Jacob Voorhoeve |
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Homöopathie in der Praxis |
Medizin |
(1908) |
III. Die Erklärung dieser wunderbaren doppelten Wirkung der Arzneimittel liegt in der Anwendung der Arzneigabe, und hiermit sind wir beim dritten Grundsatze der homöopathischen Heilweise angelangt. Wir begegnen fast überall auf dem Gebiete der Arzneiwirkungen auf den gesunden und kranken menschlichen Körper der eigentümlichen Erscheinung, daß große Gaben einer Arznei das Gegenteil kleiner Gaben bewirken. Alkohol lähmt, in großen Mengen genossen, die Gehirntätigkeit; in kleinen Mengen dargereicht, regt es dieselbe an. Sublimat verursacht in großer Dosis den Tod aller lebenden Zellen; in starker Verdünnung (1 zu 500.000) tötet es nicht nur die Zellen nicht, sondern verursacht lebhafte Vermehrung der Hefezellen in einer Traubenzuckerlösung (s. X. Abschnitt). Rhabarber ist in großer Dosis ein bekanntes Abführmittel, während er in homöopathischer Potenz bei einer bestimmten Art von Durchfall ein probates Heilmittel ist; Opium lähmt oder reizt je nach der Dosis, in welcher es angewendet wird. Wir sehen hieraus, daß die beliebte Regel: "Viel hilft viel" auf arzneilichem Gebiet durchaus keine allgemeine Gültigkeit hat; im Gegenteil, wir finden nicht selten, daß große Gaben einer Arznei schädlich wirken, wo kleine Gaben dem Heilzwecke weit besser entsprechen. Das von Prof. Arndt aufgestellte biologische Grundgesetz, welches lautet: "Kleine Reize fachen die Lebenstätigkeit an, mittelstarke fördern sie, starke hemmen sie und stärkste heben sie auf," zeigt uns den Weg zur Erklärung der Wirkungsweise der nach dem homöopathischen Prinzip gewählten Arzneimittel.
Hat das genannte Gesetz Gültigkeit für die Wirkung der Arzneien auf den gesunden Körper, dann ist es ohne weiteres deutlich, daß es für den kranken Körper und dessen Organe von noch viel größerer Bedeutung ist. Ein entzündetes Auge wird schon von einem Lichtstrahle schmerzhaft berührt, welchen das gesunde Auge mit Freuden begrüßt! Wie empfindlich ist ein Kranker, welche an Nervenkopfschmerz leidet, für das geringste Geräusch und ein Kehlkopfleidender für Tabaksrauch! Kranke Organe, kranke Organismen reagieren demnach noch auf Reize, welche bei Gesunden keinerlei Wirkung ausüben. Wir verstehen es jetzt, daß es möglich, ja notwendig ist, daß Arzneimittel, welche in großen Dosen auf gesunde Organe eine bestimmte Wirkung ausüben, auf kranke Organe noch eine Wirkung zeigen können in Dosen, welche auf den Gesunden keinerlei Wirkung mehr ausüben. Dies ist ganz in Übereinstimmung mit der homöopathischen Praxis, welche die Arzneimittel in solch kleinen Mengen verabreicht, daß sie zwar auf gesunde Organe keine sichtbare Wirkung, auf den kranken Körper aber diejenige Wirkung ausüben, welche nötig ist, um die Naturheilkraft des Organismus zu unterstützen und die Heilung zu fördern. Je mehr hierbei Arznei- und Krankheitsbild mit einander übereinstimmen, m. a. W. je mehr nach dem Grundsatz: "Similia similibus" verfahren wird, desto eher wird in den meisten Fällen das Arzneimittel dem beabsichtigten Zwecke entsprechen.
Diese drei wissenschaftlichen Grundsätze werden von allen homöopathischen Ärzten anerkannt; sie sind der Ausdruck des gegenwärtigen Standpunktes der Homöopathie. Die homöopathischen Ärzte halten sich selbst durchaus nicht für unfehlbar; sie erkennen an, daß Hahnemann, wie jeder große Mann, sich in gewissen Punkten geirrt hat; sie begrüßen jeden wirklichen Fortschritt auf medizinischem Gebiete mit Freuden; sie sind davon überzeugt, daß die homöopathische Arzneimittellehre ebenso wie deren Anwendung in der Praxis verbesserungsfähig ist, aber sie halten fest an diesen drei Grundsätzen der Homöopathie, welche weder in theoretischer noch in praktischer Hinsicht die Kritik zu fürchten haben.
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1) Einfachheit ist das Kennzeichen des Wahren.