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Jacob Voorhoeve Homöopathie in der Praxis I. Darstellung der Grundsätze und Lehren der Homöopathie

VII. Abschnitt.
Homöopathie und Chirurgie

Nequid nimis! 1)

 

Vielfach hört man die Meinung äußern, daß die Homöopathen im allge­meinen gegen jede Operation sind. Dies ist nicht der Fall. Nur kurzsichtige und mit Vorurteil erfüllte Homöopathen werden die Segnungen, welche der Menschheit durch den Fortschritt auf chirurgischem Gebiete zu Teil geworden sind, geringschätzen oder gar leugnen. Die Chirurgie ist in der Tat in bewun­dernswerter Weise vorgeschritten. Wer hätte bis vor wenigen Jahrzehnten denken können, daß man es wagen würde, lebensgefährliche Operationen am Unterleibe zu unternehmen, kolossale Geschwülste zu entfernen oder das Gehirn bloß zu legen? Diesen Fortschritt hat die Chirurgie der Ent­wicklung der Anatomie, Physiologie und Pathologie, in erster Linie aber der antiseptischen Wundbehandlung, welche von dem Englischen Arzte Lord Lister eingeführt wurde, zu verdanken. Wir Homöopathen, interessieren uns für jeden Fortschritt auf medizinischem Gebiete und erkennen deshalb auch diese Wundbehandlung als einen großen Fortschritt an auf dem Wege, die Krankheiten und Leiden der Menschen zu heilen. Übrigens ist es bemerkenswert, daß der Entdecker der Homöopathie, obwohl er eine wissenschaftliche Erklärung dafür nicht geben konnte, bereits im Jahre 1784 bei der Wundbehandlung Mittel in Anwendung brachte, welche auch jetzt noch zu den wirksamsten antiseptischen gerechnet werden. In seinem zuerst erschienenen Werke: "Anleitung alte Schäden und faule Geschwüre gründlich zu heilen," verwarf er die damals gebräuchliche Pflaster- und Salbenbehandlung und empfahl Alkohol und Sublimatlösung zu den Verbänden, und lieferte den Beweis, daß er auch in der Technik des Verbandes seinen Zeitgenossen weit voraus war. Seine Methode wurde aber aus Mangel an Verständnis nicht genügend beachtet.

Dasselbe Los der Nichtbeachtung widerfuhr auch dem homöopathischen Arzte Dr. Bolle in Aachen mit seiner eigentümlichen und sehr zweck­mässigen Wundbehandlung, welche er bereits im Jahre 1852 in Ausübung brachte und in verschiedenen Werken beschrieben hat. Dr. Bolle wandte bei Wunden und Quetschungen einen Watteverband an, mit verdünnter Arnica-Tinktur befeuchtet. Er trug Sorge, daß der Verband luftdicht abschloß und ließ ihn so lange wie möglich liegen. Wenn wir nun bedenken, daß zu jener Zeit ganz andere Grundsätze Geltung hatten, daß man die Wunden offen behandelte, den Verband so oft wie möglich erneuerte und von Verbandwatte nichts wissen wollte, dann müssen wir den Scharfsinn und die Beobachtungsgabe dieses homöopathischen Arztes bewundern, welcher mit Recht als ein Vorläufer der aseptischen Wundbehandlung betrachtet werden kann. Dr. Bolle wußte nichts von der später erfolgten Entdeckung der Krankheitskeime und eitererregenden Bazillen und konnte deshalb auch für die gute Wirkung seiner Methode keine richtige Erklärung geben, aber er kam zu seiner Entdeckung, weil er alle scharfen und beißenden Flüssigkeiten, Pflaster und Salben von der Wunde fernhalten wollte und sich der von alters her günstig bekannten Wirkung der Arnica bei Wunden und Quetschungen bediente.

Die großen Vorteile dieses Dr. Bolleschen Arnica-Alkohol-Verbandes liegen erstens in der Abschließung der Luft von den Wunden durch die dichte Lage Watte, wodurch schädliche Eitererreger fern gehalten werden, zweitens in der großen desinfizierenden Kraft des Alkohols, womit die Watte befeuchtet wird und drittens in der heilkräftigen Wirkung der Arnica-Tinktur, welche wissenschaftlich erklärt werden kann durch die günstige Wirkung der Arnica auf die Vermehrung der weißen Blutkörperchen.

