Der Arzt als Erzieher


(1904)

 

Das Problem der Erziehung, wie es die Eltern und Lehrer auf ihrem Wege vorfinden, wird leicht unterschätzt. Man sollte meinen, daß die Jahrtausende menschlicher Kultur die strittigen Fragen längst gelöst haben müßten, daß eigentlich jeder, der lange Jahre Objekt der Erziehung gewesen ist, das Erlernte auch an andere weitergeben und in klarer Erkenntnis der vorhandenen Kräfte und Ziele fruchtbar wirken könnte. Welch ein Trugschluß wäre das! Denn nirgendwo fällt uns so deutlich in die Augen, wie durchaus subjektiv unsere Anschauungsweise und wie unser Denken und Trachten, unsere ganze Lebensführung vom innersten Willen beseelt ist. Ein nahezu unüberwindlicher Drang leitet den Erzieher Schritt für Schritt, das Kind auf die eigene Bahn herüber zu ziehen, es dem Erzieher gleichzumachen, unterzuordnen, und das nicht nur im Handeln, sondern auch in der Anschauungsweise und im Temperament. Nach einem Muster oder zu einem Muster das Kind zu erziehen, war vielfach und ist auch heute noch oft der oberste Leitstern der Eltern. Mit Unrecht natürlich! Aber diesem Zwang erliegen alle, die sich des Zwangs nicht bewußt werden.

Ein flüchtiger Blick belehrt uns über die überraschende Mannigfaltigkeit persönlicher Anlagen. Kein Kind ist dem andern gleich, und bei jedem sind die Spuren seiner Anlage bis ins höchste Alter zu verfolgen. Ja, alles was wir an einem Menschen erblicken, bewundern oder hassen, ist nichts anderes als die Summe seiner Anlagen und die Art, wie er sie der Außenwelt gegenüber geltend macht. Bei einer derartigen Auffassung der Verhältnisse ist es klar, daß von einer völligen Vernichtung ursprünglicher Anlagen, ob sie nun dem Erzieher passen oder nicht, keine Rede sein kann. Was der Erziehungskunst möglich ist, läßt sich dahin zusammenfassen, daß wir imstande sind, eine Anlage zu fördern oder ihre Entwicklung zu hemmen, oder — und dies ist leichter praktikabel — eine Anlage auf kulturelle Ziele hinzulenken, die ohne Erziehung oder bei falschen Methoden nicht erreicht werden können.1)

Daraus geht aber auch hervor, daß die Rolle des Erziehers keineswegs für jeden paßt. Anlage und Entwicklung sind auch für ihn und seine Bedeutung ausschlaggebend. Er muß ausgezeichnet sein durch die Fähigkeit ruhiger Erwägung, ein Kenner der Höhen und Tiefen der Menschenseele, muß er mit einem Späherauge seine eigenen wie die fremden Anlagen und ihr Wachstum erfassen. Er muß die Kraft besitzen, unter Hintansetzung seiner eigenen persönlichen Neigungen sich in die Persönlichkeit des andern zu vertiefen und aus dem Schachte einer fremden Seele herauszuholen, was dort etwa geringes Wachstum zeigt. Findet sich solch eine Individualität einmal, unter Tausenden einmal, mit dieser ursprünglichen Finderfähigkeit ausgestattet: das ist ein Erzieher.

Nicht viel anders wird unser Urteil lauten, wenn wir über jene Anlagen und Fähigkeiten zu Gericht sitzen, die den guten Arzt ausmachen. Auch ihn muß die Eigenschaft ruhiger Überlegenheit auszeichnen. Die menschliche Seele sei ihm ein vertrautes Instrument, und wie der Erzieher muß er es vermeiden, an der Oberfläche der Erscheinungen seine Kraft zu erschöpfen. Mit immer wachem Interesse schafft er an den Wurzeln und Triebkräften jeder anomalen Gestaltung und versteht es, einzudringen in die Bahn, die vom Symptom zum Krankheitsherd führt. Frei von übermächtigen Selbsttäuschungen, denn er muß sein Wesen kennen und meistern wie der Erzieher, soll er in fruchtbarer Logik und Intuition die heilenden Kräfte im Kranken erschließen, wecken und fördern.

