§ 91. Entwicklung des Spinozischen Begriffs von der Kausalität der Substanz und dem Ursprung des Endlichen
Da nach Spinoza aus unendlichen Modifikationen der Attribute Gottes immer wieder nur unendliche Modifikationen folgen, so könnte man die Frage aufwerfen: Wie entstehen denn nun aber oder woher kommen wohl die endlichen Modifikationen, d. i. die endlichen Dinge oder das Endliche überhaupt? Allein, diese Frage ist eine nicht aus der Philosophie des Spinoza hervorgehende und in ihr enthaltne, sondern ihr ganz äußerliche und fremde Frage. Spinozas Philosophie ist sowenig ein Versuch, den Ursprung der endlichen Dinge aus dem Unendlichen oder das Dasein derselben zu »erklären« oder die Frage zu lösen, wie die Welt aus Gott komme, daß sie vielmehr die Frage selbst und den Standpunkt, von dem aus diese Frage allein möglich ist und getan wird, aufhebt und verwirft. Denn diese Frage ist eine theologische oder theologisch metaphysische; aber die Philosophie des Spinoza ist eben eine Reinigung und Befreiung von aller Theologie und theologischen Metaphysik, sie ist reine, absolut selbständige Philosophie.
Wahrheit wirkliche Existenz ist nach Spinoza allein unendliche uneingeschränkte Existenz, ja, der Begriff der Unendlichkeit und der Begriff der Existenz ist im Geiste Spinozas ein Begriff, nur Unendlichsein Sein; denn was ist das Sein anders als eben das, was keine Negation einschließt? Und ist nicht dasselbe das Unendliche? Daß das Endliche wahrhaft wirkliche Existenz habe, ja überhaupt, daß das Endliche als Endliches Existenz habe, ist nach Spinoza unmöglich; denn Existenz ist ein schlechthin Positives, Unbeschränktheit, aber das Endliche kann doch wohl nicht Unendlichkeit haben, das Endliche nicht unendlich sein. Das Endliche hat also nur endliche Existenz, also nicht wahre, nur negative Existenz, es kommt ihm als Endlichem nur Nichtsein zu. Von der Spinozischen Philosophie aus ist also die Frage: Wie ist das Endliche aus dem Unendlichen erklärbar? oder wie sie sonst noch ausgedrückt werden mag, ganz unmöglich; denn dem Endlichen kommt als Endlichem kein (reelles) Dasein zu. Wahre Existenz oder überhaupt Existenz — denn die wahre Existenz ist erst Existenz — haben die einzelnen Dinge nur, inwiefern sie nicht einzelne, bestimmte, außer- und nacheinander seiende sind und eines von dem andern zum Dasein und Wirken bestimmt wird, sondern inwiefern sie als nicht voneinander unterschiedne eins ausmachen, in der Einheit ihrer göttlichen Attribute begriffen sind. Wahre Existenz haben sie nur in Gott, aber so sind sie nicht außereinander, nicht einzelne, nicht bestimmte, also nicht endliche Wesen; denn in Gott ist alles dieses ein wesentliches Zugleich und Zusammen, »ibi enim omnia haec sunt simul natura«. (»De Intell. Emend«)162) Allerdings kommt auch nach Spinoza den endlichen Dingen Sein und Wirklichkeit zu, aber nicht als nur endlichen. Denn es ist, wie soeben entwickelt wurde, unmöglich, daß dem Endlichen als Endlichem Sein im Sinne des Spinoza, d. i. uneingeschränkte Position, zukomme. Das Sein ist (um diesen Gedanken von einer andern, in der Philosophie Spinozas liegenden Seite her zu entwickeln) unteilbar, ist einfach, ist an sich selber eines nur, denn es ist das schlechthin Undeterminierte, Uneingeschränkte, und nur Bestimmtes, Verschiedenes, Beschränktes läßt sich teilen, ist vielfach; das Sein kann daher auch nur einem zukommen, nämlich der Substanz. Allerdings folgen daher auch die einzelnen Dinge aus der Substanz oder dem Unendlichen, aber nicht als einzelne, nicht als endliche, oder vielmehr sie sind, inwiefern sie als Ausdrücke der göttlichen Wesenheit gedacht werden, ursprünglich, a priori eins mit der Substanz, gleich ewig mit Gott; denn was sind die unendlichen Attribute Gottes anders als die einzelnen endlichen Wesen als ein Wesen? So notwendig die Attribute oder die unendlichen Modi der Substanz zugleich mit ihr gesetzt sind, so notwendig sind die einzelnen Dinge zugleich mit ihr gesetzt.
