen, sie sind mir nur in ihr und durch sie Objekt; der Raum, die Ausdehnung oder ihre Idee ist daher eher in mir als die Idee der bestimmten ausgedehnten Dinge. Alle besondere Dinge kann ich deswegen nur anschauen, erkennen und denken in der allgemeinen und unendlichen Idee der Ausdehnung. »Tous les corps sont présens à l'ame, confusément et en général, parce qu'ils sont renfermés dans l'idée de l'étendue.« (»Rep. ä Mr. Regis«) Diese Idee nun oder Anschauung der Ausdehnung und aller Dinge in ihr ist aber eine notwendige, allen Geistern gemeine, in allen sich selbst gleiche, ewige Anschauung, also eine Anschauung notwendiger und allgemeiner Natur, folglich die Anschauung Gottes selbst. »Cette idée est éternelle, immuable, nécessaire, commune à tous les esprits et à Dieu même: ainsi elle est bien différente des modalités changeantes et particulières de notre esprit.« (l. c. ) Um diese Idee nicht mißzuverstehen, muß man sich nur nicht vorstellen, als hätten wir auch die sinnlichen Vorstellungen oder Empfindungen von den Dingen in Gott, als sähe ich z.B. diesen Baum von dieser besondern Höhe, dieser besondern Farbe in Gott. Nicht dieses sinnlich bestimmte Sehen, das einfache Sehen nur in diesem bestimmten Sehen, das allgemeine und notwendige Sehen, nämlich, daß ich den Baum als Ausgedehntes ansehen muß, ihn als diesen Baum mit seiner besondern Gestalt und Farbe nur sehen kann, wiefern, wenn und indem ich ihn als Ausgedehntes schaue, ist das Sehen in Gott. Die sinnlichen Qualitäten oder die Empfindungen sind nur in mir, in mir, dem besondern, dem bestimmten Wesen, dem Empfindenden, wird die allgemeine, aller möglichen Formen und Bestimmungen fähige Ausdehnung auf Veranlassung der äußern Körper, wenn ich sie sehe, eine besondere, wird sie bestimmt, empfindbar. »Il faut bien prendre garde que je ne dis pas, que nous en ayons en Dieu les sentimens, mais seulement que c'est Dieu qui agit en nous; car Dieu connoît bien les choses sensibles, mais il ne les sent pas. Lorsque nous appercevons quelque chose de sensible, il se trouve dans notre perception sentiment et idée pure. Le sentiment est une modification de notre ame. Pour l'idée qui se trouve jointe avec le sentiment, elle est en Dieu.« (»Rech. de la V.«, Liv. III, P. II, ch. 6)

 


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