§ 85. Erläuterung des Begriffs von der Einheit des Wesens und der Existenz in der Idee der Substanz


Im zweiten Scholion zum achten Lehrsatze erklärt sich Spinoza über die Schwierigkeit, die es für die Menschen hat, die Wahrheit des siebenten Lehrsatzes einzusehen, und sagt, sie liege darin, daß sie zwischen Substanzen und Modifikationen, die in einem andern sind und deren Begriff von dem Begriff des Wesens, worin sie sind, abgeleitet ist, keinen Unterschied machen. »Von Modifikationen nämlich«, sagt er, »können wir wahre Ideen haben, wenn sie gleich nicht existieren, weil, wenn sie auch nicht wirklich existieren, doch so in einem andern ihr Wesen enthalten ist, daß sie durch dasselbe begriffen werden können. Aber die Substanzen existieren außer der Intelligenz, nur in sich selbst, weil sie durch sich selbst gedacht werden. Wenn daher einer sagte, er habe eine klare und deutliche, d. i. wahre Idee von der Substanz, er zweifle aber dennoch, ob so eine Substanz existiere, so ist das gerade soviel, als wenn er sagte, er habe eine wahre Idee, zweifle aber nichtsdestoweniger, ob sie wahr sei. Denn wer die wahre Idee hat, der kann nicht daran zweifeln, daß er sie hat.« Tennemann sagt dagegen (in seiner »Geschichte der Philosophie«): »Dieser Begriff, daß die Substanz nur in sich, nicht in einem andern ist, ist jedoch ebenfalls wieder ein Denken, aus welchem kein reales Sein folgt.« Da unter »dem realen Sein« vom Kantischen Standpunkt aus nicht das mit dem Denken identische, d. i. durch die Vernunft nur wahrnehmbare Sein verstanden werden kann, sondern das mit dem Sinn identische, das Sein »im Kontext der Erfahrung«, im Umfang der wahrnehmbaren Gegenstände, so ist es ganz richtig, daß aus diesem Begriffe von der Substanz nicht ihr reales Sein, d. i., aus dem Begriffe von der Realität der Substanz nicht ihre Unrealität, aus dem Begriffe der Substanz nicht folgt, daß sie nicht Substanz ist. Denn die Substanz wäre nicht Substanz, wenn sie ein Objekt der Erfahrung, d. i. ein wahrnehmbares wäre; denn dann wäre sie bestimmtes, besonderes Ding, d. i. ein Sinnliches, welches nur eine endliche Affektion der Substanz, aber nicht Substanz ist.

