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[II. Die Schönheit als Schein]

[II.A. Die Jungfräulichkeit]

Damit tritt die Gestalt der Ottilie hervor. Scheint doch in dieser am sichtbarsten der Roman der mythischen Welt zu entwachsen. Denn wenn sie auch als Opfer dunkler Mächte fällt, so ist's doch eben ihre Unschuld, welche sie, der alten Forderung gemäß, die vom Geopferten Untadeligkeit verlangt, zu diesem furchtbaren Geschick bestimmt. Zwar stellt in dieser Mädchengestalt nicht die Keuschheit, soweit sie aus der Geistigkeit entspringen mag, sich dar – vielmehr begründet solche Unberührbarkeit bei der Luciane nahezu einen Tadel – jedoch ihr ganz natürliches Gebaren macht trotz vollkommener Passivität, die der Ottilie im Erotischen sowie in jeder anderen Sphäre eignet, diese bis zur Entrücktheit unnahbar. In seiner aufdringlichen Art sagt auch das Wernersche Sonett es an: Die Keuschheit dieses Kindes hütet kein Bewußtsein. Aber ist ihr Verdienst nicht nur umso größer? Wie tief sie im natürlichen Wesen des Mädchens gründet, stellt Goethe in den Bildern dar, in denen er sie mit dem Christusknaben und mit Charlottens totem Kind im Arme zeigt. Zu beiden kommt Ottilie ohne Gatten. Jedoch der Dichter hat noch mehr hiermit gesagt. Denn das »lebende« Bild, das die Anmut und die aller Sittenstrenge überlegene Reinheit der Gottesmutter darstellt, ist eben das künstliche. Dasjenige, das die Natur nur wenig später bietet, zeigt den toten Knaben. Und gerade dies enthüllt das wahre Wesen jener Keuschheit, deren sakrale Unfruchtbarkeit an sich selbst in nichts über der unreinen Verworrenheit der Sexualität steht, die die zerfallenen Gatten zueinander führt und deren Recht allein darin waltet, eine Vereinigung hintanzuhalten, in der sich Mann und Frau verlieren müßten. In Ottiliens Erscheinung aber beansprucht diese Keuschheit bei weitem mehr. Sie ruft den Schein einer Unschuld des natürlichen Lebens hervor. Die heidnische wenn auch nicht mythische Idee dieser Unschuld verdankt zumindest ihre äußerste und folgenreichste Formulierung im Ideal der Jungfräulichkeit dem Christentum. Wenn die Gründe einer mythischen Urschuld im bloßen Lebenstrieb der Sexualität zu suchen sind, so sieht der christliche Gedanke ihren Widerpart, wo jener am meisten von drastischem Ausdruck entfernt ist: im Leben der Jungfrau. Aber diese klare wenn auch nicht klar bewußte Intention schließt einen folgenschweren Irrtum ein. Zwar gibt es, wie eine natürliche Schuld, so eine natürliche Unschuld des Lebens. Diese letztere aber ist nicht an die Sexualität – und sei es verneinend – sondern einzig an ihren Gegenpol den – gleichermaßen natürlichen – Geist gebunden. Wie das sexuelle Leben des Menschen der Ausdruck einer natürlichen Schuld werden kann, so sein geistiges, bezogen auf die Einheit seiner gleichviel wie beschaffenen Individualität, der Ausdruck einer natürlichen Unschuld. Diese Einheit individualen geistigen Lebens ist der Charakter. Die Eindeutigkeit als sein konstitutives Wesensmoment unterscheidet ihn vom Dämonischen aller rein sexuellen Phänomene. Einem Menschen einen komplizierten Charakter zusprechen kann nur heißen, ihm, sei es wahrheitsgemäß, sei es zu Unrecht, den Charakter absprechen, indessen für jede Erscheinung des bloßen sexuellen Lebens das Siegel ihrer Erkenntnis die Einsicht in die Zweideutigkeit ihrer Natur bleibt. Dies erweist sich auch an der Jungfräulichkeit. Vor allem liegt die Zweideutigkeit ihrer Unberührtheit zu Tage. Denn eben das, was als das Zeichen innerer Reinheit gedacht