Der Komet im Cottage


... findet Mittwoch den 18. d. um 8 Uhr abends eine interessante Veranstaltung statt, die durch die Namen der Mitwirkenden und durch die Originalität der Zusammenstellung des Programms ungewöhnliches und berechtigtes Aufsehen erregen dürfte. Das Programm des Konzerts ist folgendes ... Nach dem Konzert wird auf der großen Terrasse angesichts des feenhaft beleuchteten Gartens das Souper serviert, während im Garten die Wiener Singakademie Volkslieder zum Vortrage bringt und aus der Ferne das Stiegler-Sextett der Hofoper die Waldhörner erklingen läßt. Vom anderen Ende des Gartens aus werden in den Zwischenpausen erstklassige Musikkapellen konzertieren. Während des Desserts und des schwarzen Kaffees werden auf der großen Wiese vor der Terrasse sowohl von Primaballerinen des Hofopernballettkorps unter der Leitung und Mitwirkung des Mimikers der k. k. Hofoper, Karl Godlewski, als auch von exotischen Tänzerinnen Pantomimen und Tänze in neuen Kostümen vorgeführt. Hernach verlöschen die Lichter des Gartens und auf dem neuangelegten Teile des Türkenschanzparkes, gerade gegenüber der Speiseterrasse, angesichts des Wienerwaldes, beschließt ein reichhaltiges Feuerwerk den zweiten Teil des Programms. Nunmehr begeben sich die Gäste wieder in den als Wirtsstube verwandelten Saal, und während sie sich bei Wursteln, Gulasch, Bier und Wein gütlich tun, spielen und singen die »Grinzinger« ihre gemütlichen Lieder, unterbrochen von anscheinend improvisierten Vorträgen von ..., denen sich andere bekannte Wiener Lieblinge anschließen. Kurz vor Mitternacht, zu welcher Zeit ja bekanntlich in dieser Nacht der Schweif des Halleyschen Kometen die Bahn der Erde berühren soll, hat man Gelegenheit, infolge der hohen und freien Lage des Gartens dieses Naturschauspiel wohl am besten zu beobachten. Für dieses Fest können infolge des beschränkten Raumes nur 260 Karten ausgegeben werden, die inklusive Konzert, Souper und Kabarett, dank dem Entgegenkommen der Künstler zum Preise von nur à 60 K berechnet werden konnten. (Überzahlungen werden dankend angenommen und separat quittiert.) Hundert Karten sind davon für die Patienten des Hauses ...

