Jacob Voorhoeve |
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Homöopathie in der Praxis |
Medizin |
(1908) |
IV. "Die Homöopathie hat keine stärkenden Mittel und keine Abführmittel," ist ein weiterer Einwand, der gegen diese Heilweise erhoben wird. Wenn dies wirklich so wäre, dann hätte doch sicher der homöopathische Arzt das Recht von jeder physiologischen Wirkung einer Arznei Gebrauch zu machen, ebenso wie es jedem Arzte frei steht, die spezifisch homöopathische Wirkung am Krankenbette auszunützen, wie dies z. B. bei der Malaria- und Syphilisbehandlung, wenn auch als Homöopathia involuntaria (d. h. ungewollte H.) von den meisten Ärzten geübt wird. Es ist aber ein Irrtum zu glauben, daß die Homöopathie keine stärkenden Mittel besäße. Jedes gut gewählte homöopathische Mittel wirkt günstig auf den Zustand des Kranken, regt den Appetit an, verleiht dem Patienten ein Gefühl der Kraft, mehr oder weniger schnell, je nach der Art der Krankheit. In absolutem Sinne genommen, gibt es keine stärkenden Arzneien. China, Arsenicum, Ferrum, Phosphor und Strychnin sind nur stärkend in den besonderen Fällen allgemeiner Schwäche, die jenen ähnlich sind, welche durch fortgesetzte Gaben dieser Arzneien bei Gesunden erzeugt werden. Überhaupt ist das kritiklose Einnehmen von allen möglichen, stärken sollenden Arzneien, Eisentinkturen und dergleichen, wie dies von Laien oft ohne ärztlichen Rat geschieht, in den meisten Fällen schädlich und legt oft genug den Grund zu chronischen Arzneikrankheiten.
Und was die Abführmittel betrifft, so ist deren fortwährender Gebrauch, wie das noch vielfach üblich ist, ein Überbleibsel aus den alten Zeiten, welche Hahnemann erlebte, als Aderlaß und Abführen an der Tagesordnung waren. Ein junger Arzt, welcher kürzlich aus einem Londoner Spitale zurückkehrte, sagte, daß der Chefarzt der Klinik stets erleichtert aufatmete, wenn er bei der Untersuchung des Patienten gefunden hatte, daß dieser verstopft war; denn dann wußte er, was er zu verschreiben hatte – nämlich ein Abführmittel!
Man vergißt gewöhnlich, daß hartnäckige Hartleibigkeit ein krankhafter Zustand der Konstitution ist, welcher durch ein Abführmittel zwar vorübergehend erleichtert, aber nie auf die Dauer geheilt werden kann. Wenn auch in gewissen Fällen ein Abführmittel seine Berechtigung hat, so ist doch der fortgesetzte Gebrauch solcher starken Mittel, besonders wenn dieselben ohne ärztliche Kontrolle eingenommen werden, ein gefährliches Spielen mit Gift, welches früher oder später die Gesundheit untergräbt.
Übrigens kommen die homöopathischen Ärzte in den meisten Fällen ohne Abführmittel aus. Durch Anwendung der spezifischen Mittel: Opium, Blei, Alaun, Nux vomica u. a. in kleinen Gaben, in Verbindung mit geeigneter Diät, Körperbewegung und Sitzbädern, wird oft die hartnäckigste Hartleibigkeit geheilt, und zwar ohne jeglichen Nachteil für den Patienten.