wird, ist der Begierde das Willkommenste. Aber auch die Unschuld der Unwissenheit ist zweideutig. Denn auf ihrem Grunde geht die Neigung unversehens in die als sündhaft gedachte Begierde über. Und eben diese Zweideutigkeit kehrt höchst bezeichnender Weise in dem christlichen Symbol der Unschuld, in der Lilie, wieder. Die strengen Linien des Gewächses, das Weiß des Blütenkelches verbinden sich mit den betäubend süßen, kaum mehr vegetabilen Düften. Diese gefährliche Magie der Unschuld hat der Dichter der Ottilie mitgegeben und sie ist aufs engste dem Opfer verwandt, das ihr Tod zelebriert. Denn eben indem sie dergestalt unschuldig erscheint, verläßt sie nicht den Bannkreis seines Vollzugs. Nicht Reinheit sondern deren Schein verbreitet sich mit solcher Unschuld über ihre Gestalt. Es ist die Unberührbarkeit des Scheins, die sie dem Geliebten entrückt. Dergleichen scheinhafte Natur ist auch im Wesen der Charlotte angedeutet, das völlig rein und unanfechtbar nur erscheint, während in Wahrheit die Untreue gegen den Freund es entstellt. Selbst in ihrer Erscheinung als Mutter und Hausfrau, in der Passivität ihr wenig ansteht, mutet sie schemenhaft an. Und doch stellt sich nur um den Preis dieser Unbestimmtheit in ihr das Adlige dar. Ottilien, welche unter Schemen der einzige Schein ist, ist sie demnach im tiefsten nicht unähnlich. Wie es denn überhaupt unerläßlich für die Einsicht in dieses Werk ist, seinen Schlüssel nicht im Gegensatz der vier Partner sondern in dem zu suchen, worin sie gleichermaßen von den Liebenden der Novelle sich unterscheiden. Die Gestalten der Haupterzählung haben ihren Gegensatz weniger als Einzelne denn als Paare.

[II.B. Die Unschuld]
[II.B.1. im Sterben]

Hat an jener echten natürlichen Unschuld, welche gleich wenig mit der zweideutigen Unberührtheit zu schaffen hat wie mit der seligen Schuldlosigkeit, das Wesen der Ottilie seinen Anteil? Hat sie Charakter? Ist ihre Natur, nicht so dank eigener Offenherzigkeit als kraft des freien und erschlossenen Ausdrucks, klar vor Augen? Das Gegenteil von all dem bezeichnet sie. Sie ist verschlossen – mehr als das, all ihr Tun und Sagen vermag nicht, ihrer Verschlossenheit sie zu entäußern. Pflanzenhaftes Stummsein, wie es so groß aus dem Daphne-Motiv der flehend gehobenen Hände spricht, liegt über ihrem Dasein und verdunkelt es noch in den äußersten Nöten, die sonst bei jedem es ins helle Licht setzen. Ihr Entschluß zum Sterben bleibt nicht nur vor den Freunden bis zuletzt geheim, er scheint in seiner völligen Verborgenheit auch für sie selbst unfaßbar sich zu bilden. Und dies rührt an die Wurzel seiner Moralität. Denn wenn irgendwo, so zeigt sich im Entschluß die moralische Welt vom Sprachgeist erhellt. Kein sittlicher Entschluß kann ohne sprachliche Gestalt, und streng genommen, ohne darin Gegenstand der Mitteilung geworden zu sein, ins Leben treten. Daher wird, in dem vollkommenen Schweigen der Ottilie, die Moralität des Todeswillens, welcher sie beseelt, fragwürdig. Ihm liegt in Wahrheit kein Entschluß zugrunde sondern ein Trieb. Daher ist nicht, wie sie es zweideutig auszusprechen scheint, ihr Sterben heilig. Wenn sie aus ihrer »Bahn« geschritten sich erkennt, so kann dies Wort in Wahrheit einzig heißen, daß nur der Tod sie vor dem innern Untergange bewahren kann. Und so ist er wohl Sühne im Sinne des Schicksals, nicht jedoch die heilige Entsühnung, welche nie der freie, sondern nur der göttlich über ihn verhängte Tod dem Menschen werden kann. Ottiliens ist, wie ihre Unberührtheit, nur der letzte Ausweg der