Gott oder die Substanz ist daher, wie sich für jeden Denkenden von selbst versteht, nicht der Zeit nach etwa eher als die Dinge oder ihre Affektionen sondern nur der Natur nach163), nur, wie die Ursache eher ist als die Wirkung, das Wesen eher als seine Eigenschaften. Das Unendliche oder die Substanz hat ja kein apartes, spezielles, von dem Sein des Endlichen oder der endlichen Affektionen für sich selbst abgesondertes Sein, noch viel weniger aber hat das Endliche ein selbständiges, vom Sein des Unendlichen abgesondertes, für sich wahres Sein; es hat sein Sein nur in Gott. Die Substanz ist der Kern der Dinge, die immanente Ursache der selben, die nicht die Wirkung außer sich in ein von ihr unterschiednes, selbständiges Dasein hinausläßt und, wie es gewirkt hat, von der Wirkung in sich wieder zurücktritt, eine Ursache also, in der die Wirkung bleibt, deren Wesen oder Substanz also die Ursache selbst ist. Der Substanz ist eben deswegen, weil sie die immanente Ursache der Dinge ist, die Bestimmung, Ursache zu sein oder zu wirken, nicht gleichgültig oder äußerlich; die Macht Gottes, d. i. die Bestimmung, Ursache zu sein, ist selbst sein Wesen. »Dei potentia est ipsa ipsius essentia. Potentia Dei, qua ipse et omnia sunt et agunt, est ipsa ipsius essentia.« (»Eth.«, P. I, Pr. 34) »Eo sensu, quo Deus dicitur causa sui, etiam omnium rerum causa dicendus est.« (Prop. 25, Schol.) »Tam nobis impossibile est concipere, Deum non agere quam Deum non esse.« (»Eth.« P. II, Pr. 3, Schol.)164) Es ist nicht seine Willkür, es hängt nicht von seinem Willen ab, es ist nicht ein Zweck, eine Absicht dabei, daß er wirkt; er wirkt aus Notwendigkeit, eine Notwendigkeit, welche aber nichts von ihm Unterschiednes sondern sein Wesen, er selbst, darum Freiheit ist, d.h. also, im Begriff Gottes als Substanz liegt der Begriff der Ursache, ja, der Begriff der Substanz und der Begriff der Ursache ist Ein Begriff; ich kann die Bestimmung, Ursache Zu sein, von der Substanz nicht weglassen, sie ist Substanz nur als Ursache; so notwendig sie Substanz ist, so notwendig ist sie Ursache. So notwendig aber, so wesentlich, so eins mit der Substanz die Bestimmung ist, daß sie Ursache ist, so notwendig, so wesentlich, so eins mit der Substanz ist die Wirkung.
