Jacob Voorhoeve |
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Homöopathie in der Praxis |
Medizin |
(1908) |
32. Neurasthenie ist gegenwärtig an der Tagesordnung. Nervosität, Nervenschwäche, Energielosigkeit bilden den Boden, auf dem sich die oben besprochenen Hypochondrie und Hysterie entwickeln. Diese Äußerungen einer gestörten Funktion des Gehirns und der Nerven kommen sowohl bei Kindern als bei Erwachsenen in allen Gesellschaftsklassen vor und sind hauptsächlich durch Reizbarkeit, verringertes Widerstandsvermögen und krankhafte Furcht vor allem möglichen Unglück gekennzeichnet. Die Krankheit ergreift das ganze Nervensystem oder einzelne Teile desselben. Ist das Gehirn der Sitz des Übels, dann klagt der Kranke u. a. über eingenommenen Kopf, Kopfschmerzen, Schmerzen in den Augen beim Lesen und Schreiben. Ist das Rückenmark besonders angegriffen, dann treten allerlei Krankheitserscheinungen auf, welche wir bereits früher bei Spinalirritation besprochen haben. Sind hauptsächlich die Magen- und Herznerven im Spiel, dann leidet der Patient an schlechter Verdauung, Blähungen, Verstopfung, Herzklopfen und Unruhe. Neurastheniker haben gewöhnlich schlaffe Muskeln und einen müden Ausdruck in den Augen und klagen über Abnahme des Gedächtnisses. Oft müssen sie mitten in der Arbeit einhalten, weil sie von einem Gefühl der Schwäche befallen werden. Oft können sie sich im nächsten Augenblick nicht mehr auf das besinnen, was sie kurz vorher gelesen oder getan haben. Dabei kommen häufig Angstanfälle vor; Angst beim Fahren in der Eisenbahn, beim Überschreiten eines freien Platzes, beim Aufenthalt in mit Menschen gefüllten Räumen.
Die Ursachen der Neurasthenie liegen bei der Jugend in verkehrter Erziehung, zu vielem Lernen, düsteren Wohnungen ohne Sonnenschein, ferner in Blutarmut, Skrofulöse oder auch in erblicher Veranlagung. In den Entwickelungsjahren kommen noch der Mißbrauch von Tabak und Alkohol und geschlechtliche Verirrungen hinzu, während bei Erwachsenen der erschwerte Kampf ums Dasein, eine unhygienische Lebensweise, der übermäßige Genuß von Reizmitteln, anhaltende Kopfarbeit bei Beamten und Gelehrten und Aufregungen im Beruf bei Kaufleuten, Offizieren, Ärzten oft die Neurasthenie zum Ausbruch kommen lassen.
Was die Behandlung betrifft, warnen wir vor allen mit großer Reklame angepriesenen Geheimmitteln und Quacksalbereien, elektrischen Gürteln und dergleichen, weil ja doch nur der Geldbeutel der Fabrikanten von derartigen Dingen Nutzen hat. Neurasthenie ist nicht durch ein Universalmittel zu heilen. Auch die vielgerühmten Kaltwasserkuren sind oft höchst schädlich; jedenfalls ist eine zu energische Anwendung derselben für ein bereits geschwächtes Nervensystem vom Übel. Die Hauptbedingungen für die Heilung der Neurasthenie sind eine genaue Regelung der Lebensweise, viel Ruhe, sowohl für den Kopf als auch für das Gemüt, ausgiebiger Aufenthalt in derfrischen Luft, Luftbäder und eine zweckentsprechende Ernährung. Was den letzten Punkt betrifft, muß das Hauptgewicht auf den reichlichen Genuß von Milch, Eiern, Gemüsen (auf die richtige Weise zubereitet, s. S. 68), Salaten und Obst gelegt werden, während Fleischspeisen nur mäßig genossen und Kaffee, Tee, Alkohol und Tabak gänzlich vermieden werden müssen. Von den Hilfsmitteln zur Heilung nennen wir folgende: trockene Abreibungen des Körpers mit einen Frottierhandtuch; kühle Waschungen der Brust und des Rückens morgens früh im Bett, wonach man, ohne sich abzutrocknen, noch eine halbe Stunde im Bett bleibt; leichte gymnastische Übungen; schwache Anwendung des galvanischen oder faradischen Stromes, besonders die allgemeine Faradisation (s. S. 99); Luftveränderung, der Aufenthalt am Meer oder in waldreichen Gegenden; systematisches, doch nicht zu anstrengendes Bergsteigen.
Bei der Behandlung mit homöopathischen Mitteln ist es gut, Neurastheniker nicht zu viele Mittel und jedenfalls nicht fortwährend einnehmen zu lassen. Die Hauptmittel sind: Nux vomica bei Kopfschmerzen, eingenommenem Kopf, Verdauungsstörungen und Verstopfung; Phosphori acidum und Kali phosphoricum bei Erschöpfung des Nervensystems infolge von Säfteverlust oder von Überanstrengung; Phosphorus bei argem Angegriffensein des Kopfes und reizbarer Gemütsverfassung; Platina muriatica bei den eigentümlichen neurasthenischen Kopfschmerzen an der Nasenwurzel; Picronitri acidum bei großer Ermüdung nach geringer Körperbewegung und besonders nach der geringsten Kopfarbeit bei großer Neigung zum Liegen und Schlafen; Zincum bei Schmerzen im Rücken und Schwächegefühl in den Beinen; Zincum valerianicum bei nervöser Schlaflosigkeit; Arsenicum album, Calcarea phosphorica, China und Ferrum phosphoricum bei gleichzeitig vorhandener Blutarmut. Vor starken Betäubungsmitteln hüte man sich und befrage in allen Fällen langwieriger Art einen homöopathischen Arzt. Man lasse den Mut nicht sinken; mit Geduld und Ausdauer ist meistens ein günstiges Resultat zu erzielen.