Seele, welche vor dem Verfallensein entflieht. In ihrem Todestriebe spricht die Sehnsucht nach Ruhe. Wie gänzlich er Natürlichem in ihr entspringt, hat Goethe nicht zu bezeichnen verfehlt. Wenn Ottilie stirbt indem sie sich die Nahrung entzieht, so hat er im Roman es ausgesprochen, wie sehr ihr auch in glücklicheren Zeiten oft Speise widerstanden hat. Nicht so sehr darum ist das Dasein der Ottilie, das Gundolf heilig nennt, ein ungeheiIigtes, weil sie sich gegen eine Ehe, die zerfällt, vergangen hätte, als weil sie, im Scheinen und im Werden schicksalhafter Gewalt bis zum Tod unterworfen, entscheidungslos ihr Leben dahinlebt. Dieses ihr schuldig-schuldloses Verweilen im Raume des Schicksals leiht ihr vor flüchtigen Blicken das Tragische. So kann Gundolf von dem »Pathos dieses Werkes« sprechen »nicht minder tragisch erhaben und erschütternd als das, aus dem der Sophokleische Ödipus stammt«. Vor ihm schon ähnlich Francois-Poncet in seinem schalen aufgeschwemmten Buche über die »affinites electives«. Und doch ist dies das falscheste Urteil. Denn im tragischen Worte des Helden ist der Grat der Entscheidung erstiegen, unter dem Schuld und Unschuld des Mythos sich als Abgrund verschlingen. Jenseits von Verschuldung und Unschuld ist das Diesseits von Gut und Böse gegründet, das dem Helden allein, doch niemals dem zagenden Mädchen erreichbar ist. Darum ist es leeres Reden, ihre »tragische Läuterung« zu rühmen. Untragischer kann nichts ersonnen werden als dieses trauervolle Ende.

[II.B.2. im Leben]

Aber nicht allein darin gibt sich der sprachlose Trieb zu erkennen; haltlos erscheint auch ihr Leben, wenn es der Lichtkreis moralischer Ordnungen trifft. Doch nur gänzliche Anteillosigkeit an dieser Dichtung scheint dafür dem Kritiker Augen gelassen zu haben. So blieb es dem hausbacknen Verstand Julian Schmidts vorbehalten, die Frage zu stellen, die doch dem Unbefangenen am ersten dem Geschehen gegenüber sich einstellen müßte. »Es wäre nichts dagegen zu sagen gewesen, wenn die Leidenschaft stärker gewesen wäre als das Gewissen, aber wie begreift sich dies Verstummen des Gewissens?« »Ottilie begeht eine Schuld, sie empfindet sie später sehr tief, tiefer als nötig; aber wie geht es zu, daß sie es nicht vorher empfindet? … Wie ist es möglich, daß eine so wohl geschaffene und so wohl erzogene Seele wie Ottilie sein soll, nicht empfindet, daß sie durch die Art ihres Benehmens gegen Eduard ein Unrecht an Charlotte, ihrer Wohltäterin begeht?« Keine Einsicht in die innersten Zusammenhänge des Romans kann das plane Recht dieser Frage entkräften. Das Verkennen ihrer zwingenden Natur läßt das Wesen des Romans im Dunkeln. Denn dies Schweigen der moralischen Stimme ist nicht, wie die gedämpfte Sprache der Affekte, als ein Zug der Individualität zu fassen. Es ist keine Bestimmung innerhalb der Grenzen menschlichen Wesens. Mit diesem Schweigen hat verzehrend im Herzen des edelsten Wesens sich der Schein angesiedelt. Und seltsam gemahnt das an die Schweigsamkeit Minna Herzliebs, welche geisteskrank im Alter gestorben ist. Alle sprachlose Klarheit des Handelns ist scheinhaft und in Wahrheit ist das Innere so sich Bewahrender ihnen selbst nicht weniger als andern verdunkelt. In ihrem Tagebuche allein scheint zuletzt sich noch Ottiliens menschliches Leben zu regen. Ist doch all ihr sprachbegabtes Dasein mehr und mehr in diesen stummen Niederschriften zu suchen. Doch auch sie bauen nur das Denkmal für eine Erstorbene. Ihr Offenbaren von Geheimnissen, welche der Tod allein entsiegeln dürfte, gewöhnt an den