Jacob Voorhoeve |
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Homöopathie in der Praxis |
Medizin |
(1908) |
"Alle Wesen leben vom Lichte; jedes glückliche Geschöpf — die Pflanze selbst neigt freudig sich zum Lichte."
(Schiller.)
Luft und Licht sind Lebenselemente im wahren Sinne des Wortes für Menschen, Tiere und Pflanzen. Besonders für Kranke und Schwache sind sie unentbehrlich zur Wiederherstellung der erschütterten Gesundheit. Von unschätzbarem Werte ist der Aufenthalt in frischer, reiner Luft, in sonnigen Gegenden für das ganze Heer der an Blutarmut und Nervenschwäche Leidenden, welches in unserer Zeit einen so großen Teil der chronisch Kranken ausmacht. Luftige und sonnige Aufenthaltsorte bewirken Wunder bei an Tuberkulose Erkrankten, wovon die Resultate, die in den Lungenheilstätten der Neuzeit erzielt werden, Zeugnis ablegen. Schon die alten Römer hatten oben auf ihren Häusern sogenannte Solarien, worin sie sich mit Wonne den belebenden Strahlen der Mutter Sonne aussetzten. Der günstige Einfluß der Luft-, Licht- und Sonnenbäder auf die Heilung vieler Krankheiten wird jedoch erst in der neuesten Zeit nach seinem wahren Wert geschätzt.
Die Wirkung der Luft auf den menschlichen Körper ist schon seit langer Zeit bekannt. Wir wissen, wieviel Sauerstoff wir für die Atmung nötig haben, wir kennen den Druck, welchen die Luft auf unsern Körper ausübt, wir haben gelernt die mannigfaltigen Verunreinigungen der Luft, welche für den Organismus schädlich sind, zu erkennen und zu unterscheiden. Der große Wert einer reinen, frischen Luft für Gesunde und Kranke, für Junge und Alte, bei Tag und bei Nacht, ist hinlänglich bekannt, aber die Praxis geht nicht immer mit der Theorie Hand in Hand. Man braucht nur in die großen Städte zu kommen und einen Blick in gewisse Hinterhäuser zu werfen, um mit Schrecken inne zu werden, wie wenig noch die soziale Frage der Wohnungshygiene gelöst ist. Und wer als Arzt am frühen Morgen gewisse Krankenzimmer betreten muß, braucht sich nicht zu wundern, daß mancher Kranke trotz guter Nahrung und zweckmäßiger Arznei keine Fortschritte in der Heilung macht, denn nur zu oft wird sogar die allerge-wöhnlichste Lüftung vernachlässigt. Nicht genug kann deshalb immer wieder von neuem darauf hingewiesen werden, daß reine und frische Luft, daß gehörige Ventilation des Krankenzimmers ein unentbehrlicher Faktor für die Heilung ist. Doch auch eine gänzliche Luftveränderung übt manchmal einen günstigen Einfluß auf den Krankheitsprozeß aus. Bekannt sind die guten Resultate, die in Luftkurorten wie Davos bei der Behandlung von Lungenkranken erzielt werden, ebenso der Vorteil der Seeluft für die Heilung skrofulöser Krankheiten. Weniger allgemein bekannt, aber in letzter Zeit immer mehr in den Vordergrund tretend ist die Anwendung von Luftbädern, wobei man sich der Wirkung von Luft und Licht bei gänzlich entkleidetem Körper aussetzt. In vielen Naturheilanstalten werden diese Luftbäder systematisch und zwar mit gutem Erfolg bei vielen chronischen Krankheitsfällen angewendet. Man findet dort große, mit Gras bewachsene, und hie und da mit Bäumen bepflanzte Flächen, welche von hohen Bretterzäunen umgeben sind, wo die Patienten, nach Geschlechtern getrennt, nur bekleidet mit einer Badehose oder einem Badehemd, während der wärmeren Jahreszeit sich stundenlang der wohltätigen Wirkung von Luft und Licht aussetzen, wobei sie durch Bewegung, Spielen und Turnübungen für die nötige Erwärmung des Körpers sorgen. Solche Luftbäder können natürlich nur von Kranken genommen werden, welche sich noch bewegen können und eine gewisse Widerstandskraft haben, während die Schwächeren, auf bequemen Ruhebänken ausgestreckt und entsprechend zugedeckt, nur bis zu einem gewissen Grade davon genießen können. Der Stadtbewohner kann sich zu Hause den Genuß solcher Luftbäder nur schwer verschaffen, da es wohl selten der Fall sein wird, daß er sich auf dem Balkon oder im Garten gegen neugierige Blicke schützen kann. Aber trotzdem kann jeder, welcher die große Wohltat der Luft- und Lichtwirkung nicht nur Gesicht und Händen, sondern auch dem übrigen Teil seines Körpers zugute kommen lassen will, ein Zimmerluftbad nehmen, im Sommer bei geöffnetem Fenster, im Winter in einem erwärmten Raum. Solche Zimmerluftbäder können wir, obwohl sie natürlich nicht so kräftig wirken wie Luftbäder in der freien Natur, aus eigner Erfahrung allen empfehlen, welche öfters an Katarrhen leiden und sich bei jeder Gelegenheit erkälten. Sie bewirken eine ausgezeichnete Abhärtung der Haut und sind unübertrefflich für solche, welche kalte Waschungen und Bäder nicht vertragen. Diese Luftbäder, jeden Morgen 5 Minuten lang, in Verbindung mit einfachen Freiübungen genommen, vermehren in kurzer Zeit die Widerstandsfähigkeit gegen Erkältungen und haben eine erfrischende Wirkung auf Körper und Geist.
