Jacob Voorhoeve |
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Homöopathie in der Praxis |
Medizin |
(1908) |
"Uw richting is mij wel — mits zij naar boven streeft,
En — schoon de mijne niet — mij wat te denken geeft!" 1)
(De Génestet.)
Der Name Allopathie rührt von Hahnemann her. Er bezeichnete damit das herrschende medizinische System im Gegensatz zu seiner eigenen Methode. Die heutige Medizin verwirft diese allgemeine Benennung, da sie keine feste Norm für die Krankheitsbehandlung anerkennt. In gewisser Beziehung hat sie hierin Recht, da es verschiedene Wege gibt, welche zum Ziel führen. Niemand wird bestreiten, daß eine Anzahl Krankheiten durch Regelung der Diät, durch Wasserbehandlung, durch elektrische Behandlung, durch Bewegung und Ruhe, durch Aufenthalt in klimatischen Kurorten, durch chirurgische Operationen, ohne Anwendung von Arzneimitteln geheilt werden können. Wo es nützlich und nötig ist, macht auch der homöopathische Arzt von diesen Hilfsmitteln der Wissenschaft Gebrauch und denkt nicht daran, den Wert dieser Zweige der Heilkunde zu leugnen.
Der Unterschied zwischen den beiden Richtungen in der Medizin betrifft also nur die Krankenbehandlung mit Arzneimitteln.
Hier ist der Unterschied in der Tat groß. Denn während die Homöopathen, wie wir gesehen haben, drei scharf ausgeprägten Grundsätzen in der Behandlung folgen, indem sie bei der Anwendung ihrer Arzneimittel in der Mehrzahl der Krankheitsfälle nach der Regel: "Similia similibus curentur" verfahren und unter Berücksichtigung der Gesamtheit aller subjectiven und objectiven Symptome jeden Kranken individualisierend behandeln, verfährt die Allopathie nach Prof. v. Behring nach dem Grundsatz: "Contraria contrariis" rein symptomatisch. Sie will durch ihre Medikamente Zustände im kranken Körper herbeiführen, die den Krankheitszuständen direkt entgegengesetzt sind. Hierzu gehört die allgemein gebräuchliche Verwendung von Palliativmitteln in starken Gaben, wodurch, z. B. das Fieber mit Antipyrin unterdrückt, der Schmerz durch Morphium betäubt, die Verstopfung mit Abführmitteln, der Durchfall mit Opium, die Schlaflosigkeit mit Sulfonal bekämpft werden.
Diese symptomatisch-palliative Behandlung, welche in gewissen Fällen, z. B. bei unheilbaren Krankheiten, berechtigt ist, hat in den meisten Fällen für den Kranken um so mehr Nachteile im Gefolge, als die Arzneimittel, um ihre momentan erleichternde Wirkung auszuüben, in immer stärkeren Gaben gereicht werden müssen. Prof. G. Jäger sagt hierüber: "Die palliative Behandlung mit großen Dosen von Arzneistoffen, welche die Lebenstätigkeit herabmindern, sollte bei der Krankenbehandlung die Ausnahme, und nicht, wie es gemeinhin geschieht, die Regel sein; und zwar nicht bloß deshalb, weil die volle Gesundheit durch eine solche Behandlung nicht hergestellt werden kann, sondern auch deshalb, weil der Verfall des Lebens dadurch nicht aufgehalten, vielmehr sehr häufig noch durch Hinzufügung von Arzneivergiftungen beschleunigt wird."
Professor Notnagel sagt: "Es ist ein Mißbrauch, das Fieber à tout prix mit fieberwidrigen Mitteln unterdrücken zu wollen."