Gedanken ihres Hinscheidens; und sie deuten auch, indem sie jene Schweigsamkeit der Lebenden bekunden, auf ihr völliges Verstummen voraus. Sogar in ihre geistige, entrückte Stimmung dringt das Scheinhafte, das in dem Leben der Schreiberin waltet. Denn wenn es die Gefahr des Tagebuches überhaupt ist, allzufrühe die Keime der Erinnerung in der Seele aufzudecken und das Reifen ihrer Früchte zu vereiteln, so muß sie notwendig verhängnisvoll dort werden, wo in ihm allein das geistige Leben sich ausspricht. Und doch stammt zuletzt alle Kraft verinnerlichten Daseins aus Erinnerung. Erst sie verbürgt der Liebe ihre Seele. Die atmet in dem Goetheschen Erinnern: »Ach, Du warst in abgelebten Zeiten | Meine Schwester oder meine Frau«. Und wie in solchem Bunde selbst die Schönheit als Erinnerung sich überdauert, so ist sie auch im Blühen wesenlos ohne diese. Das bezeugen die Worte des Platonischen Phaedrus: »Wer nun erst frisch von der Weihe kommt und einer von denen ist, die dort im Jenseits viel erschauten, der, wenn er ein göttliches Antlitz, welches die Schönheit wohl nachbildet oder eine Körpergestalt erblickt, wird zunächst, der damals erlebten Bedrängnis gedenkend, von Bestürzung befallen, dann aber recht zu ihr hintretend, erkennt er ihr Wesen und verehrt sie wie einen Gott, denn die Erinnerung zur Idee der Schönheit erhoben schaut diese wiederum neben der Besonnenheit auf heiligem Boden stehend.« Ottiliens Dasein weckt solche Erinnerung nicht, in ihm bleibt wirklich Schönheit das Erste und Wesentliche. All ihr günstiger »Eindruck geht nur aus der Erscheinung hervor; trotz der zahlreichen Tagebuchblätter bleibt ihr inneres Wesen verschlossen, verschlossener als irgend eine weibliche Figur Heinrich von Kleists«. In dieser Einsicht begegnet sich Julian Schmidt mit einer alten Kritik, die mit sonderbarer Bestimmtheit sagt: »Diese Ottilie ist nicht ein echtes Kind von des Dichters Geiste, sondern sündhafter Weise erzeugt, in doppelter Erinnerung an Mignon und an ein altes Bild von Masaccio oder Giotto«. In der Tat sind in Ottiliens Gestalt die Grenzen der Epik gegen die Malerei überschritten. Denn die Erscheinung des Schönen als des wesentlichen Gehaltes in einem Lebendigen liegt jenseits des epischen Stoffkreises. Und doch steht sie im Zentrum des Romans. Denn es ist nicht zu viel gesagt, wenn man die Überzeugung von Ottiliens Schönheit als Grundbedingung für den Anteil am Roman bezeichnet. Diese Schönheit darf, solange seine Welt Bestand hat, nicht verschwinden: der Sarg, in dem das Mädchen ruht, wird nicht geschlossen. Sehr weit hat Goethe sich in diesem Werk von dem berühmten Homerischen Vorbild für die epische Darstellung der Schönheit entfernt. Denn nicht allein zeigt selbst die Helena in ihrem Spott gegen Paris sich entschiedner, als je in ihren Worten die Ottilie, sondern vor allem in der Darstellung von deren Schönheit ist Goethe nicht der berühmten Regel gefolgt, die aus den bewundernden Reden der auf der Mauer versammelten Greise entnommen wurde. Jene auszeichnenden Epitheta, welche, selbst gegen die Gesetze der Romanform, der Ottilie verliehen werden, dienen nur, sie aus der epischen Ebene herauszurücken, in welcher der Dichter waltet und eine fremde Lebendigkeit ihr mitzuteilen, für die er nicht verantwortlich ist. Je ferner sie dergestalt der Homerischen Helena steht desto näher der Goetheschen. In zweideutiger Unschuld und scheinhafter Schönheit wie sie, steht sie wie sie in Erwartung des sühnenden Todes. Und Beschwörung ist ja auch bei ihrer Erscheinung im Spiel.