Die erzieherische Kraft der Ärzte und der medizinischen Wissenschaft ist eine ungeheure. Auf allen Gebieten der Prophylaxe gräbt sie unvergängliche Spuren und bewegt die Besten des Volkes zur tätigen Mitarbeit. Wir stellen die vordersten Reihen im Kampf gegen den Alkoholismus und gegen Infektionskrankheiten. Von den Ärzten ging der Notschrei aus gegen die Erdrückung der Volkskraft durch die Geschlechtskrankheiten. Der Ansturm der Tuberkulose findet einzig nur Widerstand an den stetigen Belehrungen und Ermahnungen der Ärzte, solange nicht materielle Hilfe naht. Das gräßliche Säuglingssterben, durch Jahrzehnte geheiligter Mord und Barbarei, ist durch die leuchtenden Strahlen der Wissenschaft erhellt und in das Zentrum des Kampfes gerückt. Schon harrt die Schulhygiene auf den Beginn ihrer fruchtbaren Tätigkeit und entwindet sich den ehernen Klammern engherziger Verwaltungen. Eine Fülle uneigennütziger, wertvoller Ratschläge und Lehren strömt Tag für Tag in die Volksseele über, und wenn nicht viele Früchte reifen, so deshalb, weil Aufklärungsdienst und materielle Wohlfahrt des Volkes nicht in den Händen der Ärzte liegen.

In der Frage der körperlichen Erziehung des Kindes ist die oberste Instanz des Arztes unanfechtbar. Das Ausmaß und die Art der Ernährung, Einteilung von Arbeit, Erholung und Spiel, Übung und Ausbildung der Körperkraft soll immer vom Arzt, muß von ihm im Falle der Not geregelt werden. Die Überwachung der körperlichen Entwicklung des Kindes, die sofortige Behebung auftauchender Übelstände ist eine der wichtigsten Berufspflichten des Arztes. Nicht erkrankte Kinder zu behandeln und zu heilen, sondern gesunde vor der Krankheit zu schützen ist die konsequente, erhabene Forderung der medizinischen Wissenschaft.

Von der körperlichen Erziehung ist die geistige nicht zu trennen. In der letzteren mitzureden ist dem Arzte nicht allzu häufig Gelegenheit geboten, obgleich gerade er aus dem reichen Born seiner Erfahrung kraft seiner Objektivität und Gründlichkeit wertvolle Schätze schöpft. Preyers Buch über »Die Seele des Kindes« fördert eine Unzahl fundamentaler Tatsachen zutage, die jedem Erzieher bekannt sein sollten. Es ist lange nicht erschöpfend, aber es bietet Material zur Beurteilung und Sichtung der eigenen Erfahrungen. Das gleiche gilt von dem Buche Karl Gross' »Über das Seelenleben des Kindes«, das ungleich mehr das Interesse des Psychologen erweckt. Die allgemeine Volkserziehung zu beeinflussen, streben beide Bücher nicht an, können sie aus mehrfachen Gründen nicht erreichen. Vielleicht war erst der wuchtige Akzent nötig, mit dem Freud 2) das Kinderleben bedenkt, und die Aufzeigung der tragischen Konflikte, die aus Anomalien der kindlichen Erlebnisse fließen, um uns die hohe Bedeutung einer Erziehungslehre klar zu machen.

Bei der vollständigen Anarchie, in der im allgemeinen die kindliche Seele im Elternhaus heranwächst, können wir es begreiflich finden, daß manche wertvolle Persönlichkeit den Mangel einer jeden Erziehung höher schätzt als eine jede der heute möglichen Erziehungsformen. Dennoch gibt es eine Anzahl von Schwierigkeiten, die ohne Einsicht in das Wesen der Kinderseele nicht überwunden werden können. Einige dieser immer wieder auftauchenden Fragen wollen wir im folgenden besprechen, da es uns dünkt, daß vorwiegend die Ärzte dabei berufen sind, das Wort zu ergreifen.