Wir bemerken hierzu noch, daß dieser Arnica-Alkohol-Verband sich nicht nur theoretisch richtig erwiesen, sondern auch praktisch bewährt hat in der kleinen Chirurgie der täglichen Praxis, ja sogar bei größeren Operationen, wie solche Jahre hindurch in dem Stuttgarter Diakonissenhause und dem Leipziger homöopathischen Krankenhause ausgeführt wurden, mit Erfolg angewendet worden ist, wie Verfasser aus eigener Anschauung bezeugen kann. Die vom Obermedizinalrate Dr. Sick etwas modifizierte Anwen­dung dieses Verbandes findet folgendermaßen statt: "Nachdem die Wunde von fremden verunreinigenden Bestandteilen mittels sterilisierten (gekochten) Wassers und, wenn nötig, mittels verdünnten Alkohols gesäubert ist, und nachdem die Blutstillung und Vereinigung der Wundränder nach den gewöhnlichen Regeln der Chirurgie herbeigeführt ist, wird die Wunde mit einer Lage Watte bedeckt, welche mit der ersten dezimalen alkoholischen Verdünnung der Arnica-Tinktur, also mit einer Mischung von 1 Teil Arnica-Tinktur und 9 Teilen verdünnten Alkohols getränkt ist; darüber kommt eine Lage trockne Watte, wenn nötig durch Heftpflaster in ihrer Lage gehalten und das Ganze wird dann mit Mullbinden befestigt." Wir haben hier also einen einfachen luftabschließenden Verband, mit Weingeist und verdünnter Arnica-Tinktur versehen, welcher in seinen Resultaten einen Vergleich mit der antiseptischen Methode nicht zu scheuen hat und deshalb vorkommenden Falles bei der Behandlung kleiner Wunden und Quetschungen des täglichen Lebens ruhig empfohlen werden kann.

Wenn die Homöopathie nach dem Gesagten einerseits die Vorteile der wissenschaftlichen chirurgischen Behandlung gebührend zu schätzen weiß, so nimmt sie doch andererseits einen konservativen Standpunkt ein gegenüber der modernen Chirurgie, in der Überzeugung, daß durch eine geeignete arzneiliche innerliche Behandlung — kombiniert, wenn nötig, mit der Anwendung von Ruhe, Bewegung, Diät, aktiver oder passiver Massage, Wasserbehandlung u. s. w. — Operationen bei sogenannten chirurgischen Krankheiten, wie z. B. Krankheiten der Knochen und Gelenke, Fisteln, Hämorrhoiden u. s. w. in manchen Fällen vermieden werden können. Die guten Resultate, welche in letzterer Zeit von dem bekannten Prof. Bier in Bonn in nicht wenigen Fällen, welche reif fürs Messer zu sein schienen, durch seine neue Stauungsmethode ohne Operation erzielt werden, können vielleicht dazu beitragen, das Interesse der Chirurgen mehr als bisher für eine konservative Behandlung zu wecken. Die Vertreter der homöopathischen Richtung werden sich darüber nicht am wenigsten freuen, da auch sie glauben, daß gegenwärtig im allgemeinen zu viel operiert wird.

Die verhältnismäßig geringe Gefahr, die gegenwärtig mit mancher, früher für gefährlich gehaltenen Operation verbunden ist, verleitet so leicht den Chirurgen mehr zu operieren als unbedingt notwendig ist. Man ist zu sehr geneigt, eine innerliche Behandlung zu verwerfen und operative Kunst anzuwenden. Obwohl es wahr ist, daß die gute Technik und die vortreffliche Behandlung während und nach der Operation in der Regel direkte Lebensgefahr ausschließen, sind die meisten größeren Operationen doch nicht so ganz ungefährlich. Schon die Angst und Aufregung des Patienten vor der Operation kann nachteilige Folgen haben. Dasselbe gilt von dem Einfluß und der Nachwirkung des Chloroformierens, während auch der Nachteil des Blutverlustes, welcher mit jeder Operation mehr oder weniger verknüpft ist, besonders für blutarme und geschwächte Kranke nicht unterschätzt werden darf. Daß die Übertreibung auf chirurgischem Gebiete zu gewagten und vermeidbaren Operationen führt, ist nicht nur die Meinung der Homöopathen und Anhänger des Naturheilverfahrens, sondern auch verschiedener Vertreter der Schulmedizin, u. a. des Prof. Dr. L. Kleinwächter in Wien, einer Autorität auf diesem Gebiete, welcher es vor einiger Zeit öffentlich ausgesprochen hat, daß nach seiner Überzeugung viele der operierten Fälle auf anderem, wenn auch etwas längerem Wege hätten geheilt werden können.

Wo wir also das Verhältnis zwischen Homöopathie und Chirurgie betrachten, finden wir einerseits, daß die Fortschritte der operativen Technik und der chirurgischen Behandlung auch vom homöopathischen Arzte, welcher sicher nicht den richtigen Zeitpunkt für eine notwendige Operation verstreichen lassen wird, gebührend geschätzt werden, aber andererseits, daß der homöopathische Arzt sich der operativen Chirurgie gegenüber möglichst konservativ verhält und stets zuerst versuchen wird der Krankheit auf unblutigem Wege Herr zu werden. Wer es als Arzt erlebt hat, welche merkwürdige Natur- oder Kunstheilungen zuweilen in Fällen vorkommen, bei denen eine als unumgänglich notwendig bezeichnete Operation vom Kranken abgelehnt wurde, der wird zwar nun nicht in übertriebener Begeisterung jede Operation verwerfen, aber doch in jedem Falle das Für und Wider erwägen und insbesondere bei größeren Operationen sich fragen, ob der zu erhoffende Erfolg zu der bei jedem derartigen Eingriff mehr oder weniger vorhandenen Lebensgefahr, und — was bei weniger bemittelten Leuten auch ins Gewicht fällt zu den Unkosten und der Berufsstörung im richtigen Verhältnisse steht.

 

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1) Nichts allzuviel.



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