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Voltaire

(1694-1778)

„Alle Begebenheiten in dieser besten aller möglichen Welten stehen in notwendiges Verkettung mit einander, denn: wären Sie nicht wegen Fräulein Kunigundens schöner Augen mit derben Fußtritten aus dem schönsten aller Schlösser gejagt, wären Sie nicht von der Inquisition eingekerkert worden, hätten Sie nicht Amerika zu Fuße durchwandert, dem Freiherrn nicht einen tüchtigen Stoß mit dem Degen versetzt, nicht alle ihre Lama’s aus dem guten Lande Eldorado eingebüßt, so würden Sie hier jetzt nicht eingemachte Zitronenschale und Pistazien essen.“
„Gut gesagt,“ antwortete Kandid, „aber wir müssen unsern Garten bestellen.“

Voltaire, Kandid oder die beste Welt

Voltaire in Eislers Philosophen-Lexikon

Voltaire (François Marie Arouet; Voltaire ist ein Anagramm aus Voltaire le jeune), der berühmte französische Aufklärer, Streiter für die Gerechtigkeit, Gegner der Kirche („Ecrasez l’infâme“), geb. 1694 in Paris, gest. daselbst 1778, lebte eine Zeitlang (1726-29) in London, wo er von den Deisten (Tindal u.a.) und von der Newtonschen mechanistischen Naturauffassung beeinflußt wurde, die er in verschiedenen Schriften populär darstellte.

Voltaire ist kein systematischer Philosoph, sondern vor allem ein Vorkämpfer für eine freie Weltanschauung, welche Aberglauben, Wunderglauben, kurz allen Supranaturalismus ausschließt, ohne daß er aber Atheist ist („Si Dieu n’existait pas, il faudrait l’inventer; mais toute la nature nous crie qu’il existe“). So skeptisch sich Voltaire in vielen Dingen äußert, so wenig er an die Möglichkeit einer Metaphysik glaubt, in bezug auf den Gottesbegriff ist er ein überzeugter Deist, der sich des kosmologischen, teleologischen und moralischen Gottesbeweises bedient (Traité de métaphys., ch. 2). Den Leibnizschen Optimismus freilich (den er selbst früher teilte) persifliert er schonungslos, ohne aber Pessimist zu sein, da er an einen Fortschritt glaubt. In seinen philosophischen Anschauungen ist sich Voltaire nicht immer gleich geblieben, dazu war er viel zu viel Skeptiker. So läßt er denn die Annahme einer Seelensubstanz („toutes les vraisemblances sont contre elles“) und einer absoluten Willensfreiheit fallen und hält an der Annahme der Unsterblichkeit nur aus moralischen Gründen fest. Er nimmt den hypothetischen Gedanken Lockes (von dem er auch sonst beeinflußt ist) ernst, nämlich daß Gott der Materie die Fähigkeit des Empfindens ganz wohl habe verleihen können. Vermöge der ihm von Gott verliehenen Kraft („principe d’action“) ist der lebende Mensch selbst das denkende Wesen („l’être réel appelé homme comprend, imagine, se souvient, désire, veut, se meut;“ „il y a pourtant un principe d’action dans l’homme. Oui; et il y a partout;“ „nous sommes des machines produites … par l’éternel géomètre“).

Der Geist hat keine angeborenen Begriffe („qu’il n’y a point d’idées innées dans l’homme“), sondern schöpft alles aus der Erfahrung und aus seinem Wesen. Unsere Vorstellungen entspringen aus den Empfindungen; alle Erkenntnis entspringt aus der Fähigkeit der Verbindung und Ordnung („de composer et d’arranger“) unserer Vorstellungen („l’expérience, appuyée du raisonnement“). Die Freiheit des Menschen ist nicht Freiheit des Willens, sondern des Handelns („pouvoir d’agir“). Gott ist frei, sofern er alles denken und alles tun kann, was er will. Der Mensch hat die beschränkte Macht, nach der Vernunft und nach seinem Willen zu handeln, wobei die einen Menschen freier sind als die anderen. Der Wille ist durch die Ideen, die wir haben, insbesondere die Idee dessen, was uns gut erscheint, determiniert, wobei Wille und Verstand nur Abstraktionen sind. Mein Handeln ist frei, wenn es willensgemäß ist, mein Wollen aber ist notwendig („Quand je peux faire ce que je veux, voilà ma liberté; mais je veux nécessaire ce que je veux“, Philos. ignor. XIII, 70; „nous suivons irrésistiblement notre dernière idée;“ „tout ce qui se fait est absolument nécessaire“). Die Verantwortlichkeit bleibt deshalb doch bestehen.