Bekanntlich soll die Erziehung des Kindes bereits im Mutterleib beginnen. Dem Arzte obliegt die Pflicht, die Aufmerksamkeit der Eheschließenden darauf zu lenken, daß nur gesunde Menschen zur Fortpflanzung geschaffen sind. Seine Aufgabe ist es, bei vorliegendem Alkoholismus, bei Geschlechtskrankheiten, Psychosen, Epilepsie, Tuberkulose usw. auf die Gefahren einer Ehe, auf die schädlichen Folgen für die Nachkommenschaft hinzuweisen. Die körperliche und seelische Pflege der Schwangeren ist nicht zu vernachlässigen, der Hinweis auf die Wichtigkeit des Selbststillens darf nicht unterlassen werden.

Von größter Wichtigkeit für die Erziehung des Säuglings sind Pünktlichkeit und Reinlichkeit. Nichts leichter als durch ständiges Nachgeben in der Nahrungsbefriedigung einen eigensinnigen Schreihals heranzuziehen, der es später nicht ertragen wird, auf die Befriedigung seiner Wünsche zu warten, ohne in die heftigste Erregung zu geraten. Nun gar die Erziehung zur Reinlichkeit muß uns als einer der mächtigsten Hebel zur Kultur dienen, und ein Kind, das seinen Körper rein zu halten gewöhnt ist, wird sich späterhin in schmutzigen Dingen nicht leicht wohl fühlen.

Die Vernachlässigung der körperlichen Erziehung, wie sie in unserer Zeit gang und gäbe ist, übt stets einen schädlichen Rückschlag auf körperliche und geistige Gesundheit aus. Hier gibt es Zusammenhänge, die nicht übersehen werden dürfen. Gute körperliche Entwicklung geht meist mit gesunder geistiger Entwicklung Hand in Hand. Schwächliche und kränkliche Kinder verlieren leicht die beste Stütze ihres geisten Fortschritts: das Vertrauen in die eigene Kraft. Ähnliches findet man bei verzärtelten und allzu ängstlich behüteten Kindern. Sie weichen jeder körperlichen und geistigen Anstrengung aus, flüchten sich gerne in eine Krankheitssimulation oder übertreiben ihre Beschwerden in unerträglicher Weise. Deshalb können körperliche Übungen, Turnen, Springen, Schwimmen, Spiele im Freien bei der Erziehung nicht entbehrt werden. Sie verleihen dem Kinde Selbstvertrauen, und auch späterhin sind es wieder solche Äußerungen persönlichen Muts und persönlicher Kraft, die — aus überschüssigen Kraftquellen gespeist — das Kind vor Entartungen behüten.

Hat man es mit Schwachsinnigen, Kretinen, Taubstummen oder Blinden zu tun, so wird es Aufgabe des Arztes sein, die Größe des Defekts sicherzustellen, die Chancen einer Heilung oder Besserung zu erwägen und eine entsprechende, zumeist individualisierende Behandlung und Erziehung zu empfehlen. Das wichtigste Hilfsmittel der Erziehung ist die Liebe. Eine Erziehung kann nur unter Assistenz der Liebe und Zuneigung des Kindes geleistet werden. Wir beobachten immer wieder, wie das Kind stets auf die von ihm geliebte Person achtet und wie es deren Bewegungen, Mienen, Gebärden und Worte nachahmt. Diese Liebe darf nicht gering geschätzt werden, denn sie ist das sicherste Unterpfand der Erziehungsmöglichkeit. Diese Liebe soll sich nahezu gleichmäßig auf Vater und Mutter erstrecken, und es muß alles vermieden werden, was den einen Teil davon ausschließen könnte. Streitigkeiten unter den Eltern, Kritik der getroffenen Maßnahmen sollen vor dem Kinde geheim gehalten werden. Bevorzugung eines der Kinder muß hintangehalten werden, denn sie würde sofort die erbitterte Eifersucht des andern hervorrufen. Es ist ohnehin nicht leicht, die eifersüchtigen Regungen des älteren Kindes gegenüber dem neuangekommenen, die sich in mannigfachster Weise äußern, einzudämmen. — Andererseits darf kein Übermaß von Liebe, keine Überschwänglichkeit gezüchtet werden. So angenehm es auch die Eltern berührt, ein derartiger Überschwang hemmt leicht die Entwicklung des Kindes. Besonnenheit den Liebkosungen des Kindes gegenüber, Hinlenken auf ethisch wertvolle Bestrebungen, auf Arbeit, Fleiß, Aufmerksamkeit kann in solchen Fällen die richtige Mittellinie garantieren.

