Einleitung
I. Einschränkungen der Fragestellung
Die vorliegende Arbeit ist als Beitrag zu einer problemgeschichtlichen Untersuchung gedacht, die den Begriff der Kunstkritik in seinen Wandlungen darzustellen hätte. Unleugbar ist eine solche Untersuchung der Geschichte des Begriffs der Kunstkritik etwas ganz anderes als eine Geschichte der Kunstkritik selbst; sie ist eine philosophische, genauer gesagt eine problemgeschichtliche1 Aufgabe. Zu deren Lösung kann das Kommende nur ein Beitrag sein, weil es nicht den problemgeschichtlichen Zusammenhang, sondern nur ein Moment aus demselben, den romantischen2 Begriff der Kunstkritik, darstellt. Den größeren problemgeschichtlichen Zusammenhang, in dem dieses Moment steht und in dem es eine hervorragende Stelle einnimmt, wird diese Arbeit erst am Schluß zu einem Teil anzudeuten suchen.
Eine Begriffsbestimmung der Kunstkritik wird man sich ohne erkenntnistheoretische Voraussetzungen ebenso wenig wie ohne ästhetische denken können; nicht nur weil die letzten die ersten implizieren, sondern vor allem weil die Kritik ein erkennendes Moment enthält, mag man sie übrigens für reine oder mit Wertungen verbundene Erkenntnis halten. So ist denn auch die romantische Begriffsbestimmung der Kunstkritik durchaus auf erkenntnistheoretischen Voraussetzungen aufgebaut, womit selbstverständlich nicht gemeint sein kann, die Romantiker hätten den Begriff bewußt aus ihnen gewonnen. Der Begriff als solcher aber besteht, wie letzten Endes jeder Begriff, der mit Grund so bezeichnet wird, auf erkenntnistheoretischen Voraussetzungen. Sie werden daher im folgenden zuerst darzustellen und niemals aus den Augen zu verlieren sein. Zugleich richtet sich die Arbeit auf sie als auf systematisch faßbare Momente im romantischen Denken, welche sie in höherem Maß und höherer Bedeutung aufweisen möchte, als man sie in ihm gemeinhin vermutet.
Es ist kaum nötig, das folgende als eine problemgeschichtliche und als solche gewiß systematisch orientierte Untersuchung gegen eine rein systematische über den Begriff der Kunstkritik schlechthin abzugrenzen. Nötiger dagegen mögen zwei andere Grenzbestimmungen sein: der philosophiegeschichtlichen und der geschichtsphilosophischen Fragestellung gegenüber. Nur im uneigentlichsten Sinne dürfte man problemgeschichtliche Untersuchungen philosophiegeschichtliche im engeren Sinn nennen, mögen auch in gewissen Einzelfällen die Grenzen sich notwendig verwischen. Denn es ist zum mindesten eine metaphysische Hypothese, daß das Ganze der eigentlichen Philosophiegeschichte zugleich und ipso facto die Entwicklung eines einzigen Problems sei. Daß die problemgeschichtliche mit der philosophiegeschichtlichen Darstellung gegenständlich mannigfach verflochten ist, ist selbstverständlich; vorauszusetzen, daß sie es auch methodisch sei, bedeutet eine Grenzverschiebung. – Da diese Arbeit von der Romantik handelt, ist eine weitere Abgrenzung unentbehrlich. Es wird in ihr nicht der oft mit unzureichenden Mitteln unternommene Versuch gemacht, das historische Wesen der Romantik darzustellen; mit anderen Worten: die geschichtsphilosophische Fragestellung bleibt aus dem Spiel. Trotzdem werden die folgenden Aufstellungen, besonders hinsichtlich der eigentümlichen Systematik von Friedrich Schlegels Denken und der frühromantischen Idee der Kunst, auch für eine Wesensbestimmung Materialien – nicht aber den Gesichtspunkt3 – beibringen.