Wie in der Natur eine universale Gesetzlichkeit besteht (Gravitation), so untersteht auch das menschliche Leben allgemeinen Bedingungen (Bedeutung des Milieu, Konstanz der menschlichen Natur verbunden mit Änderung ihrer Gewohnheiten). In der Geschichte (der Ausdruck „philosophie de l’histoire“ stammt von Voltaire) wechseln Fortschritt und Rückschritt miteinander ab. Zu berücksichtigen sind die Anschauungen und Sitten der Völker (der „esprit des nations“). Ohne Eigenliebe kann keine Gesellschaft entstehen und bestehen, da sie auf wechselseitigen Bedürfnissen beruht („c’est l’amour de nous-mêmes qui assiste l’amour des autres; c’est par nos besoins mutuels que nous sommes utiles au genre humain“). Die Menschen haben alle denselben Sittlichkeitskern („le même fond de morale“), eine grobe Vorstellung von Recht und Unrecht, die ihnen notwendig, Bedingung jeder Gesellschaft ist. Die Idee des Rechten ist etwas Natürliches, etwas durch Gefühl und Vernunft allgemein Erworbenes („L’idée de justice me paraît tellement une vérité du premier ordre, à laquelle tout l’univers donne son assentiment“). Allgemeingültig wie die Gravitation ist auch die Moral; die Natur bleibt sich stets gleich, wie Newton sagt, ihre Gesetze (die Gesetze des göttlichen Mathematikers) sind unveränderlich („lois invariables“).

Schriften (philos.): Lettres sur les Anglais, 1728; 1734. - Eléments de la philos. de Newton, 1741. - La métaphysique de Newton, 1740. - Réponse au système de la nature, 1772. - Candide, ou sur l’optimisme, 1757. - Essai sur les mœurs et l’esprit des nations, 1765. - Le philosophe ignorant, 1767 (Hauptschrift). - Traité de métaphysique (in: Oeuvres, 1829, Bd. 26). - Romans philos., 1787. - Dictionnaire philos., 1816. - Dict. philos. portative. Questions sur l’encyclopédie, 1774-75. - Recueil des lettres, 1775-78, u.a. - Oeuvres, 1768, 1773, 71 Bde., 1784-90; 91 Bde., 1785; 100 Bde., 1791-92; 1829 ff., 1846. - Vgl. E. BERSOT, La philos. de V., 1848. - D. FR. STRAUSS, V., 1870; 4. A. 1877 (auch bei Kröner). - J. MORLEY, V., 2. ed. 1873. - DU BOIS-REYMOND, Voltaire in seiner Beziehung zur Naturwissenschaft, 1868. - HAISE, V.s Philosophie, 1906. - ELLISSEN, Voltaire als Philosoph, 1904. G. BRANDES, Voltaire in s. Verhältnis zu Friedrich dem Großen und J. J. Rousseau, 1909. - P. SAKMANN, Voltaires Geistesart u. Gedankenwelt, 1910; Voltaire als Philosoph, Arch. f. Gesch. d. Philos., Bd. 18. - J. POPPER, Voltaire, 1905. - K. SCHIRMACHER, V.

(Aus: Rudolf Eisler (1876-1927): Philosophen-Lexikon. Leben, Werke und Lehren der Denker, 1912)