Wer die Erziehung seines Kindes fremden Personen: Ammen, Hauslehrern, Gouvernanten, Pensionaten überläßt, muß sich der großen Gefahren bewußt bleiben, die mit einer solchen Überantwortung verbunden sind. Selbst wo von ansteckenden Krankheiten oder offenkundigen Lastern abgesehen werden kann, muß man doch die Fähigkeit einer Gouvernante, die väterliche oder mütterliche Erziehung zu ersetzen, in Frage ziehen. Verschüchtert, verbittert, ihr Leben lang gedemütigt, sind diese bedauernswerten Geschöpfe manchmal kaum in der Lage, die geistige Entwicklung eines Kindes zu leiten.

Seit die Prügel aus der Justiz verschwunden sind, muß es als Barbarei angesehen werden, Kinder zu schlagen. Wer da glaubt, nicht ohne Schläge in der Erziehung auskommen zu können, gesteht seine Unfähigkeit ein und sollte lieber die Hand von den Kindern lassen. Abschließung an einem einsamen Ort halten wir für ebenso barbarisch wie Schläge, und wir können uns des Verdachts nicht erwehren, daß diese Strafe dem Charakter ebenso verhängnisvoll werden kann wie die erste Gefängnishaft dem jugendlichen Verbrecher. Aber auch leichtere Strafen können das Kind leicht zur Wiederholung verleiten und schädigen das Ehrgefühl. Schimpfworte oder beharrlicher, harter Tadel verschlechtern die Chancen der Erziehung. Es geht damit wie mit allzu weit getriebenen erzieherischen Eingriffen: wer als Kind daran gewöhnt wurde, der wird sie auch später leicht hinnehmen. An Lob und Belohnung dagegen verträgt.das Kind erstaunlich viel, doch kann auch hier ein schädliches Übermaß geleistet werden, sobald das Kind in dem Glauben heranwächst, daß jede seiner Handlungen lobenswert sei und die Belohnung sofort nach sich ziehe. Die Erziehung des Kindes muß von weitblickenden Erziehern geleitet werden, nicht für den nächsten Tag, sondern für die ferne Zukunft. Vor allem aber sei dafür Sorge getragen, daß das Kind mit dem deutlichen Bewußtsein heranwachse, in seinen Eltern stets gerecht abwägende Beurteiler, aber zugleich auch immer liebevolle Beschützer zu finden.

Unter den Untugenden der Kinder, die gemeiniglich unter Strafe stehen, stechen der kindliche Eigensinn und das Lügen besonders hervor. Eigensinn in früher Kindheit ist mit freundlicher Ermahnung ganz sachte einzudämmen. Er bedeutet in den ersten Jahren nichts weiter als einen Drang zur Selbständigkeit, also eigentlich ein erfreuliches Symptom, das nur unter beständiger Lobhudelung ausarten könnte. Bei großen Kindern dagegen und Erwachsenen ist der konstant auftretende Eigensinn nahezu ein Entwicklungsdefekt und läßt eigentlich nur eine einzige Art der Bekämpfung zu: Vorhersagen einer möglichen Schädigung und ruhiger Hinweis auf den Eintritt derselben. Dabei müssen alle Andeutungen auf ein überirdisches Eingreifen wie »Strafe Gottes« usw. entfallen, da sie dem Kinde den Zusammenhang von Ursache und Wirkung verhüllen. Von dieser Seite her ist selbst bei Eigensinnigen die Entwicklung ihrer Selbständigkeit bedroht. Neben den »Jasagern« gibt es nahezu ebenso viele ewige »Neinsager«, die sich in ihrer Gesinnungs- und Charakterschwäche ewig gleich bleiben.

