"Sittlichkeit und Kriminalität"
In diesen Tagen erscheint der erste Band der Ausgewählten Schriften von Karl Kraus: "Sittlichkeit und Kriminalität", im Verlag der Buchhandlung L. Rosner, Wien und Leipzig, und in rascher Folge wird sich der zweite Band (in zwei Teilen): "Kultur und Presse" anschließen.
Dieses Sammelwerk, das in den folgenden Jahren seine Fortsetzung finden wird, bedeutet nicht etwa eine mechanische Aneinanderreihung in der 'Fackel' erschienener Aufsätze des Autors, sondern stellt sich als eine Leistung dar, die in der vollständigen Umarbeitung fast jeder Zeile, in der Konservierung und Gruppierung all dessen, was aus der Umklammerung des Tagesinteresses als bleibender Wert gerettet werden konnte, einer völlig neuen Arbeit gleichkommt. Auf sie hat der Autor und Herausgeber — für jeden, der ihm etwas der Art zuerkennt — nicht weniger Kraft und Kunst verwendet, als wenn er die tausend Seiten, die sie vorläufig umfassen wird, aus neuen Anregungen neu zu schaffen gehabt hätte. Erst in dieser Form wird die Leistung, die in neun Jahrgängen der 'Fackel' geborgen und unter dem Schweigen der Maßgebenden und dem schmerzlicheren Zuspruch eines grob gegenständlichen Interesses begraben war, zu neuem Leben und zu ihrer eigentlichen Würdigung gelangen. Diese Ausgabe ist für jeden bestimmt, der sich einen Freund der 'Fackel' nennt und nach ihren Heften nicht in jener stofflichen Spannung gegriffen hat, auf die der Herausgeber nicht nur verzichtet, sondern um deren willen er auch auf einen Leser verzichtet.
Zur Bestellung dieser Gesamtausgabe wird aufgefordert, wer so viel innere Teilnahme für die Ziele der 'Fackel' hat und so viel literarisches Verständnis für ihre Mittel, dass er das Werk in jener letzten Fassung nicht missen möchte, von der der Autor glaubt, dass sie sein Wollen und Können erst vorstelle. Sie bedeutet den Rahmen, in dem das satirische Zeitbild ethischer und vor allem geistiger Korruption den Kenner der 'Fackel' erst ansprechen, und den andern auch ohne die geringste Voraussetzung stofflichen Miterlebens fesseln wird.
Nr. 244, IX. Jahr
17. Februar 1908.