Jacob Voorhoeve |
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Homöopathie in der Praxis |
Medizin |
(1908) |
"Die Wahrheit, die wir alle nötig haben,
Die uns als Menschen glücklich macht,
Ward von der weisen Hand, die sie uns zugedacht,
Nur leicht verdeckt, nicht tief vergraben."
(Gellert.)
Wie wenig Wert haben Ehre und Ansehen, ja alle Reichtümer der Welt, wenn die Gesundheit, der irdischen Güter größtes, fehlt! Der arme Tagelöhner, welcher im Schweiße seines Angesichtes sein Brot verdient, ist, wenn er gesund ist, mehr zu beneiden, als der reiche Mann, welcher seine verlorengegangene Gesundheit für vieles Geld nicht wieder erlangen kann.
Wir alle haben wohl den Wunsch, gesund zu sein und zu bleiben. Die Gesundheit wird von jedermann geschätzt, aber nichtsdestoweniger empfinden viele den wahren Wert der Gesundheit erst bei hereinbrechender Krankheit, oder wenn sie ihren Körper durch eine verkehrte Lebensweise geschwächt haben. Unmäßigkeit im Leben, übermäßiger Genuß alkoholischer Getränke, Mangel an Licht, Luft und Körperbewegung sind gar nicht selten die Ursache von langwierigen, oft unheilbaren Leiden. Ein kräftiger, robuster Körper erträgt zwar eine fehlerhafte Lebensweise länger als ein schwacher, aber schließlich rächt sich auch bei ihm die Natur, denn diese läßt sich nie ungestraft verletzen. Dann soll der Arzt helfen, obwohl er nicht immer imstande ist, die gewünschte Hilfe zu verschaffen, denn jede Heilkunst hat ihre Grenzen; wo die Organe entartet sind, ist eine Wiederherstellung nicht mehr möglich.
Von welch großem Wert es für jedermann ist, mit den Regeln einer rationellen Lebensweise und den Grundsätzen der Gesundheitslehre bekannt zu sein, braucht deshalb wohl kaum gesagt zu werden. Es ist als ein erfreuliches Zeichen der gegenwärtigen Zeit zu betrachten, dass die Kenntnis der persönlichen und sozialen Hygiene durch zahlreiche Publikationen von berufenen Vertretern dieser Wissenschaft immer weiteren Kreisen der Bevölkerung zugänglich gemacht wird. Das allgemeine Interesse für die "Verhütung von Krankheiten" wird dadurch gefördert. Wir haben es uns deshalb besonders angelegen sein lassen, in diesem Buche, welches nicht nur für Kranke, sondern auch für Gesunde ein zuverlässiger Ratgeber sein soll, auf die wichtigsten Regeln der Gesundheitslehre und die Verhütungsmaßregeln gegen viele Krankheiten ausdrücklich hinzuweisen.
Wenn nun aber die Gesundheit schon geschwächt oder gar verloren gegangen ist, ist es wichtig, zur Wiedererlangung derselben mit den zu Gebote stehenden Mitteln und Wegen in etwa bekannt zu sein. Der menschliche Organismus hat das Bestreben, gewaltsame Angriffe von sich abzuwenden und den Schaden aus eigener Kraft wieder auszugleichen; wir müssen deshalb in erster Linie bestrebt sein, alles zu vermeiden, was diesem dem Körper innewohnenden Bestreben, welches "Lebenskraft" oder "Naturheilkraft" genannt werden kann, hindernd in den Weg treten könnte. Unzweckmäßig ist es z. B., ein entzündetes Auge zu starken Lichtstrahlen auszusetzen, mit einer kranken Lunge laut zu singen oder zu schreien, jedes Fieber mit starken Arzneien gewaltsam zu unterdrücken oder Hautausschläge der verschiedensten Art mit scharfen äußerlichen Mitteln zu vertreiben. Sodann müssen wir in zweiter Linie durch geeignete Maßregeln und passende Arzneimittel den Organismus in seinem Kampfe gegen die Krankheit zu unterstützen suchen. Hier öffnet sich unsern Blicken ein weites Feld für die ärztliche Tätigkeit, welche, wenn sie richtig verstanden und aufgefaßt wird, von großem Segen für die leidende Menschheit ist.