Bezüglich der Lügen bei Kindern herrscht die größtmögliche Verwirrung. Da unser ganzes Leben von Lügen durchseucht ist, darf es uns nicht wundern, auch in der Kinderstube die Lüge wieder zu finden. In der Tat lügen die ganz Kleinen in der harmlosesten Weise. Anfangs ist es ein Spiel mit Worten, dem jede böse Absicht mangelt. Späterhin kommen Phantasielügen an die Reihe. Sie sind gleichfalls nicht tragisch zu nehmen, sind oft genährt durch ein Übermaß phantastischer Erzählungen und Lektüre und sind Folgen einer stärker hervortretenden Großmannssucht oder Herrschsucht. Hinweis auf die Wirklichkeit, Ersatz der Phantasiereize durch realeres Material, Naturgeschichte, Reisebeschreibungen und körperliche Tätigkeit wie Hinweis auf die Plusmacherei genügen, um diesen Lügen ein Ende zu machen. In den weiteren Jahren sind die Motive meist deutlich. Lügner aus Eitelkeit, Selbstsucht und Furcht sind die hauptsächlichsten Vertreter. Lassen sich diese Motive wirkungsvoll bekämpfen, so fällt auch das Lügen fort. Besonders deutlich wird das Verschulden der Erziehung bei Angst- oder Verlegenheitslügen. Denn unter keinen Umständen sollte das Kind vor seinem Erzieher Furcht empfinden. Man hüte sich davor, das Kind an Geheimnissen, Lügen oder Verstellungen vor anderen Personen teilnehmen zu lassen. Man hüte sich besonders vor Redensarten, wie: »Warte, ich werd's dem Vater sagen!« um das Kind zur Abbitte zu bewegen. Denn man zieht damit den Hang zum Verschweigen und Lügen groß. Auch die Beichte kann bei unvorsichtiger Haltung der Eltern der Erziehung zur Wahrhaftigkeit abträglich werden, da sie dem Hang zur Heimlichtuerei gegen die natürlichen Erzieher eine Stütze bietet. Gegen das Aufkommen eingewurzelter Lügenhaftigkeit bietet das gute Beispiel der Umgebung wie für das gesamte Erziehungsresultat eine sichere Gewähr. Jede Art von Konfrontation dagegen und Inquisitionsverfahren wirken schädlich. Das gleiche gilt vom Zwang zur Abbitte, die, wenn überhaupt, so nur als freiwillige entgegengenommen werden darf. Ein höchst verläßliches Schutzmittel gegen Lügenhaftigkeit bildet die Entwicklung eines mutigen Charakters, der die Lüge als unerträgliche Beeinträchtigung verwirft.

Gehorsamkeit beim Kinde darf nicht erzwungen werden, sondern muß sich als selbständiger Effekt der Erziehung ergeben. Die Freiheit der Entschließung muß dem Kinde möglichst gewahrt werden. Nichts ist unrichtiger als das fortwährende Ermahnen, wie es leider so weit verbreitet ist. Da es aber unerläßlich ist, in manchen Fällen Folgsamkeit zu erlangen, so stütze man sie auf das Verständnis des Kindes. Deshalb muß jeder unverständliche Befehl, jedes ungerecht scheinende Verlangen vermieden werden, denn sie erschüttern das Zutrauen zu den Eltern. Ebenso sind unnütze, unausführbare und häufige Androhungen zu unterlassen. Ungerechtigkeiten, dem Kinde gegenüber von Geschwistern oder Kameraden verübt, erweisen sich oft als nützlich, wenn man an ihnen den Wert der Gerechtigkeit für alle aufweist.