[II.C. Die Schönheit]
[II.C.1. Das Helena-Motiv]

Der episodischen Gestalt der Griechin gegenüber wahrte Goethe die vollkommene Meisterschaft, da er in der Form dramatischer Darstellung selbst die Beschwörung durchleuchtete – wie wohl in diesem Sinne es am allerwenigsten ein Zufall scheint, daß jene Szene, in der Faust von Persephone die Helena erbitten sollte, nie geschrieben wurde. In den Wahlverwandtschaften aber ragen die dämonischen Prinzipien der Beschwörung in das dichterische Bilden selbst mitten hinein. Beschworen nämlich wird stets nur ein Schein, in Ottilien die lebendige Schönheit, welche stark, geheimnisvoll und ungeläutert als »Stoff« in gewaltigstem Sinne sich aufdrängte. So bestätigt sich das Hadeshafte, das der Dichter dem Geschehn verleiht: vor dem tiefen Grunde seiner Dichtergabe steht er wie Odysseus mit dem nackten Schwerte vor der Grube voll Blut und wie dieser wehrt er den durstigen Schatten, um nur jene zu dulden, deren karge Rede er sucht. Sie ist ein Zeichen ihres geisterhaften Ursprungs. Er ist es, der das eigentümlich Durchscheinende, mitunter Preziöse in Anlage und Ausführung hervorbringt. Jene Formelhaftigkeit, welche vor allem im Aufbau des zweiten Teiles sich findet, der zuletzt nach Vollendung der Grundkonzeption bedeutend erweitert wurde, tritt doch angedeutet auch im Stil, in seinen zahllosen Parallelismen, Komparativen und Einschränkungen hervor, wie sie der späten Goetheschen Schreibart nah liegen. In diesem Sinne äußert Görres gegen Arnim, daß in den Wahlverwandtschaften manches ihm »wie gebohnt und nicht wie geschnitzt« vorkäme. Ein Wort, das zumal auf die Maximen der Lebensweisheit seine Anwendung finden möchte. Problematischer noch sind die Züge, welche überhaupt nicht der rein rezeptiven Intention sich erschließen können: jene Korrespondenzen, welche einzig einer vom Ästhetischen ganz abgekehrten, philologisch forschenden Betrachtung sich erschließen. Ganz gewiß greift in solchen die Darstellung ins Bereich beschwörender Formeln hinüber. Daher fehlt ihr so oft die letzte Augenblicklichkeit und Endgültigkeit der künstlerischen Belebung: die Form. In dem Roman baut diese nicht sowohl Gestalten, welche oft genug aus eigner Machtvollkommenheit formlos als mythische sich einsetzen, auf, als daß sie zaghaft, gleichsam arabeskenhaft um jene spielend, vollendet und mit höchstem Recht sie auflöst. Als Ausdruck inhärenter Problematik mag man die Wirkung des Romans ansehn. Es unterscheidet ihn von andern, die das beste Teil, wenn auch nicht stets die höchste Stufe ihrer Wirkung im unbefangenen Gefühl des Lesers finden, daß er auf dieses höchst verwirrend wirken muß. Ein trüber Einfluß, der sich in verwandten Gemütern bis zu schwärmerischem Anteil und in fremderen zu widerstrebender Verstörtheit steigern mag, war ihm von jeher eigen und nur die unbestechliche Vernunft, in deren Schutz das Herz der ungeheueren, beschwornen Schönheit dieses Werks sich überlassen darf, ist ihm gewachsen.