Kant sagt: »Für Objekte des reinen Denkens ist ganz und gar kein Mittel, ihr Dasein zu erkennen, weil es gänzlich a priori erkannt werden müßte, unser Bewußtsein aller Existenz aber (es sei durch Wahrnehmung unmittelbar oder durch Schlüsse, die etwas mit der Wahrnehmung verknüpfen) gehört ganz und gar zur Einheit der Erfahrung, und eine Existenz außer diesem Felde kann zwar nicht schlechterdings für unmöglich erklärt werden, sie ist aber eine Voraussetzung, die wir durch nichts rechtfertigen können.« (»Kritik der reinen Vernunft«, S. 629) Wäre in der Kantischen Philosophie wenigstens in Beziehung auf die theoretische Vernunft nicht das sinnliche Sein als das reale Sein vorausgesetzt, so würde sie am ontologischen Beweise, vor allem aber an der Substanz erkannt und eingestanden haben, daß es allerdings Objekte des reinen Denkens gibt, deren Dasein durch kein anderes Mittel als eben das Denken selbst erkannt wird, daß der Begriff der Substanz eben der ist, mit der unmittelbar sein Objekt gegeben ist, daß die Substanz das ist, bei dem das Sein nicht vom Denken sich unterscheiden läßt, und daß eben dieses vom sinnlichen Sein unterschiedne, mit dem Denken aber identische Sein, das reale, substantielle Sein, das Sein der Substanz, dagegen das vom Denken unterschiedne Sein, d. i. das sinnliche Sein, nur das Sein der endlichen Modifikationen ist. »Respondeo«, sagt Spinoza, »nos nunquam egere experientia, nisi ad illa, quae ex rei definitione non possunt concludi, ut ex gr. existentia Modorum: haec enim a rei definitione non potest concludi. Non vero ad illa, quorum existentia ab eorundem essentia non distinguitur ac proinde ab eorum definitione concluditur. Imo nulla experientia id unquam nos docere poterit, nam experientia nullas rerum essentias docet, sed summum, quod efficere potest, est, mentem nostram determinare, ut circa certas tantum rerum essentias cogitet. Quare cum existentia attributorum ab eorum essentia non differat, eam nulla experimentia poterimus assequi.«154) (»Epist.« 28) Gesetzt aber auch, es wäre die Substanz nur ein Gedankending, dem kein Objekt entspräche, so hätte eben dieses Gedankending selbst als Gedankending mehr Objektivität, mehr Wirklichkeit als alle äußerliche Objektivität und Wirklichkeit mit allen ihren einzelnen Existenzen und Objekten samt und sonders. »Si enim tale ens (scl. quod est omne esse) non existeret, nunquam posset produci, adeoque mens plus posset intelligere, quam natura praestare.« (»De Intell. Emend.«, p. 431)155) Und wenn auch gleich der Begriff der Substanz, des Wesens, dessen Begriff die Existenz enthält, das nur als seiend gedacht werden kann und das man gar nicht gedacht hat, wenn man es nicht als seiend gedacht hat, auch nur ein Begriff wäre, so könnte doch das Denken nie auf diesen Begriff kommen, wenn jene Kantische Trennung wirklich in der Tat begründet wäre, wenn der Unterschied von Begriff oder Denken und Sein, der wohl bei den Modifikationen der Substanzen, aber nicht bei der Substanz selbst stattfinden kann, eine Wahrheit wäre. Allein der Begriff der Substanz — und eben deswegen ist es der Begriff der Substanz, nicht irgendeiner andern beliebigen und eingebildeten Sache, eben deswegen der einzige Begriff, der keinesgleichen hat, der unvergleichliche, den daher jener sonst allgemeine Unterschied von Begriff überhaupt und Sein gar nicht trifft und berührt, der absolute, der unendliche Begriff — hat seine Wirklichkeit unmittelbar in sich selber, er ist ein unmittelbar sich selbst bejahender und als reell bewährender, über die Subjektivität übergreifender, unmittelbar als Objektivität, als Wahrheit sich erweisender Begriff. Es ist unmöglich, daß man den Begriff der Substanz habe und doch noch zweifle oder frage, ob ihr wohl Wirklichkeit zukomme; denn die Substanz eben ist dieses, wo sich jene Unterscheidung, die nur bei den Modifikationen gilt, aufhebt, das, was den Begriff der Substanz zum Begriff der Substanz und keines andern Dings macht, eben dieses, daß in ihm der Unterschied zwischen Sein und Denken sich auflöst; und man hat daher entweder gar nicht den Begriff der Substanz, wie sie Spinoza dachte und wie sie gedacht werden muß, sondern nur eine Einbildung davon, oder man vernichtet den Begriff der Substanz, identifiziert ihn mit dem Begriff überhaupt, einem Abstraktum oder andern Begriffen, hebt den Unterschied zwischen dem Begriff der Substanz und dem Begriffe andrer beliebiger Dinge auf, den Unterschied, der gerade den Begriff der Substanz zum Begriff der Substanz macht, wenn man noch fragt, ob er denn eine ihm entsprechende Wirklichkeit habe, oder die Substanz für ein bloßes Gedankending hält. Wie das Licht sich selbst als Licht offenbart, so offenbart sich die Substanz als Substanz und eben damit als Existenz, als Wirklichkeit. Bei dem Begriffe der Substanz daher noch fragen, ob er denn auch Wirklichkeit habe, ist gerade soviel, als wenn einer mitten im Glanze des Lichtes noch fragte: Ist denn das Licht, das ich sehe, auch wirkliches Licht und nicht etwa gar Finsternis? Denn, wie die Finsternis die reine Abwesenheit des Lichtes ist, so ist die Privation oder Negation der Existenz der Substanz nicht eine bestimmte oder beschränkte Verneinung des Begriffes der Substanz, so daß ungeachtet dieses Mangels oder dieser Verneinung mir doch noch ein klarer Begriff der Substanz übrigbliebe, wie mir die Idee einer Modifikation übrigbleibt, wenngleich ihre Existenz aufgehoben ist, sondern die reine, die totale Verneinung der Substanz und ihres Begriffes, die nicht etwas von ihm hinwegnimmt, sondern ihn selbst aufhebt. Wie das Sehen die unmittelbare Offenbarung von der Wirklichkeit des Lichtes oder die unmittelbare Offenbarung des Lichtes als Lichtes, die Affirmation ist, daß es Licht und nicht Finsternis ist, so ist das Denken der Substanz die unmittelbare Offenbarung ihrer Wirklichkeit, die Affirmation derselben als Substanz und eben damit als Wirklichkeit.