Überhaupt obliegt dem Erzieher die wichtige Rolle, das orientierende Bewußtsein dem Kinde gegenüber zu vertreten. Er hat die Aufgabe, das Kind darauf zu leiten, wie die Kräfte und Äußerungen seines Seelenlebens zusammenhängen, um zu verhüten, daß das Kind irregeht oder von anderen mißleitet werde. Ein allzu häufiger Typus ist der des verängstigten, überaus schüchternen, überempfindlichen Kindes. Weder zur Arbeit noch zum Spiel taugt es. Jeder laute Ton schreckt diese »Zerstreuten« aus ihren Träumen, und sieht man ihnen ins Gesicht, so wenden sie die Augen ab. Ihre Verlegenheit in der Gesellschaft, in der Schule, dem Arzte gegenüber (Ärztefurcht!) schlägt sie immer wieder zurück und läßt sie in die Einsamkeit flüchten. Die ernstesten Ermahnungen verhallen spurlos, die Schüchternheit bleibt, verstärkt sich und macht die Kinder zu dieser Zeit nahezu entwicklungsunfähig. Nun gibt es aber gar kein kulturwidrigeres Element als solche Zurückgezogenheit oder Feigheit, die noch obendrein den Eindruck erweckt, als stünde sie unter dem Zeichen des Zwanges. Ich getraue mich zur Not, aus dem grausamsten Knaben einen tauglichen Fleischhauer, Jäger, Insektensammler oder — Chirurgen zu machen. Der Feige wird immer kulturell minderwertig bleiben. Gelingt es bei solchen Kindern, die Wurzel ihrer Schüchternheit aufzudecken, so retten wir das Kind vor dem Verfall, vor einem Versinken in Frömmelei und Pietismus. Man findet dann in der Regel, daß dieses Kind eine Zeit der bittersten Minderwertigkeitsgefühle hinter sich hat. In seiner Unkenntnis der Welt und durch unverständige Erziehung gepeinigt, erwartet es beständig eine Entlarvung seiner Unfähigkeit.

Als Ursache findet man Organminderwertigkeiten, die oft schon einen Ausgleich gefunden haben, oder in den Folgen als gleichwertig eine strenge oder verzärtelnde Erziehung; durch sie wird die Seele des Kindes verleitet, die Schwierigkeiten des Lebens schreckhaft zu empfinden, den Mitmenschen als Gegner anzusehen und zuerst an sich zu denken.

An dieser Stelle können wir einige wichtige Bemerkungen nicht unterdrücken. Erstens: Unter gar keinen Umständen, auch bei sexuellen Vergehungen nicht, ist es gestattet, dem Kinde Schrecken einzujagen. Denn man erreicht damit sein Ziel niemals, nimmt dem Kinde das Selbstvertrauen und stürzt es in ungeheure Verwirrung. Solche Kinder, denen man Schreckbilder vor die Seele bringt, flüchten regelmäßig vor den Lebenssorgen und werden denselben Weg zur Flucht auch im reiferen Alter finden, wenn ihnen von irgendeiner Seite Ungemach droht. Zweitens: Das Selbstvertrauen des Kindes, sein persönlicher Mut ist sein größtes Glück. Mutige Kinder werden auch späterhin ihr Schicksal nicht von außen erwarten, sondern von ihrer eigenen Kraft. Und drittens: den natürlichen Drang des Kindes nach Erkenntnis soll man nicht unterbinden. Bei den meisten Kindern kommt eine Zeit, wo sie unaufhörlich Fragen stellen. Man darf dies nie bloß als Quälerei empfinden; denn durch dieses Fragen verrät das Kind, daß es nunmehr in seiner eigenen Existenz viele Rätsel gefunden hat, und die ganze Fragerei steht eigentlich nur an Stelle der einen Frage: Wo bin ich hergekommen und wohin gehe ich? Man beantworte so viel man kann, zeige dem Kinde das Unsinnige und Lächerliche vieler seiner Fragen, und kommt es dann endlich doch einmal zu der .einen großen Frage seiner Entstehung, so beantworte man diese nach der Entwicklung des Kindes, nehme die Vorgänge bei Pflanzen oder niedrigeren Tieren behufs Erläuterung vor, und man wird dadurch den Keim zum Verständnis des kosmischen Zusammenhangs, der Einheit des organischen Lebens gelegt haben.

