Jacob Voorhoeve |
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Homöopathie in der Praxis |
Medizin |
(1908) |
3. Bleichsucht kommt bekanntlich meistens nur beim weiblichen Geschlecht vor. Blasse Backen und Lippen, eine gelblich-grünliche Gesichtsfarbe, schnelles Ermüden, Herzklopfen und Kurzatmigkeit bei geringer körperlicher Anstrengung sind die Hauptsymptome dieser Krankheit. Oft haben die Kranken absonderliche Gelüste, z. B. nach Kaffeebohnen oder Kreide; meistens haben sie viel Durst und Lust nach sauren Speisen. Die weibliche Regel ist zuweilen nur spärlich, oft jedoch auch zu reichlich. Das Blut hat eine blaßrote Farbe, indem der Hämoglobingehalt der roten Blutkörperchen sehr herabgesetzt ist, wodurch eine geringere Sauerstoffaufnahme und somit eine Schwächung sämtlicher Organe verursacht wird. In ernsten Fällen können sogar die Beine und das Gesicht anschwellen, und auch das Herz und besonders die Lungen können angegriffen werden; es ist deshalb ratsam, sich durch eine genaue ärztliche Untersuchung hierüber frühzeitig Gewißheit zu verschaffen, um so mehr, als das zuweilen noch gute Aussehen der Kranken zu Täuschungen Anlaß geben kann.
Die Ursachen der Bleichsucht sind verschieden. Zuweilen tritt die Krankheit im Anschluß an einen großen Blutverlust bei der Periode auf oder sie ist auf Störungen der Geschlechtsorgane oder auf Selbstbefleckung zurückzuführen; ferner können Mangel an Körperbewegung und Hemmungen des Blutkreislaufs durch zu enge Korsetts oder Gürtel, ungenügende und verkehrte Nahrung, Mißbrauch von Kaffee und schließlich lang anhaltende Gemütsbewegungen zum Ausbruch der Krankheit beitragen.
Die Behandlung bestehe in Regelung der Diät nach den Grundsätzen, welche wir bei der Besprechung der Blutarmut erwähnen werden (s. Seite 305), in dem Vermeiden von Kaffee und geistigen Getränken und von mit Essig zubereiteten Speisen, ferner in großer körperlicher und geistiger Ruhe und vielem Aufenthalt im Freien. Übertriebene Kaltwasserprozeduren sind ebenso schädlich wie häufige warme Bäder, dagegen sind kühle Abwaschungen und besonders Zimmerluftbäder, mit systematischem Tiefatmen verbunden, sehr empfehlenswert. Homöopathische Arzneimittel haben in den meisten Fällen guten Erfolg. Ist der Magen nicht in Ordnung (Magenkrampf, Magensäure, Übelkeit), dann ist es am besten, diesen zuerst in die Kur zu nehmen und zwar hauptsächlich mit Nux vomica, Ignatia, Ipecacuanha, Pulsatilla oder Arsenicum, nach den im 1. Abschnitt bei diesen Mitteln gegebenen charakteristischen Anweisungen, einen Versuch zu machen, wobei auf strenge Bettruhe, nasse Umschläge um den Magen und eine Diät von Milch, Eiern und Weißbrot, welcher bei zunehmender Besserung mageres Fleisch, zartes Gemüse und Obstkompott hinzugefügt werden können, zu halten ist. Sind die Verdauungsorgane auf diese Weise gekräftigt, dann sind Calcar. carbon. VI und Calcar. phosph. VI bei Mädchen, welche eine zu starke, zu lang anhaltende und zu früh eintretende Menstruation haben, und die Ferrum-Präparate, zuweilen in Verbindung mit Pulsat. 3—6 oder Sulfur VI—XII, bei Mädchen, welche eine zu spärliche und zu spät eintretende oder überhaupt keine Menstruation haben, am meisten zu empfehlen. Man hat nicht nötig, die üblichen großen Dosen Eisen zu geben; die 3. oder 2. Dezimalverreibung von Ferrum phosphoricum oder Ferrum haematinatum, von welchen 2—3 mal täglich eine Messerspitze (¼ Gramm) genommen werden soll, genügt in den meisten Fällen. Auch das ameisensaure Eisenpräparat: Hensels Tonicum kann bei Kranken mit kräftigen Verdauungsorganen empfohlen werden, während es von solchen mit schwachem Magen schlecht vertragen wird; letzteren bekommt oft das sog. Liquor ferro-mangani-saccharati der Firma Helfenberg besser, besonders wenn es in kleinen Mengen nach den Mahlzeiten genommen wird. In Fällen, die für Ferrum geeignet sind, aber trotzdem durch Verabreichung von Eisen keine Besserung erfahren sollten, sind Cuprum XII, Cupr. acet. IV, Arsen. alb. 4—6 und China 3 angezeigt.