[II.C.2. Die Beschwörung]

Beschwörung will das negative Gegenbild der Schöpfung sein. Auch sie behauptet aus dem Nichts die Welt hervorzubringen. Mit beiden hat das Kunstwerk nichts gemein. Nicht aus dem Nichts tritt es hervor sondern aus dem Chaos. Ihm jedoch wird es nicht, wie nach dem Idealismus der Emanationslehre die geschaffene Welt es tut, sich entringen. Künstlerisches Schaffen »macht« nichts aus dem Chaos, durchdringt es nicht; genau so wenig wird, wie Beschwörung dies in Wahrheit tut, aus Elementen jenes Chaos Schein sich mischen lassen. Dies bewirkt die Formel. Form jedoch verzaubert es auf einen Augenblick zur Welt. Daher darf kein Kunstwerk gänzlich ungebannt lebendig scheinen ohne bloßer Schein zu werden und aufzuhören Kunstwerk zu sein. Das in ihm wogende Leben muß erstarrt und wie in einem Augenblick gebannt erscheinen. Dies in ihm Wesende ist bloße Schönheit, bloße Harmonie, die das Chaos – und in Wahrheit eben nur dieses, nicht die Welt – durchflutet, im Durchfluten aber zu beleben nur scheint. Was diesem Schein Einhalt gebietet, die Bewegung bannt und der Harmonie ins Wort fällt ist das Ausdruckslose. Jenes Leben gründet das Geheimnis, dies Erstarren den Gehalt im Werke. Wie die Unterbrechung durch das gebietende Wort es vermag aus der Ausflucht eines Weibes die Wahrheit gerad da herauszuholen, wo sie unterbricht, so zwingt das Ausdruckslose die zitternde Harmonie einzuhalten und verewigt durch seinen Einspruch ihr Beben. In dieser Verewigung muß sich das Schöne verantworten, aber nun scheint es in eben dieser Verantwortung unterbrochen und so hat es denn die Ewigkeit seines Gehalts eben von Gnaden jenes Einspruchs. Das Ausdruckslose ist die kritische Gewalt, welche Schein vom Wesen in der Kunst zwar zu trennen nicht vermag, aber ihnen verwehrt, sich zu mischen. Diese Gewalt hat es als moralisches Wort. Im Ausdruckslosen erscheint die erhabne Gewalt des Wahren, wie es nach Gesetzen der moralischen Welt die Sprache der wirklichen bestimmt. Dieses nämlich zerschlägt was in allem schönen Schein als die Erbschaft des Chaos noch überdauert: die falsche, irrende Totalität die absolute. Dieses erst vollendet das Werk, welches es zum Stückwerk zerschlägt, zum Fragmente der wahren Welt, zum Torso eines Symbols. Eine Kategorie der Sprache und Kunst, nicht des Werkes oder der Gattungen, ist das Ausdruckslose strenger nicht definierbar, als durch eine Stelle aus Hölderlins Anmerkungen zum Ödipus, welche in ihrer über die Theorie der Tragödie hinaus für jene der Kunst schlechthin grundlegenden Bedeutung noch nicht erkannt zu sein scheint. Sie lautet: »Der tragische Transport ist nemlich eigentlich leer, und der ungebundenste. – Dadurch wird in der rhythmischen Aufeinanderfolge der Vorstellungen, worin der Transport sich darstellt, das, was man im Sylbenmaasse Cäsur heißt, das reine Wort, die gegenrhythmische Unterbrechung notwendig, um nemlich dem reißenden Wechsel der Vorstellungen, auf seinem Summum, so zu begegnen, daß alsdann nicht mehr der Wechsel der Vorstellung, sondern die Vorstellung selber erscheint«. Die »abendländische Junonische Nüchternheit«, die Hölderlin einige Jahre bevor er dies schrieb als fast unerreichbares Ziel aller