Da die Bestimmung, Ursache zu sein, eins ist mit dem Wesen der Substanz, so ist die Substanz selbst notwendig das absolute Wesen der Wirkung, der absolute Gehalt derselben, und die Bestimmung, die Substanz der Wirkung zu sein, eine Wesenbestimmung von der Substanz. Aus dem Unendlichen daher, welches nicht für sich selbst als ein vom Endlichen besonders Unterschiednes und nicht die zufällige oder willkürliche Ursache desselben, sondern als seine Ursache seine Substanz und als seine Substanz seine Ursache ist, dessen wesentliche, substantielle Bestimmung es ist, die Substanz und die Ursache des Endlichen zu sein oder welches nur das ist, was es ist, das Unendliche nämlich als die Ursache und Substanz des Endlichen, ist dieses nicht entstanden oder hervorgetreten — denn entstehen heißt aus einem andern in ein eignes besonderes Dasein für sich heraustreten , es ist und bleibt in seiner Ursache als in seinem Wesen. Das Verhältnis der Ursache zur Wirkung und umgekehrt ist ein innres, wesentliches, ewiges; sowenig in der Substanz die Bestimmung, Ursache zu sein, entstanden ist dies könnte sie nur sein, wenn sie ein von dem Wesen derselben Abgesondertes wäre , sowenig ist die Wirkung ein Entstandnes oder von der Ursache für sich Abgesondertes und damit kein Grund zu der Frage nach der Entstehung und Entstehungsart der Wirkung vorhanden, die Frage hiermit selbst eine nichtige und unpassende.165) Das Verhältnis der Wirkung zur Ursache oder der Ursache zur Wirkung ist kein von dem Verhältnis der Akzidenzen zu ihrer Substantz und umgekehrt abgesondertes, der Begriff des Akzidenz ebensowenig vom Begriffe der Wirkung abgesondert oder besonders für sich unterschieden als der Begriff der Substanz von dem der Ursache.
Das Werden ist daher überhaupt nichts Seiendes, d. i. nichts Absolutes, da Seiendes und Absolutes nach Spinoza identisch sind, die Zeit ist nur ein modus cogitandi oder imaginandi.166) Die einzelnen endlichen Dinge, die nur eine bestimmte Existenz haben, werden nur von andern einzelnen Dingen zum Dasein bestimmt; aber das Dasein, zu dem ein einzelnes Ding von andern einzelnen bestimmt wird, ist nur sein Sein in der Zeit. Nur in ihr gibt es daher überhaupt eine Entstehung. Aber die Zeit ist eben nicht die wahre, die göttliche oder substantielle Anschauung der Dinge — denn diese ist die Anschauung von ihnen in ihrem Einssein, in ihrem Sein in der Substanz , sondern nur eine Art und Weise, wie die einzelnen denkenden Wesen die Dinge vorstellen; nur in der Anschauungsweise endlicher Wesen haben also die einzelnen Dinge einzelnes, endliches Dasein, wird eins von dem andern zum Dasein bestimmt, entstehen und vergehen sie.167)
_________________
162) Trotzdem ist mit dem hier (1833) Gesagten der Gordonische Knoten der spinozistischen Philosophie nur zerhauen, aber nicht aufgelöst. Wie Denken und Ausdehnung trotz der Einheit der Substanz im Widerspruch des Cartesischen Dualismus stehenbleiben, so auch das Unendliche und Endliche. Aus dem Unendlichen kommt immer nur Unendliches, aus dem Endlichen immer nur Endliches heraus. »So haben wir«, wie sich Sigwart hierüber l. c., S. 93 ausdrückt, »zwei Regionen, innerhalb jeder eine Vermittlung, aber unvermittelt miteinander. Dieser Hiatus in dem Spinozischen Systeme ist daher auch sonst nicht unbemerkt geblieben.« Nein, schon Wittich in der zitierten Schrift bemerkt ihn. Übrigens hat Spinoza im Gegensatz zur theistischen Erklärung, welche unmittelbar oder, was eins ist, durch das Mittel der schrankenlosen Willkür oder Allmacht das Endliche aus dem Unendlichen ableitet, vollkommen recht, wenn er behauptet, daß das Endliche oder Bestimmte nicht aus dem Unbestimmten, sondern nur aus einem selbst wieder Bestimmten entspringen könne, aber gleichwohl läßt er als erste und ausgemachte Wahrheit das alte theistische unendliche Wesen bestehen; so kommt er auf keine organische Weise zum Endlichen, Bestimmten, d. i. Wirklichen. Dieser wie alle andern Widersprüche und Unbegreiflichkeiten Spinozas finden ihre Erklärung und Lösung in der Definition: »Spinoza ist die Negation der Theologie auf dem Standpunkt der Theologie« oder die selbst theologische Verneinung der Theologie.
