Jacob Voorhoeve |
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Homöopathie in der Praxis |
Medizin |
(1908) |
Kleine Kinder können ihren Gefühlen meistens keinen deutlichen Ausdruck geben; auch treten bei Kindern die Krankheitszeichen manchmal ganz anders als bei Erwachsenen auf. Der Arzt muß sich deshalb in den meisten Fällen bei Kindern mit einer objektiven Untersuchung der Organe begnügen. Nun kann aber die Mutter oder Pflegerin des Kindes durch Mitteilung über ihre Wahrnehmung der ersten Krankheitserscheinungen dazu beitragen, daß der Arzt die Gesundheitsstörungen bald erkennt und deren richtige Behandlung dementsprechend in die Wege leiten kann, wodurch es in vielen Fällen gelingt, einer ernsten Krankheit vorzubeugen. Es ist deshalb besonders für die Mütter von Interesse, mit den allgemeinen Krankheitszeichen ihrer Lieblinge einigermaßen bekannt zu sein.
Wenn das Kind einen ruhigen Schlaf und geregelten Stuhlgang hat, sich beim Erwachen kräftig bewegt und beim Schreien eine kräftige Stimme hat, ferner auf normale Weise an Gewicht zunimmt (s. Seite 274), kann die Mutter sicher sein, daß es gesund ist. Das erste Krankheitszeichen ist gewöhnlich das Schreien, insofern es nicht durch die auf Seite 275 genannten Ursachen hervorgerufen wird. Die Art des Schreiens zeigt oft den Weg zum Erkennen der Krankheit. Heiseres Schreien kommt vor infolge von Entzündung des Halses und der Luftröhre; unterdrücktes Schreien, welches ab und zu in lautes Schreien übergeht und von Nasenflügelatmen begleitet ist, deutet auf Lungenentzündung hin; anhaltendes, lautes Schreien, wobei der Mund soweit als möglich geöffnet wird, ist ein Zeichen von Leibschmerzen, Blähungen oder Verstopfung, gellendes Schreien, welches von Zeit zu Zeit plötzlich hervorgestoßen wird, weist auf Kopfschmerzen hin und kommt bei Gehirnhautentzündung vor. Bei Ohrenschmerzen schreit ein Kind zuweilen stundenlang hintereinander, während es bei Schmerzen in den Gelenken nur dann schreit, wenn die kranken Teile zufällig berührt werden.
Was den Gesichtsausdruck des Säuglings betrifft, ist zu bemerken, daß ein Säugling in gesundem Zustand gar keinen besonderen Gesichtsausdruck hat, während bei Krankheiten die Gesichtszüge sich manchmal auffällig verändern; besonders ist dies bei ernsten Verdauungsstörungen der Fall, indem die Augen einfallen, die Nase spitz wird und die Lippen scharfe Ränder bekommen; bei chronischem Darmkatarrh wird das Gesicht förmlich kleiner und bekommt ein greisenhaftes Aussehen.
Die Lage des gesunden Kindes ist ungefähr folgende: Der Rücken ist etwas nach außen gekrümmt, der Kopf nach vorn gebeugt und die Beine sind an den Leib gezogen. Bei Fieber werfen die Kinder sich hin und her, bei Hirnentzündung ziehen sie den Kopf nach hinten und bohren ihn in die Kissen ein, bei Lungenentzündung liegen sie auf dem Rücken oder auf der kranken Brustseite; bei skrofulöser Augenentzündung liegen sie auf dem Gesicht, bei großer Schwäche bleiben sie unbeweglich liegen und bei Bewußtlosigkeit sind die Augen halb geöffnet und starr und folgen nicht den Bewegungen der Mutter, was gesunde Säuglinge von 4 Wochen meistens schon tun. Tränen weinen Kinder erst nach dem 4. Monat, auch Schwitzen kommt bei Säuglingen selten vor; bei älteren Säuglingen kommt jedoch Schwitzen am Kopf häufig vor und ist dann gewöhnlich das erste Zeichen der Englischen Krankheit.
Die Urinabsonderung ist bei Säuglingen sehr reichlich; in den ersten Monaten soll ein Kind täglich ungefähr 12 Windeln naß machen. Die Stuhlentleerung muß täglich 2—4 mal stattfinden und der Stuhl muß gelblich und weich sein; ist er grünlich und riecht er sauer, dann sind die Verdauungsorgane nicht in Ordnung. Man beachte jedoch, daß auch der normale Stuhl bei längerem Stehen an der Luft ähnliche Veränderungen aufweist. Bei älteren Kindern ist der Stuhl fester und wird 1—2 mal täglich entleert. Wässerige, blutige, schleimige, sehr häufige Stuhlentleerungen sind Zeichen von Darmkrankheiten.
Der Puls hat bei kleinen Kindern nicht dieselbe Bedeutung für die Beurteilung von Krankheiten als bei Erwachsenen, da er durch unbedeutende Veranlassungen (Bewegung, Schreien, Angst, nach dem Saugen u. s. w.) manchmal ebenso schnell beschleunigt, als verlangsamt wird. Im allgemeinen kann man, wenn ein Kind während des Schlafes mehr wie 130 Pulsschläge in der Minute hat, annehmen, daß es Fieber hat. Ein sehr unregelmäßiger Puls ist ein Zeichen von Herz- oder Gehirnkrankheiten; manchmal trifft man jedoch auch bei gesunden Kindern einen mehr oder weniger unregelmäßigen Puls an, ohne daß dies eine ernstere Bedeutung hätte.
Von größerer Wichtigkeit als der Puls zur Beurteilung von Fieberzuständen ist die Körpertemperatur, welche in normalen Verhältnissen ungefähr 37° C. beträgt. Nicht selten fühlen sich Hände und Füße, ja sogar der größte Teil des Körpers kalt an, während dennoch Fieber von 39° C. und darüber vorhanden sein kann. Es ist deshalb wichtig, sich in allen Fällen, in denen Fieber vermutet wird, durch das Anlegen eines Fieberthermometers über die eigentliche Körpertemperatur Gewißheit zu verschaffen. (Man lese hierüber nochmals die ausführliche Beschreibung im 2. Abschnitt dieses Teiles nach.)
Die Atmung bei Säuglingen ist rasch und öfters unregelmäßig, nur während des Schlafes ist sie regelmäßig. In den ersten 6 Monaten beträgt die Zahl der Atemzüge 20—40, später 20—30, bei älteren Kindern 15—25 in der Minute. Sehr schnelles Atmen (40—60 Atemzüge in der Minute) weist auf Lungenentzündung hin, während sehr unregelmäßiges und seufzendes Atmen im Schlafe bei Gehirnkrankheiten vorkommt.
Die Fontanellen am Kopf schließen sich normalerweise im 2. Lebensjahr; vor dem 15. Monat soll sich die vordere Fontanelle nicht ganz schließen, weil sonst die Entwicklung des Gehirns Schaden leidet; schließen sich jedoch die Fontanellen sehr spät, dann liegt die Vermutung nahe, daß englische Krankheit vorliegt. Bei hohem Fieber ist die vordere Fontanelle öfters stark gewölbt, während sie bei schleichenden Krankheiten eingefallen ist.