Den Terminus »Kritik« gebrauchen die Romantiker in mannigfachen Bedeutungen. Im folgenden handelt es sich um die Kritik als Kunstkritik, nicht als erkenntnistheoretische Methode und philosophischen Standpunkt. Zu dieser letzten Bedeutung ist damals, wie noch gezeigt werden soll, das Wort im Anschluß an Kant erhoben worden, als esoterischer Terminus für den unvergleichlichen und vollendeten philosophischen Standpunkt; im allgemeinen Sprachgebrauch hat es sich aber allein im Sinn der gegründeten Beurteilung durchgesetzt. Vielleicht nicht ohne den Einfluß der Romantik, denn die Begründung der Kritik der Kunstwerke, nicht eines philosophischen Kritizismus, ist eine ihrer bleibenden Leistungen gewesen. Wie der Begriff der Kritik im genaueren nicht weiter erörtert wird, als sein Zusammenhang mit der Kunsttheorie es mit sich führt, so soll ihrerseits die romantische Kunsttheorie nur verfolgt werden, soweit sie für die Darstellung jenes Kritikbegriffs4 wichtig ist. Das bedeutet eine sehr wesentliche Einschränkung des Stoffkreises: die Theorien vom künstlerischen Bewußtsein und vom künstlerischen Schaffen, die kunstpsychologischen Fragestellungen fallen fort und es bleiben von der Kunsttheorie allein die Begriffe der Idee der Kunst und des Kunstwerks im Gesichtskreis der Betrachtung. Die objektive Begründung des Begriffs der Kunstkritik, die Friedrich Schlegel gibt, hat es nur mit der objektiven Struktur der Kunst – als Idee, und ihrer Gebilde – als Werke, zu tun. Übrigens denkt er, wenn er von Kunst spricht, vor allem an die Poesie, andere Künste haben ihn in der hier in Frage kommenden Zeit fast nur mit Rücksicht auf diese beschäftigt. Ihre Grundgesetzlichkeit galt ihm höchstwahrscheinlich für diejenige aller Kunst, sofern ihn das Problem überhaupt beschäftigt hat. In diesem Sinn wird im folgenden unter dem Ausdruck »Kunst« stets die Poesie, und zwar in ihrer zentralen Stellung unter den Künsten, unter dem Ausdruck »Kunstwerk« die einzelne Dichtung verstanden werden. Es würde ein falsches Bild geben, wollte diese Arbeit in ihrem Rahmen dieser Äquivokation abhelfen, denn sie bezeichnet einen grundsätzlichen Mangel in der romantischen Theorie der Poesie, bzw. der Kunst überhaupt. Beide Begriffe sind nur undeutlich voneinander unterschieden, geschweige denn aneinander orientiert, so daß keine Erkenntnis von der Eigenart und den Grenzen des poetischen Ausdrucks gegenüber demjenigen anderer Künste sich bilden konnte.
Die Kunsturteile der Romantiker als literargeschichtliche Fakten interessieren in diesem Zusammenhang nicht. Denn die romantische Theorie der Kunstkritik soll nicht der Praxis, etwa dem Verfahren A. W. Schlegels, entnommen, sondern nach den romantischen Theoretikern der Kunst systematisch dargestellt werden. A. W. Schlegels kritische Tätigkeit hat in ihrer Methode wenig Beziehungen zu dem Begriff der Kritik, den sein Bruder gefaßt hatte, und mit dem er eben in die Methode, nicht wie A. W. Schlegel in die Maßstäbe, ihren Schwerpunkt verlegte. Aber Friedrich Schlegel selbst hat seinem Ideal der Kritik nur in jener Rezension des »Wilhelm Meister« völlig entsprochen, die ebensosehr Theorie der Kritik wie Kritik des Goetheschen Romans ist.
- Problemgeschichtliche Untersuchungen können auch nichtphilosophische Disziplinen betreffen. Es müßte daher, um jede Mehrdeutigkeit zu vermeiden, der Ausdruck »philosophieproblemgeschichtlich« geprägt werden und für diesen soll der obige stets nur eine Abkürzung sein.↩
- Da die spätere Romantik keinen einheitlichen theoretisch umschriebenen Begriff der Kunstkritik kennt, darf in diesem Zusammenhang, wo es sich stets allein oder in erster Linie um die Frühromantik handelt, das bloße »romantisch« doch ohne die Gefahr einer Äquivokation gebraucht werden. Das Analoge gilt vom Gebrauch der Worte »Romantik« und »Romantiker« in dieser Arbeit.↩
- Dieser Gesichtspunkt dürfte in dem romantischen Messianismus zu suchen sein. »Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt der progressiven Bildung und der Anfang der modernen Geschichte. Was in gar keiner Beziehung aufs Reich Gottes steht, ist in ihr nur Nebensache.« Die Auflösung der in den Nachweisen benutzten Siglen und Abkürzungen findet sich im »Verzeichnis der zitierten Schriften«, u. S. 120 ff. D. Hg. »Mit der Religion, lieber Freund, ist es uns keineswegs Scherz, sondern der bitterste Ernst, daß es an der Zeit ist, eine zu stiften. Das ist der Zweck aller Zwecke und der Mittelpunkt. Ja, ich sehe die größte Geburt der neuen Zeit schon ans Licht treten; bescheiden wie das alte Christentum, dem man's nicht ansah, daß es bald das Römische Reich verschlingen würde, wie auch jene große Katastrophe in ihren weiteren Kreisen die französische Revolution verschlucken wird, deren solidester Wert vielleicht nur darin besteht, sie incitiert zu haben.« (Briefe 421, s. a. Schlegels »Ideen« 50, 56, 92, Novalis' Briefwechsel 82 ff., sowie viele andere Stellen bei beiden.) – »Abgelehnt wird der Gedanke eines sich in der Unendlichkeit realisierenden Ideals der vollkommenen Menschheit, es wird vielmehr das ›Reich Gottes‹ jetzt in der Zeit, auf Erden, gefordert ... Vollkommenheit in jedem Punkte des Daseins, realisiertes Ideal auf jeder Stufe des Lebens, aus dieser kategorischen Forderung erwächst Schlegels neue Religion.« (Pingoud 52 f.) 4: Gemäß dem oben Ausgeführten wird im folgenden, wo es der Zusammenhang nicht unmittelbar anders ergibt, auch unter dem bloßen Terminus »Kritik« die Kritik von Kunstwerken verstanden.↩