deutschen Kunstübung vorstellte, ist nur eine andere Bezeichnung jener Cäsur, in der mit der Harmonie zugleich jeder Ausdruck sich legt, um einer innerhalb aller Kunstmittel ausdruckslosen Gewalt Raum zu geben. Solche Gewalt ist kaum je deutlicher geworden als in der griechischen Tragödie einer-, der Hölderlinschen Hymnik andrerseits. In der Tragödie als Verstummen des Helden, in der Hymne als Einspruch im Rhythmus vernehmbar. Ja, man könnte jenen Rhythmus nicht genauer bezeichnen als mit der Aussage, daß etwas jenseits des Dichters der Dichtung ins Wort fällt. Hier liegt der Grund »warum eine Hymne selten (und mit ganzem Recht vielleicht niemals) ›schön‹ genannt werden wird«. Tritt in jener Lyrik das Ausdruckslose, so in Goethescher die Schönheit bis zur Grenze dessen hervor, was im Kunstwerk sich fassen läßt. Was jenseits dieser Grenze sich bewegt ist Ausgeburt des Wahnsinns in der einen, ist beschworene Erscheinung in der andern Richtung. Und in dieser darf die deutsche Dichtung keinen Schritt über Goethe hinaus wagen, ohne gnadenlos einer Scheinwelt anheimzufallen, deren lockendste Bilder Rudolf Borchardt hervorrief. Fehlen doch selbst im Werk seines Meisters nicht Zeugnisse, daß es nicht immer der seinem Genius nächsten Versuchung entging, den Schein zu beschwören.

[II.C.3. Das Ausdruckslose]

So gedenkt er der Arbeit am Roman denn gelegentlich mit den Worten: »Man findet sich schon glücklich genug, wenn man sich in dieser bewegten Zeit in die Tiefe der stillen Leidenschaften flüchten kann«. Wenn hier der Gegensatz bewegter Fläche und der stillen Tiefe nur flüchtig an ein Wasser gemahnen mag, so findet ausgesprochner solch Vergleich bei Zelter sich. In einem Briefe vom Romane handelnd schreibt er Goethe: »Dazu eignet sich endlich noch eine Schreibart, welche wie das klare Element beschaffen ist, dessen flinke Bewohner durcheinanderschwimmen, blinkelnd oder dunkelnd auf und ab fahren, ohne sich zu verirren oder zu verlieren«. Was so in Zelters nie genug geschätzter Weise ausgesprochen, verdeutlicht wie der formelhaft gebannte Stil des Dichters verwandt dem bannenden Reflex im Wasser ist. Und über die Stilistik hinaus weist es auf die Bedeutung jenes »Lustsees« und endlich auf den Sinngehalt des ganzen Werks. Wie nämlich zweideutig die scheinhafte Seele sich darin zeigt, mit unschuldiger Klarheit verlockend und in tiefste Dunkelheit hinunterführend, so ist auch das Wasser dieser sonderbaren Magie teilhaftig. Denn einerseits ist es das Schwarze, Dunkle, Unergründliche, andrerseits aber das Spiegelnde, Klare und Klärende. Die Macht dieser Zweideutigkeit, die schon ein Thema des »Fischers« gewesen war, ist im Wesen der Leidenschaft in den Wahlverwandtschaften herrschend geworden. Wenn sie so in ihr Zentrum hineinführt, weist sie andrerseits wieder zurück auf den mythischen Ursprung ihres Bildes vom schönen Leben und erlaubt mit vollendeter Klarheit es zu erkennen. »In dem Elemente, dem die Göttin« – Aphrodite – »entstieg, scheint die Schönheit recht eigentlich heimisch zu sein. An strömenden Flüssen und Quellen wird sie gepriesen; Schönfließ heißt eine der Okeaniden; unter den Nereiden tritt die schöne Gestalt der Galatea hervor und zahlreich entstammen