Dagegen muß die Erweckung sexueller Frühreife strengstens hintangehalten werden. Wir wissen heute so viel, daß die Sexualität in frühester Kindheit bereits vorhanden ist. Sie kann durch unvorsichtige oder böswillige Behandlung, Unreinlichkeit, krankhafte Veränderung, durch Gewährenlassen von Unarten, Spielen, ferner durch gewisse, weitverbreitete Kinderspiele leicht gesteigert werden. — Das Kind beobachtet gerne und mit Neugierde. Das Schlafzimmer der Eltern sollte stets vom Kinderzimmer abgesondert sein. Der Koedukation können wir das Wort reden, warnen aber vor Sorglosigkeit und Überraschungen. Die Kenntnisnahme ehelicher Vorgänge wirkt auf die kindliche Seele besonders verheerend ein. Eifersüchtige Regungen gegen den Vater oder die Mutter müssen frühzeitig bemerkt und korrigiert werden.

In den sogenannten Flegeljahren, zur Zeit der Pubertät, tritt meist ein eigentümlicher Zerfall der Kinder mit ihren Eltern, ja mit ihrer ganzen Umgebung ein. Spott- und Zweifelsucht werden rege, eine negative, jeder Autorität abholde Stimmung ergreift besonders die Knaben. Es ist kaum ein Zweifel berechtigt, daß diese Erscheinung mit dem vollen Erfassen des sexuellen Problems, mit dem gänzlichen Erwachen des Sexualtriebes, mit der Verselbständigung und Mannbarkeit zusammenhängt, die häufig über das notwendige Ziel hinausschießen. In dieser Zeit wird nur der Erzieher bestehen können, der mit vollem Recht das Vertrauen des Kindes besitzt. Dies ist auch die Zeit, wo die sexuelle Aufklärung, am besten durch Vater, Mutter, älteren Freund oder Arzt, in wohlwollender Weise zu erfolgen hat. Eine wichtige Aufgabe erwächst sodann dem zum Berater gewordenen Erzieher des Kindes, diese Zeit des Zweifels, des Widerstands gegen unbefugte Autorität auszunützen und dieses negierende Gefühl mit lauterem Inhalt zu füllen.

Das Kind muß für die Gemeinschaft erzogen werden. Familie und Schule richten sich automatisch, wenn auch oft unter Widerstand nach diesen Forderungen. Jede Abweichung von dieser Linie bedroht das Kind später mit Schwierigkeiten der Anpassung in Beruf, Liebe und Gesellschaft. Als Lehrer und Erzieher taugen deshalb nur Personen, die selbst ein entwickeltes Gemeinschaftsgefühl besitzen — Querköpfe, Individualitäten, Egoisten, Fatalisten, besonders wenn sie an unausrottbare Vererbung glauben, stiften nur Schaden. Ebenso einseitige Theoretiker, wenn sie nach ihren Schablonen, nicht nach den realen Bedürfnissen einer tauglichen Gesellschaft erziehen wollen.

 

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1) [In der ersten Auflage (1914) folgte hier die Bemerkung: »Letzteren Vorgang nennt Freud, dem wir mandie Aufklärung über die ungeheuere Rolle infantiler Eindrücke, Erlebnisse und Entwicklungen beim Normalen und Neurotiker verdanken, die Sublimierung. Er ist unerläßlich für die Entstehung und Entfaltung der Kultur.«]

2) S. Freud, Traumdeutung. 7. Aufl. Wien 1922.


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