Was? Für die Patienten des Hauses? Ja, ist denn die ekelhafte Jahrmarktsreklame, die Kunst und Würstel und Gulasch und den Kometen verschlingt, nicht von einem Gastwirt ausgegangen? O doch, von dem Besitzer des Cottage-Sanatoriums, seit dessen Etablierung der Zusammenhang zwischen Medizin und Wirtsgeschäft auch von den gläubigsten Verehrern der Wissenschaft nicht mehr bestritten wird. Von dem Besitzer jenes Sanatoriums, das von den überzeugten Anhängern der Gastwirtegenossenschaft und den Freunden des Hoteliergremiums als ein Fleck auf der Standesehre empfunden wird. Denn sie finden die Verquickung der Probleme »Wo ißt und trinkt man gut?«, »Wo gibt's an guten Tropfen und a Hetz?« mit medizinischen Vorwänden unerträglich, und sie betrachten die Vermengung kultureller Werte wie »Speisen und Getränke erstklassig, Bäder im Hause, Lift«, »Täglich Doppelkonzert mit Gesang, Omnibusverkehr die ganze Nacht« mit einer Behandlung durch den Professor Noorden als eine maßlose Kompromittierung ihrer Bestrebungen. Wenn nicht die ›Fackel‹ jener Frechheit ein Ende gesetzt hätte, die eine Patientenliste allwöchentlich in der Neuen Freien Presse inserierte, die Ärztekammer hätte die Fremdlinge aus Baku und Tiflis, die sich vertrauensvoll in die Hände der Herren Noorden, Urbantschitsch usw. begaben, gegen so dreiste Verletzung der Schweigepflicht nicht geschützt. Und wenn jetzt nicht die Praterwirte gegen die Schmutzkonkurrenz aufstehen und wenn nicht der Wolf in Gersthof gegen den Urbantschitsch im Cottage vorgeht, so wird sich das abscheuliche Unding eines Kabarettsanatoriums noch öfter unseren Blicken aufdrängen. Der ganze Wiener Jourgestank von Humanität und Streberei, der uns so oft aus der Hauptallee entgegenweht, dieses ganze fesche Samaritertum, das zwischen Tuberkulose und Tombola seinen Namen in die Zeitung bringt und unter Umständen sogar bereit ist dafür zu sorgen, dass »die Kunst sich in den Dienst der Wohltätigkeit stellt«, dieses ganze Gekrieche zwischen Spitalsbajazzos und Spitzen der Gesellschaft — hier hat es einmal zu einer entscheidenden Probe ausgeholt auf die Langmut der Enterbten solchen Glückes. Denn es hatte den infamen Geschmack, die Überraschungen der Kometennacht in seinen Juxbasar einzubeziehen. Dass wohltätiger Unfug, der die Nachtruhe stört und noch die Leser der Morgenblätter belästigt, sich zu Gunsten einer Heilanstalt abspielt, davon hat man schon gehört. Aber dass er sich in einer Heilanstalt abspielt, dass vor den Fenstern der Patienten, an deren Nervenleiden und Verdauungsstörungen wir doch fast ebenso glauben sollen wie an ihren Reichtum, ein Feuerwerk abgebrannt wird und Heurigenmusik ertönt, und dass sich solcher Skandal in der einzigen Nacht seit fünfundsiebzig Jahren abspielt, in der auch den Gesunden ein Böllerschuß oder eine Rakete ängstigt, das ist eine Idee, die nur dem Hirn eines Buben oder eines wahnsinnig gewordenen Kommis entsprungen sein kann. Die Nacht, in der »bekanntlich der Schweif des Halleysehen Kometen die Bahn der Erde berühren soll«, ist Gottseidank so glimpflich verlaufen, wie eine Reklame für Praterwirte nur verlaufen kann, und leider war es trotz der hohen Preislage des Sanatoriums nicht möglich, »dieses Naturschauspiel zu beobachten«. Aber noch in der Umgebung des Sanatoriums fuhren die Leute aus den Betten, denen das Feuerwerk des Herrn Urbantschitsdi jene Vision des Weltuntergangs bot, welche ihnen auch ein pünktlicher Komet nicht geboten hätte, und es heißt, dass die Polizei um Mitternacht das reichhaltige Programm etwas abgekürzt hat. Man stelle sich nun die Situation der Leute vor, die im Sanatorium liegen und zwar in der Lage sind, nur 60 K für den Anblick des Weltuntergangs zu zahlen, aber nicht auch imstande sind, aufzustehen und das Feuerwerk des Herrn Urbantschitsch zu besichtigen. Jener Patienten, die zwar in der ausgesprochenen Absicht nach Wien kamen, ihren Namen in die Presse einrücken zu lassen und ihren Reklamewert teuer zu bezahlen, aber doch vielleicht auch um Erholung zu suchen. Wahrscheinlich hat der grinsende Verstand graduierter Händler gehofft, dass die Herzleidenden genügend aufgeklärt sein würden, um einen harmlosen Böllerschuß nicht für das Signal des Weltuntergangs zu halten. Oder er hat gehofft, dass ein Schrecken in dieser Nacht der Suggestionen genügend wirksam sein werde, um in einem geschwächten Organismus Zucker zu erzeugen und so das Eingreifen des Herrn Professors Noorden notwendig zu machen. So dass in dieser Nacht der Enttäuschungen, in der die Sterngucker das Nachsehen hatten, doch wenigstens einer auf seine Kosten gekommen wäre. Nun scheint aber der Wirt die Rechnung ohne den Gast gemacht zu haben. Denn wenn es schon nicht das Ende der Welt war, so war es doch das Ende ihrer Geduld, und es wird mir gemeldet, dass es in der katastrophalen Nacht, als der Schweif des Kometen Urbantschitsch die Erde berührte, als die erste Rakete in der Richtung nach Noorden stieg, im Sanatorium Herzkrämpfe gab und dass ein Patient in diesem Augenblick noch die Geistesgegenwart hatte, an einen Schadenersatzprozeß gegen die Leiter der Anstalt zu denken. Nun besteht ja allerdings die Wahrscheinlichkeit, dass diese mit Erfolg einwenden werden, Kläger sei schon mit einer geschwächten Gesundheit in das Sanatorium gekommen, sei in der Kometennacht, in der viele Menschen zitterten (Beweis durch Zeugeneinvernahme), besonders ängstlich gewesen, und keinesfalls könne ein harmloses reichhaltiges Feuerwerk ein so schweres Herzleiden verschuldet haben. Aber es wäre doch außerordentlich wichtig, dass es zu diesem Prozeß kommt. Denn es ist unerläßlich, dass die fortschrittliche Welt erfahre, wie sicher sie der Wissenschaft sein kann, wenn ihr der Kometenaberglaube zusetzt, der astronomischen und vor allem der medizinischen. Es ist unerläßlich, dass sie erfahre, es seien Ärzte gewesen, die mit Bravo Stuwer!, Grinzingern, Würsteln, Gulasch, einem Waldhorn-Sextett und dem Kometenschweif ihren heizleidenden Pflegebefohlenen in banger Nacht zuhilfe geeilt sind, kurzum mit einem Programm, das durch die Originalität der Zusammenstellung ungewöhnliches und berechtigtes Aufsehen erregte; und es seien Polizisten gewesen, die sich ins Mittel legten und wenigstens die Himmelserscheinungen inhibierten, mit denen diese gefinkelte Medizin der Astronomie zuvorkommen wollte. Es ist unerläßlich, dass diese Rakete der Wiener Wohltätigkeit, wie anno Festzug und in jedem Wiener Fall, im Handelsgericht krepiere, wenn ihr schon das Strafgericht entrückt bleibt. Ärzte sind es gewesen. Die Welt will sich die Namen dieser Ärzte aufschreiben, die Welt will Ärztekammer spielen, und sie wird erst dann ruhig untergehen, wenn sie vorher einen partiellen Weltuntergang erlebt hat, einen, der sich auf ein Sanatorium erstreckt, in welchem die Diskretion des Arztes ein Heurigenexzeß und die Gesundheit des Patienten ein Juxgegenstand ist.

 

 

Mai, 1910.


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