Nicht selten werden aber auch durch Darreichung von Medikamenten in starken Gaben direkt schädliche, vom Arzte zwar nicht beabsichtigte, aber für den Kranken nichtsdestoweniger sehr unangenehme Erscheinungen hervorgerufen, wie dies u. a. in dem vorzüglichen Werke von Prof. Lewin über die "Nebenwirkungen der Arzneimittel" dargelegt wird. Nicht nur, daß der Magen oft verdorben wird, sondern Erkrankungen lebenswichtiger Organe können durch zu starke Medikamente hervorgerufen werden. Prof. Kobert sagt hierüber in seinem "Lehrbuch der Intoxikationen": "Unter Medizinal-Vergiftungen verstehen wir solche Intoxikationen, deren Schuld wir Ärzte zu tragen haben. Ihre Zahl ist Legion! Neue, von keinem Fachpharmakologen gründlich voruntersuchte Mittel von unbekannter und schwankender Zusammensetzung sofort am Krankenbette zu prüfen, ist Tierquälerei am Menschen und sollte staatlich verboten werden .... Wir müssen leider bekennen, daß die Anzahl Menschen, welche durch zu stark dosierte oder verkehrt angewendete Medikamente getötet sind, sehr groß ist .... Ungefähr 90 % aller in den letzten 10 Jahren vorgekommenen Quecksilber-Vergiftungen sind Medizinal-Vergiftungen .... Gifte, welche durch Einspritzungen in den Körper gebracht worden sind, können wir sogar mit allen Hilfsmitteln der Kunst nicht daraus entfernen."
Dieses Urteil, das vor einigen Jahren von einem staatlich anerkannten Professor über die herrschende Richtung in der Heilkunde ausgesprochen wurde, geht sogar noch weiter als alles, was Hahnemann über die Allopathie seiner Zeitgenossen gesagt hat.
Demgegenüber hat doch sicher die Homöopathie den unleugbaren Vorteil, daß sie wohl noch nie den Tod eines einzigen Kranken durch zu starke Dosierung verursacht haben wird, wohingegen sie Millionen Kranken durch ihre fein dosierten, angenehm wirkenden Mittel zur Gesundheit verholfen hat!
Um ein praktisches Beispiel von dem Unterschiede zwischen den beiden Richtungen in der Heilkunde zu geben, wollen wir die Behandlung einer häufig vorkommenden Krankheit, "der kruppösen Lungenentzündung" durch beide Schulen hier kurz skizzieren. Wie wurde diese Krankheit zu Hahnemanns Zeiten behandelt? Wiederholte Aderlässe, verbunden mit tüchtigem Abführen, spielten die Hauptrolle. Wenn die Ärzte mit dieser Behandlung nicht mehr wie 30 % Sterblichkeit erzielten, priesen sie sich glücklich! Hahnemann geißelte diese Methode sehr scharf anläßlich des Todes von Kaiser Leopold I. im Jahre 1792: "Sein Leibarzt Lagusius beobachtete am 28ten Februar hohes Fieber und Schwellung des Unterleibes. Er bekämpfte die Krankheit mit einem Aderlaß, und, da dieser keine Besserung brachte, wurden drei weitere Aderlässe, jedoch ohne Erfolg, vorgenommen. Der gesunde Menschenverstand fragt mit Verwunderung, warum ein zweiter Aderlaß vorgenommen wurde, nachdem der erste nicht geholfen hatte. Wie konnte er einen dritten Aderlaß verordnen und .... wie hatte er den Mut, zum vierten Male dem armen Kranken den so höchst nötigen Lebenssaft zu entziehen? Die Wissenschaft ist in der Tat verblendet!" Hahnemann legte den Finger auf die wunde Stelle, aber es dauerte noch bis zum Jahre 1860, ehe der Aderlaß abgeschafft wurde.
Unter Prof. Dietls Einfluß wurde die Behandlung der Lungenentzündung nun "abwartend," d. h. man verwarf den Aderlaß und gab gar keine Arznei mehr. Dies war sicher ein Fortschritt, da nun wenigstens nicht mehr geschadet wurde.
