Jacob Voorhoeve |
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Homöopathie in der Praxis |
Medizin |
(1908) |
Medicus curat — natura sanat. 1)
In den letzten Jahren macht die sogenannte Naturheilkunde viel von sich reden. In populären und Fachzeitschriften werden die Vorteile dieser Methode, welche alle Arzneimittel und Operationen verwirft, gerühmt. Wir müssen daher den Standpunkt, welchen die Homöopathie dieser Heilweise gegenüber einnimmt, mit einigen Worten klarlegen. Vorweg bemerken wir jedoch, daß die Behandlung, welche die Naturheilkunde zur Heilung von Krankheiten empfiehlt, nämlich Wasserbehandlung, Massage, Luftkuren, Sonnenbäder, Diät, Bewegung, Ruhe u. s. w., in vielen Fällen auch von den Homöopathen in Anwendung gebracht wird, ja zum Teil bereits lange vor dem Entstehen der heutigen Naturheilbewegung von Hahnemann in seiner Praxis ausgeübt und in seinen Werken empfohlen wurde. Auch das Wort "naturgemäß," welches heute so viel gebraucht wird, finden wir schon in seinem, im Jahre 1813 in 2ter Auflage erschienenen Werke: "Organon der Heilkunst," wo er die Homöopathie eine natur- und erfahrungsgemäße Heilkunst nennt. Daß Hahnemann ein großer Verehrer des Wassers als Unterstützung der arzneilichen Kur war, zeigt uns seine bereits auf Seite 33 erwähnte Schrift, in welcher er ein ganzes, 19 Seiten umfassendes Kapitel dem Wasser widmet und in jedem Satze Ratschläge gibt, welche auch heute, nach 120 Jahren, noch beherzigenswert sind. Am Ende seines Lebens schrieb er in einem Briefe, welcher noch vorhanden ist, über diesen Gegenstand: "Ein guter, vorzüglich homöopathischer Arzt hat von jeher zu rechter Zeit in gehörigen Fällen, herrlichen Gebrauch vom kalten Wasser gemacht, ohne Übertreibung, ohne Schaden damit anzurichten. Jedes an seinem Orte! Das kalte Wasser ist nur ein physisches Beihilfsmittel zur vollkommenen Herstellung durch die gehörige Arznei Geheilter, ehedem Verweichlichter."
Der Anhang, welchen die Naturheilmethode nicht nur in Deutschland, sondern auch in andern Kulturländern, besonders im Laienpublikum, jedoch auch unter den Ärzten gefunden hat, ist der Beweis einer gesunden Reaktion gegen den übermäßigen Gebrauch stark wirkender Arzneimittel einerseits und die Auswüchse des Spezialistentums mit seiner oft einseitigen operativen Behandlung andererseits. Die Naturheillehre legt den Nachdruck auf die Naturheilkraft des Körpers und betrachtet die Krankheiten als einen Selbstheilungsversuch des Organismus, während manche Vertreter der Schulmedizin durch allzugroße Bewertung der lokalen anatomischen Diagnose vielfach den Blick auf das Ganze verloren haben und vorwiegend die Symptome der Krankheit durch diesen entgegengesetzt wirkende Mittel bekämpfen wollen. Dadurch entstand z. B. die Behandlung des Fiebers mit fieberwidrigen Mitteln, der Entzündung mit entzündungswidrigen Mitteln, der Hautausschläge mit starken äusserlichen Mitteln u. s. w., wovon der bereits genannte Prof. Bier gesteht, daß sie trotz aller neugewonnenen Kenntnisse einen Rückschritt bedeutet gegenüber den von den alten Ärzten, z.B. Hippokrates gehuidigten Anschauungen. Die Homöopathie legt nun, wie wir bereits gesehen haben, keinen großen Wert auf gewaltsames Unterdrücken bestimmter Krankheitserscheinungen durch starke Arzneigaben, denn sie sucht gerade durch schwache Arzneireize, welche in einer der Krankheit ähnlichen Richtung wirken, die dem Körper innewohnende Naturheilkraft zu unterstützen. Sie hat daher mit der Naturheilmethode manche Berührungspunkte aufzuweisen. In ihrem blinden Eifer gegen jedes Arzneimittel haben nun aber viele Vertreter der Naturheilmethode übersehen, daß auch eine Arznei ein Hilfsmittel der Natur sein kann, wenn sie in der richtigen Weise angewendet wird. Wenn schon das kranke Tier instinktiv gewisse heilkräftige Kräuter frißt, um seine Krankheit zu heben, soll dann der mit Vernunft begabte Mensch sich nicht die Heilkräfte der Natur zu Nutzen machen, die in Pflanzen und anderen Stoffen enthalten sind? Selbst Lahmann, einer der Hauptvertreter der Naturheilkunde, gibt zu, "daß auch ein chemisches Mittel durch Wachrufung der Reaktionskraft des Organismus heilend wirken könne."
Ferner ist es sicher, daß manche naturärztliche Verordnungen bei den nun einmal bestehenden sozialen Verhältnissen vieler Leute, besonders auf dem Lande, nur selten genau zu befolgen sind, während andere nur in eigens dazu bestimmten Sanatorien zur Ausführung kommen können. Schließlich ist die Tatsache nicht zu übersehen, daß durch Übertreibung solcher Maßnahmen oft mehr geschadet als genützt wird. Zu kalte oder zu warme Bäder, zu lange fortgesetzte Sonnenbäder, übertriebene Abhärtungsmaßregeln, können ebenso schädlich wirken wie zu starke Arzneigaben und die Krankheit verschlimmern statt zu bessern. Besonders blutarme, tuberkulöse und ältere Leute können nicht dringend genug gewarnt werden vor aller Übertreibung auf diesem Gebiete wie auch vor einseitiger Ernährung mit Nüssen, Äpfeln und Gemüsen, wie solche von fanatischen Naturheilvertretern vielfach empfohlen wird.
Das Gesagte nochmals kurz zusammenfassend, finden wir also, daß die homöopathische Schule in der Auffassung vom Wesen und von der Heilung von Krankheiten manche Berührungspunkte mit der Naturheillehre hat und in der Praxis von den milden physikalisch-diätetischen Anwendungen häufig Gebrauch macht, daß sie aber in die Verwerfung aller Arzneimittel und Operationen nicht einstimmen kann, da tausendfache Erfahrung bewiesen hat, daß die nach dem homöopathischen Prinzip gewählten und dosierten Arzneimittel nicht nur imstande sind, in den meisten Krankheitsfällen schnelle und sichere Heilung zu bewirken, sondern sich auch oft noch hilfreich erwiesen haben in Fällen, wo mit wochen- und monatelangen Waschungen, Güssen und dergleichen nichts zu erreichen war. Der reiche Schatz der homöopathischen Mittel gestattet es, dem Leidenden in den meisten Fällen Hilfe zu bringen. Daß auch die Homöopathie ihre Grenzen hat, wird nicht geleugnet, daß es Fälle gibt, in denen der homöopathische Arzt zur Anwendung einer palliativen Arznei, zur Ausführung einer Operation oder zum Aufenthalt in einem Sanatorium rät, wird nicht bestritten, aber dies wirft die Tatsache nicht um, daß in in den allermeisten akuten und chronischen Krankheitsfällen die homöopathischen Heilmittel zur Unterstützung der dem Organismus innewohnenden Naturheilkraft die besten Dienste leisten, was besonders auch für solche Kranke von Wert ist, welche weder Zeit noch Gelegenheit haben umständliche Anwendungsformen der Naturheilmethode zur Ausführung zu bringen.
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1) Der Arzt behandelt — die Natur heilt.