Zahlreich sind die Heilmethoden, welche im Laufe der Jahrhunderte erfunden und versucht worden sind, um Krankheiten zu heilen oder zu erleichtern. Zahlreich auch die Arzneien, Haus- und Geheimmittel, welche zu diesem Zwecke empfohlen und verwendet werden. Alle diese Mittel und Methoden haben zu verschiedenen Zeiten ihre Anhänger und Verteidiger gehabt. Viele sind vom Schauplatze verschwunden, während andere sich bis auf den heutigen Tag behauptet haben.
Von diesen kommen, wenn wir von der Chirurgie und Geburtshilfe absehen, bei der Behandlung sog. innerer Krankheiten hauptsächlich:
die diätetische, d. h. die Lebensweise des Kranken regelnde Behandlung,
die physikalische, d. h. die den Kranken mittels Anwendung von Wasser, Luft, Bewegung u. s. w. beeinflussende Behandlung und
die arzneiliche Behandlung in Betracht.
Während in der gegenwärtigen Zeit die Ärzte sich über den Wert der beiden erstgenannten Behandlungsweisen im großen ganzen einig sind, gehen die Ansichten über die Behandlung mit Arzneien noch vielfach weit auseinander. Wenn wir hierbei von der sog. Naturheilmethode, welche ohne alle Arznei auskommen zu können glaubte — ein, wie wir später noch sehen werden, überwundener Standpunkt — vorläufig absehen, sind die beiden Hauptrichtungen auf diesem Gebiete: die sog. Allopathie, welche Arzneimittel in starken Gaben nach symptomatisch-palliativer Indikation verwendet und die Homöopathie oder biologisch-medizinische Heilmethode, welche weniger Wert legt auf gewaltsames Unterdrücken einzelner unangenehmer Krankheitserscheinungen durch starke Arzneigaben, als auf Unterstützung des Naturheilprozesses durch möglichst kleine Gaben solcher Arzneien, welche zu den kranken Zellen und Organen in spezifischer Beziehung stehen.
Die Vorteile der homöopathischen Heilweise werden in den folgenden Abschnitten ausführlich besprochen werden; wir bemerken hier nur kurz, daß die meisten sog. innerlichen Krankheiten nach dieser Methode auf schnelle, sichere und angenehme Weise geheilt werden können und daß diese Heilweise auch bei der Wundbehandlung und bei sog. chirurgischen Krankheiten, insoweit es sich um Beeinflussung des Gesamtbefindens handelt, vorzügliche Resultate aufzuweisen hat. Fügen wir hinzu, daß die homöopathischen Mittel in den geeigneten Verdünnungen (s. 12. Abschnitt) niemals direkten Schaden verursachen können, dann ist es nicht zuviel gesagt, dass die Homöopathie alle Bedingungen erfüllt, die man an eine gute Heilmethode stellen kann.
Man braucht sich deshalb auch nicht zu wundern, daß sich die Zahl der Anhänger dieser Heilweise von Jahr zu Jahr mehrt und ihre Grundsätze endlich auch seitens der offiziellen Schulmedizin angefangen haben, beachtet zu werden. In den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika gibt es beispielsweise mehr als ein Dutzend homöopathischer Universitäten, an welchen die 15000 gegenwärtig dort praktizierenden homöopathischen Ärzte ihre Ausbildung erhalten haben. In England gibt es viele homöopathische Spitäler und Kliniken. Vorläufig sind wir in Deutschland noch nicht so weit, aber das stete Anwachsen der Zahl homöopathischer Ärzte hier zu Lande und neuerdings die Errichtung des größten homöopathischen Krankenhauses in Berlin eröffnen eine gute Aussicht für die endgültige Anerkennung der Homöopathie in ihrem Heimatlande.