Spinoza demonstriert allerdings die Existenz der Substanz, aber wenn man auf den Geist und Inhalt, auf die Idee der Substanz, die die Grundlage ist, nicht auf die bloße äußere Form sieht, so findet man, daß selbst abgesehen von dem historischen Umstande, daß es der Gebrauch der frühern Philosophen war, ihre Ideen in der Form von Demonstrationen oder Schlüssen zu geben — der Beweis bei ihm nur die Bedeutung eines Formellen, nur einer Vermittlung der an sich unmittelbar sich als wahr affirmierenden Idee für das Subjekt haben kann, daß der Beweis nicht die Bedeutung eines Objektiven oder eines Erzeugenden und Hervorbringenden, sondern nur einer Bewahrheitung und Erörterung zum Behufe des Subjektes hat. Bei Hobbes hat die Demonstration objektive, reale Bedeutung, denn sein Objekt ist ein ganz äußerliches, zusammensetzbares, auflösbares: der Körper; aber bei Spinoza, dessen Objekt, die Substanz, geradezu das Gegenteil des Hobbesschen Objektes ist, ist der Beweis nur äußerliches Mittel zur Sache, nicht selbst Sache. »Mentis enim oculi«, sagt er, »quibus res videt observatque, sunt ipsae demonstrationes156) (»Eth.«, P. V, Prop. [Lehrsatz] 23, Schol.) Spinoza statuiert ja schlechthin unmittelbare Begriffe, die nicht aus andern Begriffen erzeugt oder von ihnen abstrahiert werden, Begriffe, die, weil sie schlechthin Positives oder Wirkliches ausdrücken, weil sie die unmittelbare Affirmation der Existenz ihrer Gegenstände sind, selbst schlechthin positive, sich selbst aus und durch sich, d. i. unmittelbar als wahr bejahende Begriffe sind. Diese unendlichen, durch nichts andres vermittelten, unabhängigen Begriffe sind aber die Begriffe der Ausdehnung und des Denkens oder vielmehr der Begriff der Substanz. »Terminus extensionis necessariam includit existentiam (aut, quod idem est, existentiam affirmat), aeque extensionem sine existentia, ac existentiam sine extensione impossibile erit concipere.« (»Epist.« 41) Da der Begriff der Substanz ein schlechthin unbedingter und unabhängiger Begriff und die unmittelbare Affirmation ihrer Wirklichkeit oder Existenz ist, so kann eben der Beweis von ihrer Existenz nur die Bedeutung eines Formellen, einer nur subjektiven Vermittlung haben. Der siebente Lehrsatz: »Ad naturam substantiae pertinet existere« stützt sich daher in Wahrheit nicht etwa, wie Tennemann meint, auf den Beweis, der aus den früheren Sätzen hervorgeht, sondern auf den Begriff der Substanz selbst, der die Notwendigkeit seiner selbst ist, der sich selbst als Wahrheit, wie das Licht sich als Licht, manifestiert oder für sich selber die Affirmation der Existenz seines Objektes und Wahrheit seiner selbst ist.157)

 

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154) Es gehört hierher auch noch folgende, auch in andrer Rücksicht merkwürdige, sich auf den Begriff der Einzigkeit und Einheit Gottes beziehende Stelle: »Quoniam vero Dei existentia ipsius sit essentia deque ejus essentia universalem non possimus formare ideam, certum est, eum, qui Deum unum vel unicum nuncupat, nullam de Deo veram habere ideam, vel improprie de eo loqui.« (»Epist.« 50)

155) Epistola 45 drückt Spinoza diesen Gedanken so aus »Quod cogitandi potentia ad cogitandum non major est, quam naturae potentia ad existendum et operandum. Clarum hoc verumque est axioma, unde Dei existentia clarissime et efficacissime ex sua idea sequitur.« Wir bemerken dagegen Wenngleich das Denkvermögen ein Naturvermögen ist, so folgt doch keineswegs eine solche Identität hieraus, daß, was die Natur als res cogitans denken kann, sie auch als res extensa oder existens und operans »prästieren« kann, denn das eben ist das eigentümliche Wesen der potentia cogitandi, daß sie den Positiv der Natur auf den Superlativ steigert. Alle Vollkommenheit des entis perfectissimi existieren zwar als Positive in der Natur, aber als Superlative nicht außer dem Denken.

156) Die Stelle in seinem »Tractat. Theolog. politico«, c. 13, p. 337: »Res invisibiles et quae solius mentis sunt objecta, nullis aliis oculis videri possunt, quam per demonstrationes«, steht hiermit, zumal in ihrem dortigen Zusammenhange, nicht in Widerspruch. um sich übrigens hiervon vollkommen zu überzeugen, verbinde man auch hiermit Spinozas Gedanken von der Gewißheit und der wahren Idee, die weiter unten vorkommen. Hieraus erhellt zugleich die Grundlosigkeit des Räsonements Jacobis, wenn er den weg der Demonstration und die Sucht, alles erklären und beweisen zu wollen, für den Grund des Spinozischen Systems oder Unheils ansieht.

157) Die Stelle im »Tract. Theol.polit.«, c. 6, p. 237 (ed. Paulus): »cum Dei existentia non sit per se nota etc.«, widerspricht dem Gesagten nicht, wenn sie gehörig gefußt und in ihrem Zusammenhange erwogen wird.


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