den Göttern des Meeres schönfüßige Töchter. Das bewegliche Element, wie es zunächst den Fuß der Schreitenden umspült, benetzt Schönheit spendend die Füße der Göttinnen, und die silberfüßige Thetis bleibt für alle Zeiten das Vorbild, nach welchem die dichterische Phantasie der Griechen diesen Körperteil ihrer Gebilde zeichnet … Keinem Manne oder mannhaft gedachten Gotte legt Hesiod Schönheit bei; auch bezeichnet sie hier noch keinerlei inneren Wert. Sie erscheint ganz vorwiegend an die äußere Gestalt des Weibes, an Aphrodite und die okeanischen Lebensformen gebunden.« Wenn so – nach Walters »Ästhetik im Altertum« – der Ursprung eines bloßen schönen Lebens gemäß den Weisungen des Mythos in der Welt harmonisch-chaoshaften Wogens liegt, so hat ein tiefes Gefühl die Herkunft der Ottilie dort gesucht. Wo Hengstenberg gehässig eines »nymphenartigen Essens« der Ottilie, Werner tastend seiner »gräßlich zarten Meernixe« gedenkt, da hat Bettina unvergleichlich sicher den innersten Zusammenhang berührt: »Du bist in sie verliebt, Goethe, es hat mir schon lange geahnt; jene Venus ist dem brausenden Meer Deiner Leidenschaft entstiegen, und nachdem sie eine Saat von Tränenperlen ausgesäet, da verschwindet sie wieder in überirdischem Glanz«.

[II.C.4. Der schöne Schein]

Mit der Scheinhaftigkeit, die Ottiliens Schönheit bestimmt, bedroht Wesenlosigkeit noch die Rettung, die die Freunde aus ihren Kämpfen gewinnen. Denn ist die Schönheit scheinhaft, so ist es auch die Versöhnung, die sie mythisch in Leben und Sterben verheißt. Ihre Opferung wäre umsonst wie ihr Blühen, ihr Versöhnen ein Schein der Versöhnung. Wahre Versöhnung gibt es in der Tat nur mit Gott. Während in ihr der Einzelne mit ihm sich versöhnt und nur dadurch mit den Menschen sich aussöhnt, ist es der scheinhaften Versöhnung eigen, jene untereinander aussöhnen und nur dadurch mit Gott versöhnen zu wollen. Von neuem trifft dies Verhältnis scheinhafter Versöhnung zur wahren auf den Gegensatz von Roman und Novelle. Denn darauf will ja zuletzt der wunderliche Streit hinaus, der die Liebenden in ihrer Jugend befängt, daß ihre Liebe, weil sie um wahrer Versöhnung willen das Leben wagt, sie erlangt und mit ihr den Frieden, in dem ihr Liebesbund dauert. Weil nämlich wahre Versöhnung mit Gott keinem gelingt, der nicht in ihr – soviel an ihm ist – alles vernichtet, um erst vor Gottes versöhntem Antlitz es wieder erstanden zu finden, darum bezeichnet ein todesmutiger Sprung jenen Augenblick, da sie – ein jeder ganz für sich allein vor Gott – um der Versöhnung willen sich einsetzen. Und in solcher Versöhnungsbereitschaft erst ausgesöhnt gewinnen sie sich. Denn die Versöhnung, die ganz überweltlich und kaum fürs Kunstwerk gegenständlich ist, hat in der Aussöhnung der Mitmenschen ihre weltliche Spiegelung. Wie sehr bleibt gegen sie die adlige Nachsicht, jene Duldung und Zartheit zurück, die doch zuletzt den Abstand nur wachsen macht, in dem die Romangestalten sich wissen. Denn weil sie den offenen Streit, dessen Übermaß selbst in der Gewalttat eines Mädchens Goethe darzustellen sich nicht scheute, stets vermeiden, muß die Aussöhnung ihnen fern bleiben. So viel Leiden, so wenig Kampf. Daher das Schweigen aller Affekte.