§ 98. Das Ziel des Geistes
Die Erkenntnis der dritten Gattung oder die Erkenntnis Gottes ist aber nicht ohne Affekt; denn es gibt auch Affekte, die aus der Vernunft oder dem Denken selbst entspringen (»Eth.«, P. III, Pr. 58; P. IV, Pr. 61; P. V, Pr. 7), und wir können durch die Vernunft zu allen Handlungen bestimmt werden, zu denen wir durch Affekte, die Leidenschaften sind, bestimmt werden (P. IV, Pr. 59); aus dieser Erkenntnis entspringt vielmehr die höchste Wonne und Freude des Geistes, sie ist die Quelle der Liebe Gottes, die aber eine geistige Liebe, die Liebe der Erkenntnis ist. (P. V., Pr. 32, Cor.)
Gott liebt sich selbst mit einer unendlichen intellektuellen Liebe. Die intellektuelle Liebe des Geistes zu Gott ist die Liebe Gottes selbst, mit der er sich liebt, nicht wiefern er unendlich ist, sondern wiefern er durch (oder als) das unter der Form der Ewigkeit betrachtete Wesen des menschlichen Geistes definiert werden kann, d.h., die intellektuelle Liebe des Geistes zu Gott ist ein Teil der unendlichen Liebe, mit der Gott sich selbst liebt. Insofern, als Gott sich selbst liebt, liebt er die Menschen, und die Liebe Gottes zu den Menschen und die intellektuelle Liebe des Geistes zu Gott ist folglich eines und dasselbe. (Pr. 35, 36, Cor.)
Das Ziel des Geistes ist die Erkenntnis der Einheit, die er mit der ganzen Natur hat (»De Intell. Emend.«), sein höchstes Gut und seine höchste Tugend die Erkenntnis Gottes. Denn das Höchste, was der Geist erkennen kann, ist Gott, d.h. das absolut unendliche Wesen, ohne welches nichts sein noch gedacht werden kann, das höchste Gut des Geistes also die Erkenntnis Gottes. Nur insofern ist der Geist tätig, als er denkt oder erkennt, und nur insofern kann man unbedingt von ihm sagen, daß er aus Tugend handelt. Die absolute Tugend oder Kraft des Geistes ist daher die Erkenntnis. Aber das Höchste, was der Geist einlesen kann, ist Gott, also die höchste Tugend des Geistes, Gott zu erkennen; die Erkenntnis und Liebe Gottes ist daher als unser höchstes Gut das letzte Ziel des Geistes. (»Eth.«, P. IV, Pr. 28, u. »Tract. Theol. pol.«, c. 4, p. 208-209, ed. Paul.)
Die Seligkeit ist daher nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst; und wir erfreuen uns nicht an ihr, weil wir die Leidenschaften beherrschen, sondern im Gegenteil, weil wir an ihr uns erfreuen, deswegen können wir die Leidenschaften beherrschen. (»Eth.«, P. V, Pr. 42)
Das höchste Gut der Tugendhaften oder, was eins ist, der Vernünftigen ist allen Menschen gemein, und alle können sich auf die nämliche Weise an demselben erfreuen. Und es ist nicht zufällig, sondern es hat in dem Wesen der Vernunft selbst seinen Grund, daß das höchste Gut des Menschen ein allgemeines ist, weil es nämlich aus dem Wesen des Menschen selbst, insofern es allein in der Vernunft besteht, abgeleitet wird, und der Mensch gar nicht sein noch gedacht werden könnte, und er nicht das Vermögen hätte, dieses höchste Gut zu besitzen und zu genießen. Denn es gehört zum Wesen selbst des menschlichen Geistes, eine adäquate Erkenntnis von dem ewigen und unendlichen Wesen Gottes zu haben. (P. IV, Pr. 36 u. Schol.)