Das Licht übt eine besondere Wirkung auf die Haut aus. Wir nehmen wahr, daß die Haut unter dem Einfluß der Sonne zuerst rot, nachher braun wird. Dies zeigt uns, daß das Licht das Blut nach der Haut zieht. Ein starker Sonnenstrahl kann sogar Verbrennung der Haut verursachen. Besonders für blutarme Kranke ist es wichtig zu wissen, daß die Blutkörperchen, welche mit dem Blute nach der Haut gelockt werden, unter der Wirkung des Sonnenlichtes die Fähigkeit erlangen, mehr Sauerstoff in sich aufzunehmen, als dies ohne diese Wirkung der Fall wäre. Deshalb sind denn auch die Bewohner von dunklen Kellerwohnungen oder von Räumen, in welche das Sonnenlicht keinen Zutritt hat, so oft bleich und blutarm, während Jäger, Förster, Matrosen und alle, welche ein Leben in Luft und Sonnenschein führen, selten über Blutarmut zu klagen haben. Aber noch mehr — es ist bekannt geworden, daß das Sonnenlicht der mächtigste Feind aller Krankheitskeime ist. Man kann das Gift des Milzbrandes 2 Stunden lang kochen, ohne daß es seine giftigen Eigenschaften gänzlich verliert. Setzt man es dagegen nur 48 Minuten der Wirkung des Sonnenlichtes aus, dann ist es gänzlich unschädlich geworden. Tuberkelbazillen werden schon innerhalb 13 Minuten durch das Sonnenlicht getötet. Jetzt verstehen wir auch den großen Wert einer sonnigen Wohnung, da die dumpfe Luft durch das Sonnenlicht gereinigt wird und die Krankheitskeime durch dasselbe vernichtet werden. Wo das Sonnenlicht Zugang hat, werden all diese Feinde unsers Lebens in kurzer Zeit unschädlich gemacht. Deshalb alle, die Ihr Kranke pfleget, sorget dafür, daß das Licht und womöglich der Sonnenschein ihre wohltätige Wirkung in den Krankenzimmern ausüben können!
Den Körper unmittelbar den Sonnenstrahlen auszusetzen, mit andern Worten, das Nehmen von Sonnenbädern ist für manche Kranke zu angreifend, da hierbei gewöhnlich nach kurzer Zeit eine reichliche Schweißabsonderung eintritt. Es ist deshalb besser, hierfür erst den Rat des Arztes einzuholen, welcher in bestimmten Fällen vorsichtig angewendete Sonnenbäder bei fieberfreien Kranken wird verordnen können. Keineswegs darf im Sommer der Kopf der unmittelbaren Wirkung der Sonnenstrahlen ausgesetzt, sondern muß durch einen breiten Strohhut oder Sonnenschirm geschützt werden.
Luft-, Licht- und Sonnenbäder, vorausgesetzt, daß sie mit der nötigen Vorsicht, d. h. nicht zu lang und mit Körperbewegung verbunden, genommen werden — sind ausgezeichnete Hilfsmittel bei der Bekämpfung vieler chronischer Krankheiten, sie härten die Haut gegen die wechselnden Witterungseinflüsse ab, sie locken das Blut nach der Haut, sie beheben Kongestionen der inneren Organe, sie regen den Appetit an und verleihen ein Gefühl von Frische und Kraft. Sie sind auch eine Wohltat für Gesunde und besonders für alle, welche durch ihren Beruf oder ihre Tätigkeit gezwungen sind, eine zum größten Teil sitzende Lebensweise zu führen. Im Verkehr mit der freien Natur, im Genuß von Luft, Licht und Sonnenschein fühlen Körper und Geist sich freier, die Schwere und Steifheit der Glieder verschwinden, Mutlosigkeit und trübe Gedanken verfliegen und wir fühlen etwas von der Begeisterung, welche den Dichter ausrufen ließ:
Ein Sonnenstrahl, ein Wunderstrahl
Ist in mich eingedrungen;
Mein mattes Herz, von Sorgen schwer,
Es zweifelt und es haßt nicht mehr
Und hat sein Lied gesungen.