163) Diesen Punkt sowie den bereits in der Einleitung zu Spinoza abgehandelten, daß nämlich die Substanz nicht »aus Teilen zusammengesetzt, sondern schlechterdings unteilbar und im strengsten Verstande eins« und daher nicht »ein ungereimtes Aggregat aus endlichen Dingen, folglich auch kein bloßes Abstraktum sei«, hat schon Fr. H. Jacobi vortrefllich beleuchtet,
164) »›Dieuest cause de tout dans le même sens qu'il est cause de luimême.‹Mais s'il est cause de luimême, ce n'est pas qu'il agisse pour se donner l'existence, ou qu'il se produise. Il n'agit donc pas pour donner l'existence aux autres choses, il ne le produit pas, et il n'y a proprement dans toute la nature ni action, ni production, ni cause, ni effet.« (Condillac, »Traité des Systèmes«, ch. X) Ganz richtig. Das Wesen des Verstandes ist dem Spinoza das Wesen der Dinge. Die Wirkung hat daher keine andere Bedeutung als die einer logischen Folge. »Eatenus tantummodo agimus, quatenus intelligimus.«
165) Es muß hier noch, um viele andere Berichtigungen und Bemerkungen, die sich über die Kritik Jacobis und Tennemanns Über Spinoza, die wir allein berücksichtigen, machen ließen, zu übergehen, in Beziehung auf den letztern nachträglich bemerkt werden, daß er (»Geschichte der Philosophie«, 10. Bd., S. 473) das Scholion zum 17. Lehrsatz unrichtig auslegt. Was dort Spinoza vom intellectus dei sagt, ist nur eine Annahme, und es ist ganz richtig, daß der intellectus dei, inwiefern er als das Wesen Gottes konstituierend betrachtet wird, zu welchem noch mehr und andres als der Verstand gehört, mit unserm intellectus nichts gemein haben kann als den Namen; aber der intellectus ist nach Spinoza, er mag nun infinitus oder finitus gedacht werden, nur ein Modus des Attributs des absoluten Denkens; die Substanz des intellectus infiniti sowohl als finiti ist daher das Denken; dieses haben sie miteinander gemein, nicht einen bloßen Namen. Übrigens muß ich (1847) gestehen, daß ich die Gründe, die Spinoza hier anführt, warum der Verstand nicht zu Gott gerechnet werden könne, nicht mit der causa immanens und andern spinozistischen Bestimmungen zusammenreimen kann. Dasselbe muß ich in Beziehung auf manche andre Sätze Spinozas bekennen, die mir entweder für sich selbst dunkel sind oder die ich wenigstens nicht mit den Grundsätzen Spinozas zusammenreimen kann.
166) Vergl. z.B. B. d. Spinoza, »Cogitata Metaphysica«, p. 90, und »Epist.« 29. »Clare videre est, Mensuram, Tempus et Numerum nihil esse praeter cogitandi seu potius imaginandi modos.« Ausführlich und belehrend handelt Hegel von dem Begriffe und der Bedeutung der Zeit im Systeme des Spinoza in dem von ihm und Schelling herausgegebenen »Kritischen Journal der Philosophie«, II. Bd., 1. St., S. 73-89, wo er die Mißgriffe, die sich Jacobi in der Auffassung und Beurteilung dieses Punktes der Spinoz. Philosophie zuschulden kommen ließ, aufzeigt.
167) Über den Gegenstand dieses Paragraphen verbreiten auch folgende Stellen des Spinoza Licht: »Consideres, homines non creari, sed tantum generari, et quod eorum corpora jam antea existebant, quamvis alio modo formata... Si una pars materiae annihilaretur, simul etiam tota Extensio evanesceret.« (»Epist.« 4)