Im Volke erfreut sich diese Heilweise schon von jeher in hohen und niederen Kreisen großer Beliebtheit. Besonders an Orten, wo fachmännische ärztliche Hilfe ferne ist, bei plötzlichem Eintreten von Krankheitsfällen, wo nicht sofort ein Arzt zur Stelle ist, in der Hand von Missionaren, die in hundert Fällen oft notgedrungen Hand anlegen müssen zur Linderung der Krankheitsnot der Eingeborenen, leistet die Homöopathie die wertvollsten Dienste. Schließlich ist es für jedermann von Interesse, mit der Behandlungsweise, welcher er in Krankheitsfällen unterzogen werden soll, wenigstens in etwa bekannt zu sein. Wir sehen, daß mit der schnell voranschreitenden Aufklärung unserer Zeit fast jede Kunst ihren exclusiven Charakter aufgibt. Nicht zum mindesten ist dies der Fall bei der Heilkunde, die sowohl für jede einzelne Person als für das Volk in seiner Gesamtheit von so großer Wichtigkeit ist. Bereits Virchow, der Altmeister der Schulmedizin, hat gesagt: "Soll die Medizin ihre große Aufgabe wirklich erfüllen, so muß sie in das große politische und soziale Leben eingreifen; sie muß die Hemmnisse angeben, welche der normalen Erfüllung der Lebensvorgänge im Wege stehen und ihre Beseitigung erwirken. Sollte es jemals dahin kommen, so wird die Medizin, was sie auch sein muß, ein Gemeingut aller sein; sie wird aufhören Medizin zu sein, und sie wird ganz aufgehen in das allgemeine, dann einheitlich gestaltete Wissen, was mit dem Können identisch ist." So weit es möglich ist, das gebildete Publikum mit dem Wesen und den Fortschritten der Heilkunst bekannt zu machen, wird diesem Verlangen nach Aufklärung von den verschiedensten Seiten in steigendem Maße Rechnung getragen. Die Wissenschaft weiter zu entwickeln, ist nicht Sache des Volkes, aber die Teilnahme des Publikums bewahrt die Wissenschaft sehr oft vor Irrwegen, denn allein das, was Nutzen bringt, ist von Bestand. Dem gestifteten praktischen Nutzen verdankt die homöopathische Heilweise ihr Bestehen.
Der Zweck unserer Arbeit ist nun, den Leser mit dieser Heilweise näher bekannt zu machen. Wir beabsichtigen, im ersten Teile dieses Buches unter Wahrung des wissenschaftlichen Charakters eine gemeinverständliche Übersicht über die Entdeckung, die Grundsätze und den Wert der Homöopathie zu geben, um sodann im zweiten und dritten Teile bei der Besprechung der am meisten vorkommenden Krankheiten auf diejenigen homöopathischen Heilmittel hinzuweisen, welche erfahrungsgemäß guten Erfolg versprechen. Daneben werden wir der wichtigsten hygienischen, diätetischen und sonstigen, die Heilung unterstützenden Maßregeln Erwähnung tun, wie solche sich bei uns in der Praxis bewährt haben. Was den Gebrauch des Buches betrifft, empfehlen wir dem Leser, auch ohne gerade in der Not zu sein, zuweilen in demselben zu lesen; für den Laien ist es besonders wichtig, die in der Einführung zum dritten Teile gemachten Vorbemerkungen zur Behandlung und Verhütung von Krankheiten nicht zu übersehen. So möge denn dieses Werk zur Beseitigung von Vorurteilen und Mißverständnissen, die in Bezug auf die Homöopathie hier und dort immer noch vorhanden sind, beitragen, wenn möglich Ärzte und Studierende veranlassen, sich näher mit ihr zu beschäftigen, vor allem aber in vielen Familien, besonders an Orten, die ärztlicher Hilfe entbehren, bei vorkommenden Krankheitsfällen sich segensreich erweisen und vielen ein gern befragter Ratgeber werden zur Wiedererlangung und Bewahrung des kostbaren Schatzes der Gesundheit!
"Nur Gesundheit kann entfalten
Klaren Geist und froh' Gemüt;
Wo gesunde Kräfte walten,
Lebenswonne reich erblüht."
(Friedlieb.)