In unserer Zeit finden wir die offizielle Medizin, nach einer Periode des Verneinens aller Arznei-Beeinflussung, zurückgekehrt zu den alten Arzneien, vermehrt durch eine Legion neuer, welche die moderne chemische Industrie mit erfinderischer Begabung auf den Markt wirft. Aderlaß und gewaltsames Abführen sind zwar abgeschafft, aber an deren Stelle ist der Gebrauch von fieberwidrigen und schmerzstillenden Arzneien getreten. Ein Lehrbuch sagt darüber: "Ein Mittel, welches den pneumonischen Prozeß selbst irgendwie günstig zu beeinflussen imstande wäre, kennen wir nicht." Man ist also auf die symptomatische Behandlung angewiesen. Welches sind nun die hauptsächlichsten Symptome, welche die Lungenentzündung hervorruft? Sie sind genügend bekannt: das Seitenstechen, die Atemnot, der Husten mit blutgestreiftem Auswurf, das hohe Fieber. Da ist zuerst die Atemnot. Das ist eine unangenehme Erscheinung, die nicht so leicht weggenommen werden kann, da gibt es noch andere Symptome, die mit besserem Erfolg bekämpft werden können, z. B. das Fieber. Hierbei ist nun zu bedenken, daß das Fieber nichts weiter ist als die Äußerung der Notwehr des Organismus gegen die eingedrungenen Krankheitsgifte; unterdrückt man also das Fieber mit Gewalt, dann läuft man Gefahr, das Widerstandsvermögen des Körpers zu lähmen. Eine starke Dosis Antipyrin kann also wohl für kurze Zeit die Temperatur erniedrigen, aber wenn der Körper widerstandsfähig genug ist, kommt das Fieber als Äußerung davon zurück; wird es nun durch wiederholte Arzneigaben immer wieder aufs neue unterdrückt, dann ist es kein Wunder, wenn die Natur schließlich versagt oder die Lungenentzündung eine "verzögerte Lösung" zeigt oder einen "verschleppten Verlauf" nimmt. Neuerdings mehren sich denn auch die Stimmen in der Schulmedizin, welche diese Art Behandlung verwerfen; die Homöopathie hat es von jeher verschmäht, auf so gewaltsame Weise in den Verlauf der Krankheit einzugreifen, sicher nicht zum Schaden der Kranken.
Nun hat der symptomatisch behandelnde Arzt noch seine Aufmerksamkeit zu richten auf die Schmerzen und den quälenden Husten. Das souveräne Mittel dagegen ist das Morphium. "Kleine Morphiumdosen, besonders unter die Haut eingespritzt, sind sehr wirksam und oft unersetzlich." Daß sie wirksam sind, soll nicht bestritten werden, indem der Kranke unter dem Einfluß des narkotischen Giftes keine Schmerzen mehr hat, aber das Erwachen ist dafür manchmal um so schlimmer, und das Morphium verhindert, ebenso wie die starken fieberwidrigen Mittel, den normalen Verlauf der Krankheit, schwächt die Widerstandskraft des Körpers und begünstigt oft Nachkrankheiten.
Wie stellt sich nun die Homöopathie zur Behandlung der Lungenentzündung? Sie denkt nicht daran, alle die lästigen Symptome, die ihr als Äußerungen der Widerstandsfähigheit des Organismus gegen die Krankheitsursache bekannt sind, mit Gewalt zu unterdrücken. Sie hat eine Anzahl bewährter Mittel zur Verfügung, die dem leitenden Prinzip: "Similia similibus curentur" entsprechend, nach den besonderen Eigentümlichkeiten des vorliegenden Falles gewählt werden. In vielen Fällen sind dies Bryonia oder Phosphorus in starker Verdünnung, wodurch die Atemnot verringert, der Schmerz gelindert, der Husten loser, das Fieber gemäßigt wird und zwar ohne Gewalt; denn dazu sind die angewendeten Dosen zu klein. Die homöopathischen Mittel wirken auf den Gesamtorganismus, indem sie in spezifischer Beziehung zu den kranken Geweben stehen und die Naturheilkraft des Körpers unterstützen. Auf diese Weise kann es sogar gelingen, eine Lungenentzündung im Entstehen zu heilen. In anderen Fällen kommen Tartarus emeticus, Jodium oder andere Mittel, nach dem Simile-Prinzip gewählt, in Betracht, während wir in Aconitum und Bryonia, in Verbindung mit nassen Umschlägen, Hilfsmittel haben gegen Unruhe, Angst und Schmerzen. Wohl werden auch bei dieser Behandlung schwierige und peinliche Stunden dem Kranken und seinen Pflegern nicht erspart bleiben, aber die größte Gefahr der Lungenentzündung liegt nicht in diesen unangenehmen Erscheinungen, sondern oft darin, daß auf Verlangen des Kranken oder seiner ängstlichen Umgebung Mittel gegeben werden, welche zwar für kurze Augenblicke unangenehme Symptome unterdrücken können, aber dafür die Aussicht auf eine ungestörte Heilung verringern.
Welche Erfolge die zuletzt beschriebene Behandlungsweise aufzuweisen hat, ist aus dem statistischen Material des 10ten Abschnittes ersichtlich.
Ungefähr ähnliche Verhältnisse zeigen sich bei der Behandlung vieler andern akuten und chronischen Krankheiten.
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1) Deine Richtung ist mir recht — falls sie aufwärts strebt,
Und — obschon die meinige nicht — meine Denkkraft hebt!