Jacob Voorhoeve |
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Homöopathie in der Praxis |
Medizin |
(1908) |
28. Fallsucht oder Epilepsie ist eine ziemlich häufig vorkommende Krankheit, welche angeboren oder in der Jugend oder im späteren Alter erworben sein kann. Unter den Ursachen dieses Leidens spielt Erblichkeit eine große Rolle. Kinder epileptischer, geisteskranker oder dem Trunk ergebener Eltern leiden oft an Fallsucht. Ferner hat die Statistik ergeben, daß 1/3 aller chronischen Alkoholiker fallsüchtig wird. Veranlassende Ursachen sind: Schrecken, Gemütsbewegungen, die Entwickelungsjahre bei Mädchen, doch nur bei solchen, welche eine gewisse Disposition für eine solche Krankheit haben. Ein vollkommen Gesunder bekommt vor Schrecken keine Fallsucht. Auch infolge von Kopfverletzungen kann Fallsucht sich entwickeln; in solchen Fällen kann zuweilen durch eine Operation Heilung erzielt werden. Die Krankheit kann in jedem Alter zum Ausbruch kommen, meistens ist dies jedoch zwischen dem 4. und 20. Lebensjahr der Fall, nicht selten sind schon Krämpfe bei kleinen Kindern epileptischer Art.
Ein epileptischer Anfall bietet für denjenigen, welcher ihn noch nie gesehen hat einen schreckenerregenden Anblick. Der Kranke fällt plötzlich mit einem Schrei zu Boden. Der Körper wird steif, der Kopf biegt sich nach hinten, das Gesicht wird blaurot, die Augen rollen in ihren Höhlen, die Pupillen sind erweitert, der Mund ist mit Schaum bedeckt. Bald darauf treten Zuckungen und Krämpfe des ganzen Körpers ein, welche einige Minuten bis zu einer Viertelstunde anhalten, wonach Ruhe eintritt und der Kranke unter den Zeichen großer Erschöpfung einschläft; das Bewußtsein ist während des Anfalls gestört. Die Anfälle treten periodisch auf und wiederholen sich nach Monaten, Wochen oder oft schon nach Tagen. Zuweilen gehen dem Anfalle Vorboten vorauf, wie Angst, Unruhe, Herzklopfen oder ein Gefühl eines den Körper entlang aufsteigenden Hauches. In einzelnen Fällen zeigt sich die Krankheit nur als ein kurzer Verlust des Bewußtseins, ohne daß es zum Krampfausbruch kommt. Bei seiner gewöhnlichen Arbeit blickt der Kranke eine Zeitlang wie geistesabwesend vor sich hin oder spricht einige unzusammenhängende Worte, um hernach ruhig seine Tätigkeit fortzusetzen, ohne daß er sich von diesem Zustande Rechenschaft geben kann. Bei längerer Dauer der Krankheit leiden die geistigen Fähigkeiten mehr oder weniger, das Gedächtnis schwächt sich ab, der Charakter wird eigensinnig oder gewalttätig. Völlige Heilungen kommen nicht sehr oft vor. Je länger die Krankheit währt, um so geringer ist die Aussicht auf Heilung.
Die Behandlung des epileptischen Anfalles selbst besteht nur in dem Entfernen engschließender Kleidungsstücke und dem Bespritzen des Gesichts mit kaltem Wasser. Nach dem Anfalle bringe man den Kranken zu Bett und lasse ihn ausschlafen. Die eigentliche Behandlung der Epilepsie hat den Zweck, die Wiederkehr der Anfälle zu verhüten. Man vermeide dabei alle Geheimmittel und Quacksalbereien, weil dadurch der richtige Moment für den Gebrauch der wirklichen Heilmittel versäumt wird. Für frische Fälle paßt oft Bellad. 4—6, während Opium 6 angezeigt ist, wenn die Anfälle nach einem Schrecken auftreten und lange anhalten; Pulsat. 3—6 paßt bei Mädchen in den Entwickelungsjahren, wenn die Menstruation unterdrückt ist oder die Anfälle während der Menstruation erscheinen; Ignatia 3—6 nach Gemütsbewegungen bei ängstlichen, reizbaren Kranken; Cocculus 4 bei Anfällen, welche morgens früh auftreten und von Übelkeit begleitet sind; Calcar. carb. VI bei scrofulösen Kranken; Plat. muriat. VI bei Störungen in der Funktion der Geschlechtsorgane; Sulfur VI in veralteten Fällen oder wenn der Kranke an Hautausschlag gelitten hat; Zinc. cyan. IV ist ein Mittel, welches in spezifischer Beziehung zu der Gehirnrinde steht und deshalb bei Fallsucht besonders angezeigt ist. Es kann für sich oder im Wechsel mit einem der obengenannten Mittel ein oder zweimal wöchentlich angewendet werden. Ferner werden noch Oenanthe crocata, Cicuta virosa, Rana bufo empfohlen. Das vielgebrauchte Bromkali ist im allgemeinen zu entraten, besonders in frischen Fällen, da dieses Mittel meist nur so lange hilft, wie es eingenommen wird. In unheilbaren Fällen kann es jedoch als palliatives Mittel nicht immer entbehrt werden.
Von der größten Wichtigkeit bei Fallsucht ist die richtige Lebensweise des Kranken. Bereits Hippokrates hat ausgiebigen Aufenthalt in der frischen Luft mit Körperbewegung als Heilmittel bei der Epilepsie empfohlen. Anstrengungen des Kopfes, ausschweifendes Leben, Aufregungen, Gemütsbewegungen müssen vermieden werden. Der Genuß von Kaffee, Tee, geistigen Getränken und Tabak ist strengstens verboten. Wenn möglich lebe der Patient ein oder mehrere Jahre vegetarisch, wobei der Genuß von Milch und Eiern erlaubt ist, und vermeide zu reichliche Mahlzeiten und zu langes Schlafen. Sehr empfehlenswert sind Luftbäder und kalte Waschungen des ganzen Körpers, 3—4 mal wöchentlich. An Fallsucht leidende Kinder dürfen in der Schule nicht angestrengt werden; am besten ist es, sie eine Zeitlang auf das Land oder ans Meer zu schicken, wo sie ihren Körper durch ausgiebigen Aufenthalt in der frischen Luft entwickeln und abhärten können. Aus alledem geht hervor, daß die Behandlung dieser Krankheit stets viel Geduld und Energie, sowohl von Seiten des Patienten als des Arztes erfordert.